Aktuelle Rechtsfragen

Standortsteuerung für Einzelhandel auf dem Prüfstand

Die Ansiedlung großflächigen Einzelhandels wird in vielen Regionen Deutschlands planerisch gesteuert, zum Beispiel durch das im Landesentwicklungsprogramm Nordrhein-Westfalen geregelte "Beeinträchtigungsverbot" oder entsprechende Bestimmungen im Regionalplan für die Region Stuttgart. Solche Regelungen stehen nun auf dem Prüfstand: Laut EU-Kommission verstößt eine Standortsteuerung aus unterschiedlichen Gründen gegen die europäische Niederlassungsfreiheit nach Art. 49

AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Bereits vor gut zwei Jahren forderte die Kommission die Bundesrepublik auf, hierzu Stellung zu nehmen. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Gründe für die Beschränkung von Neuansiedlungen

Von Bedeutung ist daher ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom März dieses Jahres (Rechtssache C-400-08). Darin erklärte der EuGH diverse Beschränkungen der Ansiedlung von Einzelhandelsgeschäften im autonomen Katalonien in Spanien als unvereinbar mit der europäischen Niederlassungsfreiheit. Zwar kann nach diesem Urteil die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit von Einzelhandelsgeschäften gerechtfertigt sein, wenn es um Umwelt- und Verbraucherschutz oder Gründe der Raumordnung geht. Rein wirtschaftliche Ziele gelten hier jedoch nicht.

Laut EuGH darf der Gesetzgeber zwar fordern, dass sich der Standort für den Neubau größerer Einzelhandelsgeschäfte innerhalb einer städtebaulich integrierten Lage befindet und - in der Sprache der deutschen Landesplanung ausgedrückt - einer bestimmten Zentralitätsstufe angehört (zum Beispiel Unter-, Mittel- oder Oberzentrum). Weiterreichende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit müssen dagegen gestützt durch konkrete Umstände gesondert begründet werden. Die Genehmigung von Einzelhandelseinrichtungen zum Schutz bestehender Marktstrukturen zu verweigern, ist überhaupt nicht zulässig.

Deutsche Praxis

Interessant wird sein, ob und wie sich diese europarechtlichen Vorgaben auf das Kommissionsverfahren und die Praxis der in Deutschland mittlerweile weit fortgeschrittenen Steuerung des Einzelhandels durch die Raumordnung und Bauleitplanung auswirken. Es ist zu erwarten, dass sich die Hürden für die Rechtfertigung solcher Standortreglementierungen tendenziell erhöhen. Momentan bestimmen die Gemeinden in ihren Bebauungsplänen mit stetig zunehmender Detailschärfe, an welchen Standorten großflächiger Einzelhandel stattfinden darf. Dies ist häufig noch verbunden mit Festsetzungen zu Verkaufsflächenobergrenzen für das Gesamtangebot und sogar einzelne Sortimente, insbesondere des sogenannten zentrenrelevanten Einzelhandelssortiments.

Planungshoheit

Die Planungshoheit der Gemeinden ist dabei nicht unbeschränkt. Stellt die Gemeinde einen Bebauungsplan auf, hat sie diesen den auf Landesebene festgelegten Zielen der Raumordnung anzupassen (§ 1 Abs. 4 Baugesetzbuch). Die Möglichkeit, diese Ziele festzulegen, nutzen die Länder wiederum intensiv, um die Ansiedlung von Einzelhandelsvorhaben zu steuern und zu beschränken.

Nach gegenwärtiger Praxis wird die kommunale Planungshoheit durch eine ganze Reihe von Geboten und Verboten beschränkt. Ausgangspunkt ist das sogenannte Zentrale-Orte-Prinzip. In den Raumordnungsplänen werden die Städte und Gemeinden eines Bundeslandes als Ober-, Mittel-, Unter- beziehungsweise Grundzentren festgelegt, häufig verbunden mit einem dem jeweiligen Ort zugeordneten Verflechtungsbereich. Sie sind damit Anknüpfungspunkt für zahlreiche Maßnahmen der Infrastruktur-, Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung auf Landes- und kommunaler Ebene.

