Ulrich Weiss zum 70. Geburtstag

Retail einst und heute - Ein Bühnengespräch -

Warum gelten Kreditinstitute mit ausgeprägtem Privatkundengeschäft dem
Markt heute als grundsätzlich überlegen gegenüber den neuen
Kapitalmarkt-Banken?
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Weiss: Eigentlich ganz einfach - weil die Bewertung einer Bank durch
Markt und Börse sich heute deutlich stärker am Price-to-Book-Value
ausrichtet, also am Verhältnis von Eigenmitteln zur
Marktkapitalisierung. Und dieser Price-to-Book-Value nimmt sich als
wesentlichen Einflussfaktor eben den Return on Equity vor. Woher
dieser stammt, ob aus Retail- und Privatbanking und Asset Management
oder eben aus Whole Sale und Investmentbanking, das wäre eigentlich
"egal". Nur: Das Ergebnis des Privatkundengeschäfts kann immer mehr
durch seine Stabilität bestechen und auch durch seine Höhe. Die
Retail-Stabilität führt deshalb in aller Regel beim Börsenwert zur
Höherbewertung einer Bank. Die Börsenbewertungen von Banken mit einem
starken Retailgeschäft wie Citigroup oder HSBC bestätigen dies.
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Als die Großbanken, als die Deutsche Bank vor rund 50 Jahren ins
breite Privatkundengeschäft ging, genoss das neue Geschäft innerhalb
des hohen Hauses nicht die höchste Anerkennung. Ist Retail ein
spezielles Bankgeschäft?
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Weiss: Ich meine - ja. In der Tradition in der ich gelebt habe, traute
man aber jedem Universalbanker zu, jedes Geschäft zu verstehen.
Dadurch kamen auch Firmenkunden- und Auslandsbanker auf Retailstühle.
Das hat häufig der Sache nicht gut getan, weil sie nach anderen Regeln
als das klassische Bankgeschäft funktioniert.
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Bedeutet dies, dass man Retail gelernt haben sollte, um das Ressort
Retail zu führen?
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Kassow: Ich würde noch einen Schritt weiter gehen - immer mehr
Beispiele zeigen, dass es nicht schadet Retail gelernt zu haben, um
Bankgeschäft insgesamt voranzubringen! Es ist genau dieses, was
Sparkassen und Genossenschaften in Deutschland so stark macht: Im
Retailgeschäft erfährt man sehr intensiv, wie man in komplexen und
langfristig atmenden Systemen Ertragshebel sensibel bedient, um nicht
an den Eisbergen struktureller Kosten zu scheitern.
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Es hat auch in diesem Punkt gerade bei den Großbanken aber im letzten
Jahrzehnt auffällige Strategiewechsel gegeben. Zu Recht?
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Weiss: Eher nicht. Im Grunde muss man, wenn man eine (Retail-)
Strategie wirklich sorgsam entwickelt hat, auch lange dabei bleiben.
Auf jeden Fall sind häufige Strategiewechsel schädlich. Denn wenn man
die verschiedenen Kundensegmente genau bestimmt, die
Vertriebsorganisation darauf ausrichtet und die Produkt- sowie
kundengruppenbezogene Geschäftsführung abgegrenzt hat, braucht es nach
meiner Erfahrung drei bis vier Jahre Einführungszeit. Bis man wirklich
von Bewährung sprechen kann, ist wahrscheinlich fast ein Jahrzehnt
nötig. Kommt während dieses "Prozesses"
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eine neue Person in die Verantwortung, die alles ändern will,
verlieren alsbald die Erträge ihre Kontinuität und die Mitarbeiter
ihre Identifizierung mit dem Konzept.
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Kassow: Ich stimme sofort zu. In der Regel kann niemand die Qualität
einer strategischen Retailentscheidung bereits nach einem Jahr
beurteilen. Dennoch werden Konzepte oft in kürzeren Zyklen
überarbeitet. Hektik auf Folienebene!
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Die Kundenreaktionen auf Zick-Zack-Kurs: Es ist bisher sehr selten zu
dramatischen Abwanderungen gekommen, auch bei aller Unsicherheit über
die Retail-Zukunft der deutschen Großbanken nicht. Warum schlagen
interne Richtungsänderungen nicht nach außen durch?
