Vertriebsstrategie

Warum sind Filialen auf einmal wieder etwas wert?

Nach Johann Nestroy zeichnet sich der Fortschritt dadurch aus, dass er zunächst viel größer aussieht, als er in Wirklichkeit ist. Mit dem Angebot von Finanzdienstleistungen über elektronische Vertriebskanäle wurden Transaktionskostenzahlen ermittelt, denen Filialen unter Kostengesichtspunkten völlig chancenlos gegenüberstehen. Übliche Relationen lagen in Dimensionen der fünf- bis zehnfachen Stückkosten zu Lasten des klassischen Filialbanking. Wer könnte, so formulierte ich metaphorisch bei zahlreichen Bankkonferenzen, so verrückt sein, Benzin für 1,50 Euro zu kaufen, wenn Diskontangebote um 15 oder 30 Cent bereitstehen?

Elementarer Bestandteil des Vertriebs

Dieser bewusst provozierende Vergleich hinkt freilich. Er zielt schon allein deshalb an der Realität vorbei, weil menschenbediente Geschäftsstellen schwerpunktmäßig nicht zur Abwicklung von Routinetransaktionen dienen, sondern als zentraler Ort des Verkaufes gelten.

In einer Spartenbetrachtung unterstützen Geschäftsstellen vor allem das Segment der Privatkunden. Sie stellen einen elementaren Bestandteil des Vertriebes im Retailgeschäft dar. Gerade diese Geschäftssparte verspricht ein enormes Wachstumspotenzial.

Bedingt durch den sich ändernden Altersaufbau (von der Pyramide über den Kegel zum Pilz) geht an der Substitution staatlicher Sozialleistungen durch die private Vorsorge kein Weg vorbei. In allen drei staatlichen Vorsorgesystemen (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) tun sich perspektivisch betrachtet zusehends enorme Defizite auf. Die Nachfrage nach Produkten der privaten Vorsorge wächst somit zum überragenden Wachstumsmarkt heran.

Vorsorgeprodukte erfordern aber einen erheblichen Beratungsbedarf. Der durchschnittliche deutsche Haushalt diskutiert Dutzende Stunden den kommenden Winterurlaub, den nächsten Autokauf oder die Anschaffung einer neuen Küche. Um wie viel gewichtiger und existenzieller erweisen sich aber im Vergleich dazu die finanzielle Absicherung im Alter oder die Gesundheitsvorsorge.

Schon allein die weitreichende Zukunftswirkung dieser Entscheidungen zur privaten Vorsorge gebietet eine umfassende ganzheitliche Beratung, die angefangen vom vielfältigen Produktspektrum über Anlagekriterien wie Ertrag, Risiko und Liquidität bis zu Inflationswirkungen und der komplexen steuerlichen Komponente reicht.

Ende des Filialbankings nicht abzusehen

Sicherlich sind Vorabinformationen auf elektronischen Kanälen möglich und ganz zweifellos auch hilfreich, definitive Entscheidungen werden aufgrund der Gewichtigkeit und Nachhaltigkeit des Themas aber bevorzugt Face-to-Face getroffen.

Aktuell verfügen etwa zwei Drittel der erwachsenen deutschen Bevölkerung über einen Zugang zum Internet. Die Akzeptanz lässt auch zukünftig einen deutlich ansteigenden Trend erwarten. Doch nur eine recht oberflächliche Sicht käme daraus zum Ergebnis, dass das Ende des Filialbanking schon absehbar ist. Zwar wird sich die Dichte des Geschäftsstellennetzes weiter reduzieren. Neben dem insbesondere in Deutschland stark ausgeprägten Kostendruck zeichnet dafür vor allem die schon angedeutete Umorientierung von

der bloßen Abwicklungsstelle zum zentralen Ort des Verkaufes verantwortlich. Eine qualifizierte ganzheitliche Beratung kann aber in Kleinst- und Kleinzweigstellen keinesfalls in der erforderlichen Qualität vorgehalten werden.