Aus dem Zentrale-Orte-Prinzip ergeben sich wegen der infrastrukturellen Auswirkungen großflächiger Einzelhandelsbetriebe auch Anforderungen an dessen Standortsteuerung. Auf Landesebene werden als Instrumente insbesondere das Konzentrations-, das Kongruenz- und Integrationsgebot sowie das Beeinträchtigungsverbot eingesetzt.

- Das Konzentrationsgebot bindet die Ansiedlung von Einzelhandelsvorhaben bestimmter Größenordnung und Sortimentsstruktur an zentrale Orte einer bestimmten Stufe.

- Das Kongruenzgebot stellt sicher, dass der Einzugsbereich eines Einzelhandelsvorhabens den zentralörtlichen Verflechtungsbereich nicht wesentlich überschreitet.

- Anliegen des Integrationsgebots ist es, dass Einzelhandelseinrichtungen grundsätzlich nur an integrierten Standorten zugelassen werden, insbesondere also nicht "auf der grünen Wiese".

- Das Beeinträchtigungsverbot soll verhindern, dass die Funktionsfähigkeit des Ortskerns einer Standortgemeinde und auch die Funktionsfähigkeit anderer benachbarter Orte im Einzugsbereich wesentlich beeinträchtigt wird. Es sichert ab, dass die Standorte in integrierten Lagen sich entwickeln können und dass die Konzentration von zentralen Einzelhandelseinrichtungen an zentralen Orten entsprechend dem Zentrale-Orte-Prinzip nicht ausgehöhlt wird.

Der Fall Katalonien

Ein Blick auf die beanstandeten Regelungen Kataloniens zeigt, dass das EuGH-Urteil auch für die Steuerung des Einzelhandels in Deutschland relevant sein dürfte. So war bestimmt, dass große Einzelhandelseinrichtungen nur in Gemeinden eröffnet werden dürfen, die entweder das Zentrum eines Bezirks sind oder die mehr als 25 000 Einwohner haben und deren Standort sich in einem sogenannten "konsolidierten städtischen Gebiet" befindet, also in geschlossenen Ortslagen mit Wohnbebauung und inritergten Einzelhandelsbetrieben.

Außerdem sind für jeden Bezirk und jede Gemeinde Verkaufsflächenbeschränkungen festgelegt worden. In Gebieten, für die ein Überangebot prognostiziert worden war, durften Verbrauchermärkte überhaupt nicht eröffnet werden. Sofern ein Zuwachs möglich war, galten für neue Geschäfte bestimmte Höchstbeschränkungen der auf sie entfallenden Verbraucherausgaben für Produkte des täglichen, mittel- und langfristigen Bedarfs.

Für Katalonien wurde ein Überangebot in 37 von 41 Bezirken erwartet, sodass in diesen Bezirken keine weiteren Verkaufsflächen geschaffen werden durften. In den übrigen vier Gebieten durften maximal 23 687 Quadratmeter Verkaufsfläche aufgrund der bestehenden Regelungen hinzukommen. Die Genehmigungsbehörde musste außerdem prüfen, ob in dem von der Neuansiedlung betroffenen Gebiet bereits eine angemessene Ausstattung mit Einzelhandelseinrichtungen besteht und welche Auswirkungen die neue Ansiedlung auf die Einzelhandelsstruktur dieses Gebiets haben würde.

Die EuGH-Entscheidung

Der EuGH stellte zunächst fest, dass die beanstandeten Regelungen die Niederlassungsfreiheit beschränken. Der Begriff der "Beschränkung" umfasse alle Maßnahmen, die den Marktzugang von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und somit den innergemeinschaftlichen Handel behindern. Es kommt nicht darauf an, ob die getroffenen Maßnahmen aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminierend wirken. Der EuGH hat nochmals deutlich hervorgehoben: Regelungen, die die Niederlassungsfreiheit beschränken, müssen durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt und darüber hinaus geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Diese qualifizierte Begründung muss sich auf gesonderte Untersuchungen stützen.