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Kassow: Weil im Mittelpunkt der Kundenbeziehungen immer noch Menschen
stehen! Hätte man innerhalb von zwei Jahren 50 Prozent der Berater
ausgewechselt, wären die Kundenverluste hoch gewesen. Die Kunden
machen das für sie entscheidende Preis-/Leistungsverhältnis ihrer Bank
in hohem Maße an den Mitarbeitern fest.
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Zuletzt erlebten wir das nach der Akquisition der Schmidtbank. Sie
wissen es - eine sehr lokal verwurzelte Bank mit gut bekanntem Namen.
Hat da die Marke (Schmidtbank) nicht einen besonders hohen Wert? Wir
entschieden anders. Wir änderten alles nach relativ kurzer Zeit in
Commerzbank. Kritik der Kunden? Fast keine! Am "realen Wert" der
Beziehung ändert sich aus Kundensicht zunächst wenig, wenn der
bekannte Berater bleibt.
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Sollte man für die Retailstrategie externe Berater bemühen?
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Weiss: Um Gottes willen nicht! Denn Berater entscheiden am Reißbrett
oder bringen einem die Strategie mit, die sie beim vorhergehenden
Auftrag schon einmal verkauft haben. Außerdem verhindert "eingekaufte"
Strategie die Identifizierung. Solche Konzepte bleiben immer
Fremdkörper im Hause und werden entsprechend halbherzig umgesetzt: Die
Bank, die ihre Strategie vom Berater entwickeln lässt, verzichtet auf
den USP.
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Mir fällt in diesem Zusammenhang der Werbespruch von Toyota ein:
"Nichts ist unmöglich". Das sollten auch Kreditinstitute
verinnerlichen. Auch Wilhelm Raabe passt: "Sieh nach den Sternen und
achte auf die Gassen".
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Nun haben Sie, Herr Weiss, aber schon in den achtziger Jahren in "bank
und markt" über die Kostenbelastung des Privatkundengeschäfts
geschrieben. Haben also nicht die Kosten manche Entwicklungen bereits
im früheren Retail "unmöglich" gemacht?
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Weiss: Nicht so, wie wir heute denken. Wenn unser Controller Dr.
Mertin damals im Vorstand den Rohentwurf von Bilanz und G+V
vorstellte, sahen wir den gesamten (!) Verwaltungsaufwand aus der
Zinsspanne gedeckt. Das Provisionsergebnis war bereits Gewinn. Das
Ergebnis des Eigenhandel, kam aber noch dazu und das
Beteiligungsergebnis noch darüber.
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Die Bank verdiente so gut, dass das Filialbüro per Rundschreiben bat,
doch noch einige Wertberichtigungen und Abschreibungen zu melden, um
die Risikovorsorge weiter zu bessern. In dieser hervorragenden
Ertragssituation der siebziger und frühen achtziger Jahre hatte das
Kostenmanagement nicht die Priorität wie heute.
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Das Retailbanking in Deutschland hatte drei Phasen:
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die erste, in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern, war vor
allem dem Durchbruch der Idee an sich gewidmet; die zweite, bis Anfang
der Achtziger, beschäftigte sich intensiv mit der Durchsetzung des
Marketings im Bankbetrieb - Professionalisierung des Marketings, das
war es, was wir damals wollten;
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die dritte Phase danach, das war - und ist - die Schärfung des
Ergebnisbewusstseins. Lange, zu lange hat es gedauert, bis wir uns
bewusst machten, wie viel Zeit wir für uns und unsere Administration
verbraucht haben, statt für die Kunden;
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Wie war das Ressort Privatkunden von den Produkten her gebaut?
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Weiss: Die "alte Zeit" übte eine scharfe Trennung zwischen
Privatkunden- und Börsengeschäft. Girokonto, Sparkonto,
Zahlungsverkehr, Konsumentenkredit, Privathypotheken - das war unser
Retail. Nicht die Wertpapiere.
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Konflikte dadurch?
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Weiss: Viele!
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Wie definieren Sie Privatkundengeschäft heute, Herr Kassow. Gilt die
erwähnte scharfe Trennung immer noch?
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Kassow: Die Zeit der Produktsparten ist sicher zumeist vorbei. Und das
Börsengeschäft ist auch für viele Privatkunden mittlerweile integraler
Bestandteil der Bankleistungen. Insofern hat sich viel verändert. Die
neuen Trennlinien laufen entlang von Kundengruppen und deren Lebens-
beziehungsweise Bedarfslagen. CRM-gestützte, ganzheitliche Beratung
hebt das Denken in Produktsparten auf. Aber die Steuerung ist dadurch
nicht leichter geworden ...
