Wandel im Handel

Ansiedlung von Einzelhandelsstandorten im Kontext europäischer Niederlassungsfreiheit

Christian Wiggers

Über die rechtlichen Regelungen für die Ansiedlung von Einzelhandelsstandorten gibt es einen spürbaren Dissens zwischen Bundesregierung und EU-Kommission. Aus deutscher Sicht widerspricht die planungsrechtliche Steuerung keinen europarechtlichen Vorgaben. Die EU-Kommission ist dezidiert anderer Meinung und fordert Deutschland zur Beseitigung seiner Beschränkungen auf, die den Marktzutritt im Einzelhandel in unangemessener Weise behindern. Dies könnte dazu führen, dass Grundstücke, auf denen bisher eine Einzelhandelsansiedlung planungsrechtlich ausgeschlossen ist, künftig anders zu bewerten sind. Red.

Die planungsrechtlichen Steuerungsinstrumente für die Ansiedlung von Einzelhandelsstandorten steht gegenwärtig auf dem Prüfstand der Europäischen Union. Insbesondere die EU-Kommission sieht hier die Gefahr einer Verletzung der europäischen Niederlassungsfreiheit, einer der EU-rechtlichen Grundfreiheiten. Tatsächlich unterfällt die Ansiedlung von Einzelhandelsbetrieben dem weitgefassten Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit. Ein Verstoß ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bereits dann anzunehmen, wenn die Niederlassung eines Unternehmens in einem EU-Mitgliedsstaat durch die dortigen staatlichen Regelungen weniger attraktiv wird.

Allerdings führt noch nicht jeder Verstoß auch zu einer rechtswidrigen Verletzung der Grundfreiheit. Es kommt vielmehr darauf an, ob sachliche Gründe den Verstoß rechtfertigen können und ob die Beschränkungen erforderlich und angemessen sind. Insoweit hat der EuGH bisher durchgängig entschieden, dass als Rechtfertigung für einen Verstoß nur zwingende Gründe des Allgemeininteresses in Betracht kommen, zu denen etwa der Verbraucher- und der Umweltschutz gehören. Rein wirtschaftliche Erwägungen können dagegen einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit nicht rechtfertigen.

Bereits zwei Verfahren

Genau hier liegt einer der Streitpunkte. Im Jahr 2011 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) einschlägige gesetzliche Vorschriften des spanischen Planungsrechts aufgehoben, weil er diese von rein wirtschaftlichen Erwägungen getragen sah. Die EU-Kommission hat bereits im Jahr 2009 zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland angestrengt, in denen raumordnerische Vorgaben zur Steuerung großflächigen Einzelhandels unter anderem durch Sortiments- und Verkaufsflächenbegrenzungen überprüft werden. Zweck der angegriffenen raumordnungsrechtlichen Regelungen ist es vor allem, einem als schädlich angesehenen Kaufkraftabschluss aus einzelnen Gemeinden vorzubeugen.

Darin sieht die Kommission aber eher wirtschaftliche Erwägungen, die als Rechtfertigung für eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit eben nicht taugen. Außerdem kritisiert die Kommission die mangelnde Transparenz der betreffenden Raumordnungspläne, die eine objektive Beurteilung der Ansiedlungsmöglichkeiten für großflächige Einzelhandelsbetriebe erheblich erschwert. Da es vielfach ausländische Unternehmen sind, die ihre Sortimente typischerweise in großflächigen Verkaufsstätten anbieten, hegt die Kommission zu alledem auch noch den Verdacht einer versteckten Diskriminierung. Aktuell ist daher durchaus spannend, wie sich die europäische Rechtsentwicklung auf die planungsrechtliche Praxis in Deutschland auswirken wird.

Nach bundesdeutschem Planungsrecht ist die Ansiedlung von großflächigen Einzelhandelsbetrieben oder von Betrieben in unbeplanten Innenbereichen einer Gemeinde unter anderem davon abhängig, dass keine schädlichen Auswirkungen auf bereits vorhandene sogenannte "zentrale Versorgungsbereiche" der Gemeinden ausgehen. Intention der betreffenden Vorschriften ist, eine geordnete und gesicherte Verbrauchernahversorgung zu schützen.

Dem wird hohe städtebauliche Bedeutung beigemessen, etwa auch angesichts der demografischen Entwicklung der Bevölkerung. Betont wird dabei immer wieder, dass das Planungsrecht wettbewerbsneutral sei. Der Schutz zentraler Versorgungsbereiche diene nicht etwa dem Schutz vorhandener Einzelhandelsbetriebe um ihrer selbst willen. Auch die Förderung bestimmter Branchen oder allgemein des Mittelstandes sei nicht Ziel und Zweck der Vorschriften, wie in der Rechtsprechung immer wieder hervorgehoben wird.