Spanien hatte argumentiert, die Beschränkung der Ansiedlung großer Einzelhandelseinrichtungen auf dicht bevölkerte Zentren und integrierte Standorte sollte umweltbelastende Autofahrten vermeiden, dem innerstädtischen Verfall entgegenwirken, ein umweltgerechtes Stadtmodell erhalten, den Bau neuer Straßen vermeiden und den Zugang zu diesen Einrichtungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln sicherstellen. Das hat der EuGH als Begründung akzeptiert.

Zweifel am Kongruenzgebot

Im Grundsatz dürften deshalb auch die in der deutschen Landesplanungspraxis wichtigen Konzentrations- und Integrationsgebote mit der europäischen Niederlassungsfreiheit vereinbar sein. Es liegt auch nahe, dies für das Beeinträchtigungsverbot anzunehmen. Dagegen könnten sich beim Kongruenzgebot eher Zweifel ergeben. Allerdings ist es grundsätzlich die Beschränkung des Einzugsgebiets auf den landesplanerisch festgelegten Verflechtungsbereich, die dazu beiträgt, Auswirkungen auf Straßen- und Verkehrsmittelnutzung zu begrenzen und damit einen Beitrag zum Umweltschutz und zur Schonung der Infrastruktur zu leisten.

Problematisch wird es vor allem dann, wenn solche Beschränkungen dazu führen, dass insgesamt die Möglichkeit zur Eröffnung großer Einzelhandelseinrichtungen in einer ganzen Region spürbar eingeschränkt ist, wie dies der EuGH für Katalonien angenommen hat. Dann bedarf es einer genauen, fachlich abgestützten und nachprüfbaren Begründung, die der EuGH in dem entschiedenen Fall vermisst hat. Insbesondere die in zahlreichen Landesentwicklungsplänen vorgesehenen Beschränkungen für bestimmte Einzelhandelstypen wie etwa Fabrikverkaufszentren und Einzelhandelsbetriebe ab einer bestimmten Größenordnung auf Standorte lediglich in Oberzentren dürften angesichts des Urteils einer besonders exakten Erläuterung bedürfen, da sie die Niederlassungsfreiheit erheblich und sehr weitreichend einschränken. Hier dürfte sich das Urteil im Sinne eines gesteigerten Rechtfertigungsbedarfs und einer intensiven Rechtskontrolle auswirken.

Auswirkungen auf Deutschland

Europarechtswidrig ist nach dem Urteil, dass bei der Genehmigung für einen großen Einzelhandelsbetrieb in Katalonien zu berücksichtigen ist, ob bereits eine angemessene Ausstattung in dem von der Neuansiedlung betroffenen Gebiet besteht und welche Auswirkungen diese auf die Einzelhandelsstruktur des Gebiets haben würde. Die Regelung betreffe die Auswirkungen auf die bestehenden Einzelhandelseinrichtungen und die Struktur des Markts, nicht jedoch den Verbraucherschutz. Es handele sich um rein wirtschaftliche Erwägungen, die kein zwingender Grund des Allgemeininteresses seien, der die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen könne.

Gesetzliche Regelungen, die die Zulassung von Einzelhandelsbetrieben (auch) von den Auswirkungen auf vorhandene Marktstrukturen abhängig machen, sind daher unzulässig. Dies lässt erhebliche Zweifel aufkommen, ob beispielsweise die im Landesentwicklungsprogramm Bayern bestimmten Höchstgrenzen für Kaufkraftabschöpfungsquoten neuer Einzelhandelsgroßprojekte innerhalb des festgelegten Verflechtungsbereichs europarechtskonform sind.

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