STADTENTWICKLUNG

"DIE ZUKUNFT DER INNENSTÄDTE KANN NUR MULTIFUNKTIONAL SEIN"

Dr. Eva Stüber, Foto: FH Köln

Die Corona-Pandemie hat in Verbindung mit diversen Lockdowns unübersehbare Zahnlücken in vielen deutschen Innenstädten hinterlassen. Um Städte und Gewerbetreibende im Kampf gegen die Verödung zu unterstützen, erarbeitet das IFH Köln derzeit im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz Lösungsansätze für Leerstand und Ansiedlung. Über die konkreten Projektziele, den strammen Zeitplan und die heterogenen kommunalen Voraussetzungen berichtet IFH-Geschäftsleiterin Dr. Eva Stüber im Interview mit "Immobilien & Finanzierung". Als Ergänzung dazu stehen die Bürgermeister der beteiligten Modellstädte Langenfeld und Würzburg Rede und Antwort. Red.

Frau Dr. Stüber, wie würden Sie Ihr vom Wirtschaftsministerium gefördertes Projekt in Kürze zusammenfassen?

Wir packen gemeinsam an, um neue Denkansätze und Prozesse in die deutsche Stadtlandschaft zu bringen. Zusammen mit 14 Modellstädten und zahlreichen Dienstleistern entwickeln wir eine digitale Plattform für proaktives Leerstands- und Ansiedlungsmanagement - stets im engen Zusammenspiel mit allen weiteren relevanten Innenstadtakteurinnen und Innenstadtakteuren.

Wie kam das Projekt denn zustande?

Bekanntlich sind unsere Städte schon eine ganze Weile einem tiefgreifenden Wandel unterworfen, der durch die Corona-Pandemie noch einmal stark beschleunigt wurde.

Auf Initiative des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier wurde deshalb im Oktober 2020 ein runder Tisch einberufen, den mein IFH-Kollege und Geschäftsführer Boris Hedde mitgestaltet und moderiert hat. Das digitale Leerstands- und Ansiedlungsmanagement kristallisierte sich dabei als besonders relevant heraus. Was folgte ist die aktuelle Förderung zur Konzeption einer solchen Plattform.

Welche Rolle kommt dem 24-köpfigen Projektbeirat zu?

Er ist eine sehr wertvolle Unterstützung, da er uns viele Türen öffnet - sei es zu relevanten Personen, Institutionen und nicht zuletzt natürlich Daten. Darüber hinaus erhalten wir vielfältige Impulse und diskutieren relevante Perspektiven aus Sicht aller Stakeholder einer Innenstadt.

Wie sind Sie bei der Auswahl der Modellstädte vorgegangen?

Uns war es wichtig, eine große regionale Verteilung zu erreichen, da im deutschen Föderalismus bekanntlich ganz unterschiedliche Ausgangsbedingungen vorzufinden sind. Zudem sollte die Größe der beteiligten Kommunen eine möglichst weite Spanne aufweisen. Und so ist Köln unsere größte Stadt mit über einer Million Einwohnende, während Langenfeld nur etwa 60 000 zählt. Zudem spielten Innovationskraft und Schnelligkeit in der Umsetzung eine Rolle - schließlich steht für die Umsetzung des Vorhabens nicht viel Zeit zur Verfügung. Als Modellstädte sind dabei: Bremen, Erfurt, Hanau, Karlsruhe, Köln, Langenfeld, Leipzig, Lübeck, Lüneburg, Mönchengladbach, Nürnberg, Rostock, Saarbrücken und Würzburg.

In den Gesprächen haben wir im Übrigen schnell gemerkt, dass die Dringlichkeit des Themas "Leerstand" ganz unterschiedlich ist. So haben wir insgesamt einen guten Querschnitt des Landes dabei.

Ähnlich heterogen verhält es sich vermutlich bei den technischen Voraussetzungen in den Kommunen?

Klar, manche Kommunen sind bereits sehr fortschrittlich bei ihrer Datenerfassung beziehungsweise -verwaltung sowie auch der strategischen Ausrichtung ihrer Innenstadt, bei anderen ist der Digitalisierungsstand in der Verwaltung noch eher gering.

Ist Ihr Projekt letztlich ein Element im größeren Kontext "Smart City"?

Man könnte es so interpretieren. Es wäre mir aber zu kurz gegriffen, nur auf die Digitalisierung abzustellen. Klar, wir leisten einen Beitrag zur "Smartness" einer Stadt, indem wir analoge Prozesse ins Digitale überführen, dabei neue Daten sammeln und aufbereiten. Aber es geht uns auch um eine echte Veränderung des Mindsets - das kommt bei anderen Digitalisierungsprojekten häufig zu kurz.

