Leitartikel

Kommunikatives Versagen

In Stuttgart spielt sich Bizarres ab: Bürger werfen sich medienwirksam vor die Baggerschaufeln und campieren auf den Bäumen des Schlossgartens, um den Hauptbahnhof zu retten. Was ist schiefgelaufen, dass die Schwaben ihrem Unmut in einer ihrem Wesen so untypischen Art Ausdruck verleihen? Der Umbau des Bahnhofs ist Teil des weit größeren Projektes "Stuttgart 21". Für die Stadt und die Region kann es einen hohen infrastrukturellen Nutzen bringen, denn es soll nicht nur die Fahrzeiten deutlich verkürzen, sondern auch sicherstellen, dass die baden-württembergische Landeshauptstadt Teil der europäischen Hauptverkehrstrassen ist. Daher hat das Projekt auch für die Landespolitik hohe Relevanz und ist wegen seines technischen Anspruchs auch mit reichlich Prestige belastet. Denn aus dem Kopf- muss ein Durchgangsbahnhof werden, dessen Gleisführung um 90 Grad gedreht ist und das alles komplett unterirdisch. Entsprechend teuer ist das Projekt. Kritiker fürchten, es könnte ein Fass ohne Boden sein. Aus den ursprünglich veranschlagten Kosten in Höhe von fünf Milliarden D-Mark sind inzwischen 4,1 Milliarden Euro für den Umbau des Hauptbahnhofs und weitere 2,8 Milliarden Euro für die Schnellbahntrasse nach Ulm geworden. Es gibt sogar Schätzungen, die von bis zu zehn Milliarden Euro ausgehen, auch Bahn und Land können einen weiteren Kostenanstieg nicht ausschließen.

Doch nicht nur hohe Kosten provozieren erhebliche Widerstände. Es ist ein Stück weit auch die Furcht vor baulicher Schlamperei und den Grenzen der technischen Machbarkeit. Noch frisch sind die Erinnerungen an das Desaster des Kölner U-Bahn-Baus. Ein Einzelfall? Mitnichten. Auch die Bohrung für einen Eisenbahntunnel unter der Leipziger Innenstadt verzögerte sich wegen mangelhafter geologischer Voruntersuchungen und erforderte umfangreiche technische Nachbesserungen. Dass vom Sinn dieses Vorhabens ohnehin kaum ein Leipziger überzeugt wurde, legt ein weiteres Problem offen. In den Augen vieler Bürger entscheiden Politik und Behörden selbstherrlich über die Stadt- und Infrastrukturentwicklung. Dabei werden in der Regel die vorgesehenen rechtlichen und demokratischen Verfahren eingehalten. Kaum eine kommunale Baumaßnahme wird heute genehmigt, ohne dass alle relevanten Institutionen dazu Stellung genommen haben. Entsprechende Bürger- und Stadtteilgespräche bieten zudem Gelegenheit, Befürchtungen zu äußern und die Standpunkte der politischen Entscheider zu beeinflussen. Allerdings mangelt es nicht wenigen Veranstaltungen an aktiver Bürgerbeteiligung.

Die Pläne für "Stuttgart 21" gibt es seit 1994. Im November 1997 lag ein Architektenentwurf vor. 2005 erteilte das Eisen-bahn-Bundesamt die Baugenehmigung und im April des darauffolgenden Jahres wurden vom Verwaltungsgericht Baden-Württemberg drei Klagen gegen den geplanten Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs abgewiesen. Auch in der Folgezeit scheitern weitere Klagen. Schließlich fordern die Projektgegner 2007 per Unterschriftenkampagne einen Bürgerentscheid, was jedoch der Stuttgarter Gemeinderat mit großer Mehrheit ablehnte - zu Recht, wie später das Stuttgarter Verwaltungsgericht festgestellt hat. Im November 2008 gibt auch der Bundestag mit seinem Haushaltsbeschluss "grünes Licht" für "Stuttgart 21", woraufhin im Jahr 2009 eine entsprechende Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund, Land und Bahn geschlossen wird. An Einspruchsmöglichkeiten bestand also gerade bei diesem Projekt kein Mangel und sie wurden auch ausgeschöpft. Deshalb darf das Vorhaben juristische und demokratische Legitimation für sich beanspruchen - auch wenn es keinen Plebiszit dazu gegeben hat.

Deshalb müssen sich jetzt auch die Projektgegner fragen, ob sie tatsächlich Volkes Willen vertreten. Lautstärke ist jedenfalls weder ein Argument noch Ausdruck von Mehrheitsverhältnissen. Ohne Frage sind die Proteste auch Instrument im Wahlkampf, denn am 27. März 2011 wird in Baden-Württemberg über die Zusammensetzung des Landtags abgestimmt. Daher können die aktuellen Ereignisse der amtierenden Landesregierung nicht gefallen. Dennoch besteht für eine neuerliche Überprüfung des Vorhabens oder gar einen Volksentscheid im Ländle keine Grundlage. Nicht zuletzt hat der Bauherr, die Deutsche Bahn, eine rechtskräftige Baugenehmigung. Würde diese jetzt infrage gestellt oder widerrufen, drohen dem Land und damit dem Steuerzahler Schadenersatzforderungen, die von der Landesregierung auf 600 Millionen bis 1,4 Milliarden Euro beziffert werden. Zudem müsste eine Alternativstrecke gefunden werden, um die europäischen Verpflichtungen zu erfüllen.

"Stuttgart 21" ist beileibe kein Sonderfall. Vielmehr beansprucht das Volk immer häufiger, bei städtebaulichen Entscheidungen direkt gefragt zu werden - ob es um den Verkauf von Sozialwohnungen in Heidelberg, den Bau einer Konzerthalle in Freiburg, ein neues Einkaufszentrum in Plauen oder wie jüngst um den Bau eines Möbelhauses in Hamburg geht. Doch selbst wenn eine Mehrheit ein Vorhaben befürwortet, können sich Bauherr, Projektentwickler und Kommune der medialen Meinungshoheit nicht sicher sein, wie jüngst der Shoppingcenter-Entwickler MfI erfahren musste, als in Leipzig ein altes Kaufhaus einem neuen weichen sollte. Angeblich um einen kulturhistorischen Frevel zu verhindern, hatte sich ein Radiomoderator an die Reste der alten Sandsteinfassade gekettet. Unter Denkmalschutz steht jedoch die davorgehängte Aluminiumfassade, die bereits abgenommen war und wieder in der ursprünglichen Form angebracht werden soll.

Die Beispiele machen deutlich: Immobilien genießen stets die öffentliche Wahrnehmung. Als solche können sie auch polarisieren. Aufgabe der Politik, aber vor allem auch der Immobilienwirtschaft muss es sein, städtebauliche und infrastrukturelle Vorhaben bürgernäher zu kommunizieren. Im Fall von "Stuttgart 21" ist das ganz offensichtlich nicht gelungen oder zu wenig versucht worden. Daraus gilt es Lehren zu ziehen. So rufen baden-württembergische und bayerische Kommunen immer öfter ihre Bürger an die Urnen. Dies mag zwar die Akzeptanz eines Projektes vor dessen Realisierung erhöhen, doch steigen dadurch auch die Kosten und zeitlichen Risiken für Investoren. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass anfangs hoch umstrittene Bauvorhaben mit dem Baufortschritt und der Betriebsdauer besser akzeptiert werden. Oftmals entsteht sogar Zuneigung. L. H.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X