Emotionale Komponente wird wichtiger

Ein grundsätzliches Argument stärkt zusätzlich die These der Aufrechterhaltung der Präsenz in der Fläche. Psychologen behaupten, Menschen werden zu 70 bis 80 Prozent von ihren Emotionen gesteuert. Die Erreichung der emotionalen Komponente gestaltet sich aber - ganz vorsichtig ausgedrückt - in der Mensch-zu-Mensch-Kommunikation entschieden wirkungsvoller als auf elektronischem Weg.

Im heute dominierenden Umfeld suchen Kunden bewusst Gegengewichte zur menschlichen Vereinsamung, zur Anonymität der Großstädte (mit ihren hohen Anteilen an Single-Haushalten) sowie zur abstrakten Computerwelt. Nach N. Bolz entwickelt sich die persönliche Kommunikation zum Luxusgut der Zukunft. Viele Menschen sind bereit, bei Inanspruchnahme dieses Gutes sogar zusätzliche Kosten in Kauf zu nehmen.

Keine Entweder/Oder-Lösung

Um zu einem ausgewogenen Urteil vorzudringen: Die Polarisierung persönlicher versus elektronischer Vertrieb mündet nicht in eine Entweder/Oder-Lösung, sondern in einen Mix. Wie die Gewichtsverteilung in diesem Multichannel-System letztlich aussehen wird, hängt entscheidend von der geschäftspolitischen Positionierung einer Bank ab.

Ein Finanzdienstleister, der vordringlich sehr junge Zielgruppen oder gar Technik-Freaks erreichen möchte, wird elektronischen Kanälen einen hohen Stellenwert einräumen. Zwar steigt der Anteil der "jungen Alten", die als frischgebackene Pensionäre in das Medium Internet neu einsteigen, erkennbar an. Insgesamt gesehen aber liegt die Nutzungsquote der über 60jährigen Kunden nur bei etwa einem Drittel, gegenüber fast 90 Prozent in der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren (Forschungsgruppe Wahlen).

Für Technik- Freaks stellt sich Online Banking als so selbstverständlich dar wie Teleshopping oder Teleworking. Sie würden sich zu Teilen selbst bei unverhältnismäßig hohen Kosten für diesen Vertriebskanal entscheiden.

Bessere Cross-Selling-Möglichkeiten im menschenbedienten Vertrieb

Im Spektrum aller Privatkunden aber bildet dieses Beispiel die Nutzung von Vertriebskanälen nur höchst unzureichend ab. Nach U. Bacher werden auch um 2010 noch 75 Prozent dieses Zielsegmentes Geschäftsstellen nutzen, und zwar zu einem geringeren Teil als reine Filialkunden, mit deutlich höheren Anteilen als Multikanalnutzer.

Nachhaltige Unterstützung erfährt diese Prognose durch die hervorragenden Cross-Selling-Möglichkeiten des menschenbedienten Vertriebes. Dies umso mehr, als empirische Studien immer wieder aufzeigen, dass deutsche Kreditinstitute im internationalen Vergleich noch einen erheblichen Nachholbedarf im Zusatzverkauf an bestehende Kunden aufweisen.

Jüngste Ereignisse wie der Verkauf der Berliner Bank an die Deutsche Bank um ein Mehrfaches des Buchwertes sowie das Bieterverfahren für die Filialen der Norisbank werfen zwangsläufig die Frage auf: rechnen sich diese Investitionen?

Mittelpunkt aller Vertriebswege

Im Gegensatz zum Investment-Banking zeichnet sich das Privatkundengeschäft durch eine erhebliche Kontinuität aus. Dies gilt sowohl für die Laufzeit und Stabilität von Kundenbeziehungen als auch für die gesamte Leistungsinanspruchnahme. Die das Investmentgeschäft prägenden Volatilitäten sind dem Privatkundengeschäft weitgehend fremd. Nicht ohne Grund ist daher von einer Renaissance des Retail-Banking die Rede.

Menschenbediente Geschäftsstellen mögen ihre monopolartige Position im Vertrieb von Retail-Produkten eingebüßt haben.

Dieses Monopol musste einer Multikanal-Philosophie weichen. Dennoch repräsentieren Filialen die Sonne, um die alle anderen Kanäle wie Satelliten kreisen. Der Mehrwert des Filial-Banking erklärt sich aus der Stärkung der persönlichen Kundenbindungen sowie aus einem natürlichen Ausgleich zur abstrakten Computerwelt.

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