Wer ist für die Entwicklung der Plattform zuständig?

Mit Immovativ haben wir einen erfahrenen Softwareentwickler im kommunalen Umfeld als Partner gewinnen können. Großer Vorteil hierbei: Die bestehende Softwarelösung "aREAL" konnte zeitnah nach Beauftragung als Prototyp zur Verfügung gestellt werden, um die Verprobung vor Ort zu starten. Nach der Implementierung wurde der Prototyp sukzessive mit Daten gefüllt und weiterentwickelt. So wurden von Anfang an die Anforderungen der Modellstädte detailliert erfasst und Insellösungen umgangen. So entsteht ein gemeinsames Ökosystem, das den Anforderungen aller Stakeholder-Gruppen gerecht wird.

Das klingt, als sollte im Anschluss an die Erprobung der Roll-out auf weitere Städte erfolgen?

Absolut. Unser Anspruch ist es, einen skalierbaren Standard für ganz Deutschland zu entwickeln. Wir wissen aber auch, wie ambitioniert das ist, insbesondere mit Blick auf die ziemlich knapp bemessene Projektlaufzeit von 16 Monaten. Bis Ende dieses Jahres wird die technologische Basis mit verschiedenen Schnittstellen entsprechend des Zielbildes entwickelt. Währenddessen sammeln wir bereits eine Vielzahl wertvoller Daten, erkennen neue Zusammenhänge und lernen vor allem ganz viel über die zugrunde liegenden Prozesse in den Kommunen.

Wo liegen die größten Hürden in der Praxis?

Datenschutz beispielsweise - sehr wichtig, aber im Projekt operativ eine Herausforderung, da der aktuelle Rahmen verhindert, dass Digitalprojekte schnell und konsequent durchgesetzt werden können. Der Föderalismus kommt hierbei noch erschwerend hinzu. Ein Beispiel: Wenn sich die Modellstädte mit Vertretern und Vertreterinnen der Immobilienwirtschaft austauschen möchten, ist das aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht so ohne Weiteres möglich.

Um auf die Adresse des Gegenübers zugreifen und diese nutzen zu dürfen, muss erst der genaue Zweck der Kontaktanbahnung dargelegt beziehungsweise neue Einwilligungen eingeholt werden. Einen Brief zu versenden mit der Frage, ob weitere Briefe kommen dürfen, ist für viele dann auch nicht nachvollziehbar. Diesen Herausforderungen müssen wir uns aber stellen, wenn wir neue Prozesse und eine Zusammenarbeit der innenstädtischen Stakeholder erreichen möchten.

Wie läuft es bei der Einbindung der Immobilienwirtschaft?

Sehr gut, wobei das zu Beginn nicht automatisch anzunehmen war. Ich erinnere mich an die Auftaktveranstaltung des Projekts im Oktober, bei welcher von Einzelnen die Sorge geäußert wurde, dass mit einer solchen Plattform Maklern und Maklerinnen das Geschäft streitig gemacht würde. Natürlich braucht es aber auch in Zukunft jemanden, der oder die sich vor Ort um den Mietabschluss kümmert. Im Dialog konnten diese Bedenken aber schnell ausgeräumt werden, ohnehin war die überwiegende Mehrheit der Immobilienwirtschaft von Anfang an sehr aufgeschlossen.

Gerade Makler und Maklerinnen sehen in der Plattform eher Chancen. Zu Recht, denn wir bauen ein mit guten Daten gefüttertes Ökosystem, das nie dagewesene Optionen ermöglicht. Die Maklerschaft wird dabei in Zukunft eine neue Rolle einnehmen. Diese gewandelte Rolle vom Dealmaker hin zum Kümmerer wird viel leichter von der Hand gehen, wenn sich des großen Informationsschatzes der Plattform bedient werden kann. Die große Klammer für die Branche lautet ohnehin: Wenn wir vitale, wirtschaftlich gut funktionierende Innenstädte haben, dann profitieren davon auch die Immobilien in Form von Werterhalt beziehungsweise -steigerungen.

Stichwort "vitale Innenstädte": Wie kann die Plattform dabei behilflich sein?

Die Plattform schafft einen ganzheitlichen, transparenten Überblick zur Ausgangslage. Für die Innenstadtakteure sind unserer Einschätzung nach ein frischer Blick und eine neue Denkweise für das Ziel der vitalen Innenstadt essenziell. Nehmen Sie beispielsweise die Immobilieneigentümer: Bisher steht naturgemäß die eigene Immobilie im Fokus. Gerne bleibt ein Objekt dann längere Zeit leer stehen, um die Chance auf den vermeintlich idealen Mieter zu wahren.