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Ist die Kundenbindung heute noch etwas, worauf sich die Bank
wenigstens überwiegend verlassen kann?
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Kassow: Ich meine ja. Wir werden zwar immer wieder einmal erschreckt,
wenn zum Beispiel wie in der Automobilfinanzierung ein ganzer Markt
von den klassischen Banken hin zu den Werksfinanzierern schwenkt. Aber
das ist nicht unbedingt zu verallgemeinern, sondern eine Folge
speziellen Herstellermarketings. Und es ist auch kein Anlass zur
Panik, wenn eine Direktbank innerhalb von fünf Jahren mehrere
Milliarden Assets anzieht.
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Das sind aber keine erdrutschartigen Bewegungen. Anspruchsvolle
Privatkunden haben heute ganz einfach mehr Adressen als früher. Und
für mich gehört es durchaus zum Marktalltag, dass mein anspruchsvoller
Kunde noch ein Girokonto bei der Sparkasse und ein Anlagekonto bei der
Direktbank führen lässt.
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Tatsächlich ist die Anzahl der Bankverbindungen in der Breite des
Marktes jedoch in letzter Zeit nicht mehr gestiegen.
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Die Kunden haben nämlich gemerkt, dass ein breites Nutzungsverhalten
ihnen doch eine Menge Arbeit bringt.
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Also fangen sie an, ihre Bankbeziehungen wieder zu konsolidieren -
sich wieder stärker auf eine Kernbank zu konzentrieren.
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Und diese Kernbanken haben ja inzwischen auch gelernt, auf die
Direktbank-Konkurrenz zu reagieren, durchaus auch mit aggressiver
Preispolitik.
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Weiss: Wenn man über Marktanteile spricht, erinnere ich mich an
Überlegungen, wie sie für amerikanische Ansätze typisch sind. Da fragt
die Bank nämlich als allererstes: "What is the client's wallet? "
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Das heißt, wie viel kann dieser Kunde überhaupt für
Bankdienstleistungen ausgeben? Und die Bank fragt dann wieder: "Which
part of his wallet do I have? " Und erst damit wird es interessant.
Denn es ist schlicht unsinnig zu prahlen, man habe viele Millionen
Kunden ohne zu wissen, in welchem Maße man am Portemonnaie des Kunden
wirklich beteiligt ist.
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Wie hat sich das Gewicht der Marketinginstrumente verschoben? Wir
erinnern uns, Herr Weiss, noch an eine Zeit, in der Sie mit massivem
Preiswettbewerb den traditionellen Teilzahlungsbanken den Garaus
machten. Ließe sich so etwas wiederholen?
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Weiss: Ich darf doch korrigieren. Wir haben im Ratenkredit keine
niedrigen Konditionen gehabt. Wir gingen zum Beispiel mit einem Zins
von 0, 6 bis 0, 7 Prozent per Monat in die Märkte, dazu zwei Prozent
Bearbeitungsgebühr bei Abschluss. Bei Laufzeiten von 36 bis 48 Monaten
kommt man dann auf 14 bis 16 Prozent effektiv.
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Was wir aber eben sehr viel besser einrechnen konnten als die
Teilzahlungsbanken, war unsere Refinanzierung über Depositen. Die
Teilzahlungs-Institute hatten dafür nur den Kapital- oder Geldmarkt.
Mit unseren Ratenkreditsätzen lagen wir deshalb hervorragend im
Geschäft, während die alten Absatzfinanzierer mit gleichen Konditionen
am Bedarfsminimum kratzen.
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Grundsätzlich halte ich den Preiswettbewerb für ein Instrument, das
man sehr behutsam handhaben muss, weil man selbst nur zu schnell in
Kannibalisierungssituation hinein läuft. Bei desaströsen
Marktkonditionen neige ich deshalb eher dazu, den Verzicht auf
bestimmte Segmente zu empfehlen.
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Was halten Sie von der Diba oder der 1822 direkt als Wettbewerber
heute?
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Kassow: Ich schätze beide sehr! Preise haben für den Bankkunden von
heute eine Signalfunktion, weil er keine Zeit hat, sich mit der
Komplexität des Alltags-Banking auseinanderzusetzen. Deshalb muss
heute jeder mit den Preisen sehr sensibel umgehen. Für falsch halte
ich in diesem Kontext die gern vorgebrachte Lockvogel-Kritik. Denn
dahinter steckt eine bösartige Assoziation. Der Kunde wird auf den
Leim gelockt, gefangen und in den Käfig gesperrt.