Schutz zentraler Versorgungsbereiche

Sieht man aber näher hin, sind genau dies die tatsächlichen Auswirkungen des städtebaulichen Schutzes zentraler Versorgungsbereiche. Faktisch folgt hieraus ein Schutz der dort ansässigen Betriebe. Dies wird auch daran deutlich, nach welchen Kriterien die "schädlichen Auswirkungen" eines neuen Vorhabens beurteilt werden. Die Rechtsprechung nimmt schädliche Auswirkungen regelmäßig dann an, wenn Gefahr droht, dass dem zentralen Versorgungsbereich durch den außerhalb angesiedelten Einzelhandelsbetrieb Kaufkraft abgezogen wird und der notwendige Warenumsatz im Allgemeinen oder in wichtigen Bereichen dort nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Maßgeblich sind dabei die ökonomischen Gesamtzusammenhänge in dem betroffenen Versorgungsbereich. Dazu zählt auch die "Magnetwirkung" einzelner Betriebe.

Daher kann es also auch durchaus auf den Umsatzverlust eines einzelnen Betriebs ankommen, wenn dieser eine wichtige Frequenzbringerfunktion für die anderen Geschäfte hat und dessen möglicher Niedergang eine Kettenreaktion auslösen könnte. Allein dies zeigt, wie sehr die Verfolgung der städtebaulichen Ziele am Ende doch zu einem faktischen Wettbewerbs- und Konkurrenzschutz für die vorhandenen Einzelhandelsbetriebe führen kann.

Dennoch ist es in der bundesdeutschen Rechtsprechung gefestigte Ansicht, dass die planungsrechtliche Steuerung der Einzelhandelsansiedlung keinen europarechtlichen Bedenken begegnet. Fast stereotyp wird immer wieder betont, dass mögliche Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit jedenfalls durch sachliche Gründe gerechtfertigt seien. Hieran wird auch im Angesicht der Rechtsprechung des EuGH und der Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht eisern festgehalten.

Monopolkommission fordert Abbau

Ob diese bisherige Praxis des deutschen Planungsrechts vor dem europäischen Hintergrund Bestand haben wird, ist jedoch fraglich. Die EU-Kommission ist dezidiert anderer Auffassung als die deutschen Gerichte. In verschiedenen aktuellen Dokumenten fordert sie Deutschland zur Beseitigung seiner Planungsbeschränkungen auf, den Marktzutritt im Einzelhandel nach Ansicht der Kommission in unangemessener Weise behindern. Für die Kommission ist es nicht ohne Weiteres klar, dass es ohne planungsrechtliche Steuerung insbesondere großflächiger Einzelhandelsbetriebe zu negativen innerstädtischen Auswirkungen kommen muss. Mit anderen Worten: Hier mangelt es an der Erforderlichkeit der planungsrechtlichen Beschränkungen.

Auf nationaler Ebene gehen etwa die Feststellungen der Monopolkommission in dieselbe Richtung. In ihrem 19. Hauptgutachten vom 6. Juli 2012 mit dem Titel, "Stärkung des Wettbewerbs bei Handel und Dienstleistung", weist die Monopolkommission auf eine wettbewerbsverzerrende Wirkung der planungsrechtlichen Vorschriften hin und fordert hier einen spürbaren Abbau. Aus ihrer Sicht ist es nicht die Aufgabe des Planungsrechts, vorhandene Einzelhandelsstandorte dadurch zu stützen, dass die Ansiedlung neuer Betriebe an anderen Standorten untersagt wird.

Best Practice als Ziel

In Brüssel wird derzeit daran gearbeitet, eine EU-weite, einheitliche Politik zu diesen Fragen zu entwickeln. Die Kommission hat Anfang 2013 einen "Europäischen Aktionsplan für den Einzelhandel" beschlossen mit dem Ziel, die wettbewerbliche und wirtschaftliche Situation des Handelssektors zu verbessern, ohne dabei den Verbraucherschutz außer Acht zu lassen. In diesem Rahmen sind zunächst in einer über alle 28 Mitgliedsstaaten gehenden Untersuchung die verschiedenen planungsrechtlichen Regularien zusammengetragen und vergleichend bewertet worden.

Es folgte eine Analyse der verschiedenen Rechtfertigungsgründe für nationale Einschränkungen und der daraus resultierenden Probleme für die Verwirklichung des Binnenmarktes. In verschiedenen Workshops wird derzeit anhand von Fallstudien und Interviews mit führenden Köpfen der Branche und Interessenvertretern versucht, eine "Best Practice" zu entwickeln für einen möglichst optimalen Ausgleich zwischen Planung sowie Verbraucher- und Umweltschutz einerseits und Niederlassungsfreiheit andererseits. Die Ergebnisse stehen noch aus.

Es ist aber nicht ganz fernliegend zu erwarten, dass die bundesdeutsche Planungspraxis in dem einen oder anderen Punkt wird umdenken müssen. Namentlich der faktische Wettbewerbs- und Konkurrenzschutz, der aus der derzeitigen Planungspraxis resultiert, trifft nicht auf europäische Akzeptanz. Soll die bisherige Planungspraxis fortgeführt werden, erfordert dies wohl jedenfalls einen erhöhten Begründungsaufwand. Es kann nicht mehr wie selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass die planungsrechtlichen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit ausreichend gerechtfertigt sind. Ganz praktisch könnte dies dazu führen, dass Grundstücke, auf denen heute noch eine Einzelhandelsansiedlung planungsrechtlich ausgeschlossen ist, künftig anders zu bewerten sind.

Der Autor

Dr. Christian Wiggers Rechtsanwalt, PSP Peters, Schönberger & Partner, München

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