Wenn das aber auch mit dem Objekt links und rechts davon so gehandhabt wird, dann kann so ein Standort schnell in eine gefährliche Abwärtsspirale hineingeraten. Die LeAn®-Plattform, die wir gerade bauen, reduziert Hemmnisse für Zwischennutzung, indem sie den mit einem neuen Mietvertrag verbundenen Aufwand erheblich reduziert und Optionen wie kürzere Laufzeiten beziehungsweise Zwischennutzungen in einem neuen Licht erscheinen lässt.

Sollte grundsätzlich auf eine stärkere Nutzungsdurchmischung geachtet werden?

Die Zukunft der Innenstädte kann nur multifunktional sein. Neben Handel und Gastronomie werden auch Kultur, Handwerk, Bildung, Gesundheit, Freizeit, Soziales sowie Dienstleistungen Berücksichtigung finden. Gemischt werden kann sogar auf einer Fläche - wir nennen das "Raumteiler". Auch tageszeitbezogene Aktivitäten sind denkbar: tagsüber Café, abends Yoga-Studio. Das bringt viel mehr Vielfalt an einen Standort und macht ihn dadurch attraktiver. Gleichzeitig erhalten auch alternative Nutzungskonzepte und Geschäftsmodelle einen Raum.

Was sind Ihrer bisherigen Beobachtung nach Erfolgsfaktoren für ein gutes kommunales Leerstandsmanagement?

Ein großer Vorteil zum Start ist eine möglichst klare Organisationsstruktur mit eindeutigen Zuständigkeiten in Verwaltung und stadteigenen Tochtergesellschaften, die Raum für übergreifendes Zusammenarbeiten lassen. Zudem bedarf es eines klaren Zielbilds: Wie möchte sich die Kommune künftig konkret positionieren, welche Funktionen sollen erfüllt und welche Zielgruppen primär bedient werden? Sind diese Voraussetzungen gegeben, können Kommunen aktiver Einfluss auf die jeweiligen Entwicklungen vor Ort nehmen. Eine Modellstadt hat sich beispielsweise so das Thema Vorkaufsrecht erarbeitet und konnte entscheidend positiv Einfluss nehmen.

Gerade der HDE hat zu Beginn der Pandemie ja ziemlich düstere Szenarien entworfen, etwa 80000 Ladenschließungen alleine bis Ende 2023. War das rückblickend nicht doch etwas übertrieben?

Die IFH-Prognose zeichnet genau dieses Bild für Ende nächsten Jahres. Die Entwicklung wurde durch die Pandemie um bis zu sieben Jahre beschleunigt - ohne diese wäre das Szenario erst 2030 eingetreten. Deutschland hat noch immer sehr viel inhabergeführten Fachhandel, bei dem sich zwangsläufig die Frage der Nachfolge stellt. Und diese möchte in vielen Fällen niemand mehr übernehmen.

Und: Aufgrund der dynamischen Verschiebung hin zum Onlinehandel stehen viele Händler vor enorm hohen Investitionsbedarfen, die sich oftmals schlicht nicht mehr lohnen. Da wird dann noch zwei Jahre bis zur Rente weitergemacht, aber das Geschäft nicht für die nächste Generation neu aufgestellt. Die prognostizierten 80 000 Ladenschließungen bis Ende nächsten Jahres sind somit keineswegs aus der Luft gegriffen.

Es war mitunter auch die Rede von Masseninsolvenzen ...

Dieses Schreckensszenario ist Gott sei Dank ausgeblieben, vor allem aufgrund der Corona-Hilfen, die die Liquidität abgesichert haben. Ansonsten wären, wie zwischenzeitlich zu befürchten stand, wohl Hunderttausende Händler in die Insolvenz gerutscht. Dass der HDE davor eindringlich warnt, ist doch selbstverständlich und notwendig gewesen.

Multifunktionale Städte sind eine schöne Vision. Auf der anderen Seite sind da die Vermieter - oftmals große Kapitalsammelstellen, die Verpflichtungen gegenüber Kleinanlegern haben. Wenn die jetzt bei neuen Mietern - seien es Bildungs- oder Werkstätten - große Zugeständnisse machen müssen, drohen Einbußen. Wie lässt sich das halbwegs erträglich gestalten?

Idealerweise haben am Ende alle etwas von langfristig erfolgreich vermieteten Objekten. Hierfür müssen die Flächen so flexibel und vielfältig wie möglich konzipiert werden. Das ist die Basis für Mischkalkulationen, die den Vermietern zusätzlichen finanziellen Spielraum eröffnen.

Dem stationären Einzelhandel wurde in den vergangenen Jahren immer wieder das Stichwort "Event Shopping" als Allheilmittel mit auf den Weg gegeben. Wie sehen Sie das?