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Der richtige Ansatz im Massenmarketing ist ein ganz anderer. Nämlich:
Es bedeutet für den Kunden Aufwand, sich auf einen neuen Dienstleister
einzustellen. Für diesen Aufwand muss man ihm also einen Anreiz geben
- und das ist dann ein entsprechender Preis, als
Aufwandsentschädigung!
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Deshalb müssen Über-Markt-Konditionen eine Befristung haben, während
die Banken versuchen, den Kunden von ihrer grundsätzlichen
Leistungsfähigkeit zu überzeugen. Kernerfolgsfaktor sind dabei erneut
die Mitarbeiter. Nur mit Sonderpreisen akquirieren und eine
Normalkondition gar nicht mehr begründen zu können, das wäre arm.
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Weiss: Nur kommt bei der Wertung der Newcomer-Erfolge die Gefahr der
Salamischeiben etwas zu kurz. Auch wenn es richtig ist, dass das
Eindringen von Ausländern, Herstellern, Direktbanken in die
klassischen Privatkundensegmente selten gleich wehtut: Wenn jedes Jahr
ein paar Scheiben mehr abgeschnitten werden, summieren sich die
Verluste eben doch! Ich sehe darum unsere Zukunft, die der
Etablierten, in der Kernfrage: Womit wollen wir wirklich für die
Kunden unverzichtbar bleiben?
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Wie begegnet die Commerzbank den spezialisierten Newcomern? Was können
Sie besser?
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Kassow: Ich sehe uns den Spezialisten, die uns hier wie da etwas
abzwacken, in einer ganz entscheidenden Position stark überlegen:
Wettbewerber, die uns ärgern wollen, die wechseln. Mal hat man einen
auf der Einlagenseite, mal einen im Kredit. Mal hat man einen
Kollegen, dessen Zinsrechnung unmöglich stimmen kann, mal einen,
dessen Produktkombis nicht nachvollziehbar sind. Aber typischerweise
regelt sich so etwas von alleine - in Tagen, Monaten, nach zwei, drei
Bilanzen.
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Was stellen wir dagegen? Verlässliche, ganzheitliche Leistungen für
alle Lebensphasen. Und die kontinuierlich hohe Leistungsfähigkeit des
Filialteams. Damit fühle ich mich jeder Retailzukunft gut gewachsen.
Denn private Finanzen werden als Thema wichtiger und komplizierter.
Einzelne Produkte helfen da nicht. Es geht am Ende immer um Menschen:
Kunden brauchen Lösungen für ihre spezifischen Lebensphasen.
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Warum fällt es deutschen Kreditinstituten bis heute so schwer, mit dem
kartengestützten Zahlungsverkehr Geld zu verdienen? War es ein Fehler,
die Karten so lange als Gemeinschaftsprogramm zu betreiben?
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Weiss: Manches sieht auch da heute anders aus als früher. Als wir vor
rund 40 Jahren eurocheque erfanden, war unser Hauptargument dafür
unser Einsatz gegen die Kreditkarte. Denn die Konten der
Kartengesellschaften wurden eben damals außerhalb der Kreditwirtschaft
geführt und am zugehörigen Revolving-Kredit verdienten die
Kartenunternehmen horrend - an den Banken vorbei. Mit dem eurocheque
dagegen behielten wir den Zahlungsverkehr in unseren eigenen Konten -
mit allen Cross Selling-Möglichkeiten.
\
Heute münden alle Karten, ob Debit oder Kredit, ganz überwiegend auf
den Kundenkonten der Banken.
\
Der Gründungsauftrag des eurocheque hat sich sozusagen erledigt. Aber
- wäre das auch ohne seinen phänomenalen Aufstieg in ganz Europa so
gekommen?
\
Ein Nachteil unserer damaligen Kartenpolitik reicht aber leider bis in
die heutigen Tage: Während zum Beispiel in Italien der Händler für
ec-Karten das gleiche Disagio zu zahlen hat wie für Kreditkarten,
profitiert der deutsche Handel heute von dem niedrigeren Discount,
allerdings bei einem sehr hohen Volumen.
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Verdient die Commerzbank mit Karten etwas?
\
Kassow: Ja. Aber viele Interessenvertreter der Kartenbranche hören das
ungern: Sie wollen Salden auf ihren Karten sehen, wir Banken dagegen
wollen die Kundensalden in unseren Büchern! Und das soll bitte auch so
bleiben.

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