Allheilmittel ist vielleicht zu viel, aber im Kern geht es immer um die Frage: Wann und warum kaufen Menschen heute noch vor Ort ein? Welche Mehrwerte kann der stationäre Handel bieten? Die Marktabdeckung des Onlinehandels nimmt bekanntlich immer weiter zu, Bedarfsdeckung ist bequemer online möglich. Insofern stehen viele Händler de facto im Wettbewerb zur Freizeitbeschäftigung von Konsumenten und Konsumentinnen, sodass die Forderung nach mehr Erlebnissen nicht überrascht.

Wie dies im Detail aussieht, steht auf einem anderen Blatt. Erlebnis muss nicht ausschließlich Show oder Unterhaltung bedeuten, sondern kann auch in Form von Lernen stattfinden. Viele Einzelhändler bieten Workshops an, damit ihre Kunden und Kundinnen vor Ort den richtigen Umgang mit Produkten erlernen. Auch ein möglichst intensives Testen eines Produkts vor dem Kauf kann die Kundenbeziehung enorm bereichern. Da haben sich zum Teil richtige Communitys gebildet, die einzelne Produkte und Marken mit Begeisterung unterstützen.

Gerade für kleinere Händler scheint die Pandemie der Anlass gewesen zu sein, ihr stationäres Geschäft besser mit der Onlinewelt zu verzahnen, oder?

Tatsächlich ist da 2020 viel in Bewegung gekommen, im Prinzip gab es aber auch keine Alternative. Jetzt scheint sich langsam herauszukristallisieren, was funktioniert und was nicht. Denn eines darf man nie vergessen: Nur weil der Onlinehandel so stark wächst, heißt das nicht, dass man damit automatisch erfolgreich ist. Gerade bei kleineren Händlern konnte man aber zum Beispiel gut beobachten, dass Konzepte wie Live-Shopping via Instagram tendenziell gut funktionieren und daraus lukrative neue Umsatzkanäle entstehen können.

Dass hierbei viel experimentiert wurde und wird, ist ermutigend, aber auch überlebensnotwendig. Der Wandel vollzieht sich mit sehr hoher Geschwindigkeit und sich ihm zu verweigern, wäre ein Fehler. An dieser Stelle lässt sich auch noch einmal gut der Bogen zu den Stadtlaboren schlagen: Es ist entscheidend, die Ausgangssituation zu kennen, um daraus die richtigen Maßnahmen ableiten zu können.

Noch einmal zur Plattform: Wann ist der erste Match zwischen Mieter und Vermieter geplant?

Im Laufe des Sommers wird es soweit sein. Bis dahin wird der Algorithmus laufen und es werden ausreichend Daten von Anbieterseite eingespielt sein.

Sie haben die Plattform an anderer Stelle mit Tinder verglichen. Warum?

Der Vergleich ist einfach passend. Nehmen Sie einen expansionswilligen Einzelhändler, der gerne 200 Quadratmeter in einer gemischt-genutzten Immobilie anmieten möchte. Er braucht eine bestimmte Zielgruppe, Frequenz und Kaufkraft, damit sein Geschäftsmodell funktioniert. Stand heute ist das ziemlich mühsam und er wird sich durch viele nicht passgenaue Angebote durcharbeiten müssen. Auf der LeAn®-Plattform hinterlegt er dagegen die für ihn relevanten Kriterien und seine Suche matcht mit den Immobilienangeboten, welche die Kriterien erfüllen - genau wie bei Tinder.

Klingt, als läge noch eine ganze Menge Arbeit vor Ihnen. Gleichzeitig muss das Projekt bis Dezember 2022 abgeschlossen sein, oder?

Es ist noch viel zu tun, es ist aber auch gerade erst Halbzeit. Aktuell sind wir im Zeitplan und das Team ist hochmotiviert. Wenn die Förderung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz Ende des Jahres endet, wird der Grundstein für ein digitales Leerstands- und vorausschauendes Ansiedlungsmanagement gelegt sein.

Aber: Das Potenzial wird sich erst im Anschluss entfalten. Die Arbeit muss weitergehen. Innenstädte vitalisieren sich nicht in wenigen Monaten. Ein Projektkollege hat es neulich schön auf den Punkt gebracht: "Je länger ich mich damit beschäftige, umso mehr Fragen habe ich." Und genau so soll es ja auch sein: Wir steigen immer tiefer in diese komplexe Thematik ein und stoßen dabei zwangsläufig auf Dinge, die wir davor gar nicht auf dem Schirm hatten.

Eva Stüber , Mitglied der Geschäftsleitung, IFH Köln GmbH
Noch keine Bewertungen vorhanden


X