Redaktionsgespräch mit Martin Moryson

"Die Globalisierung hat immer noch sehr viele Freunde im asiatischen Raum"

Dr. Martin Moryson, Foto: DWS International GmbH

Nicht nur der Chefvolkswirt der DWS ist der Ansicht, dass wir in wirklich außergewöhnlichen Zeiten leben. Nach Donald Trump und der Pandemie sieht Moryson nun im Ukraine-Krieg bereits den dritten Rückschlag hintereinander für die Globalisierung. Die extremen Ausschläge der Rohstoffmärkte schätzt er vor diesem Hintergrund eher weniger als Marktstörungen ein. Dennoch erwartet er zwar ein weiterhin erhöhtes Niveau der Inflationsraten, aber er rechnet nicht mit einem deutlichen weiteren Anstieg. Bei den Energierohstoffen hingegen rechnet er auch aus strukturellen Gründen damit, dass uns dort die hohen Preise noch sehr lange begleiten werden. Allerdings hält Moryson es für möglich, dass dies eine positive Wirkung auf die deutsche Wirtschaft entfalten könne, da diese schon jetzt deutlich energieeffizienter produziere als andere Länder. Im Westen habe die Globalisierung zwar viele Freunde verloren, aber vor allem in Asien habe diese weiterhin viele Anhänger. (Red.)

Herr Moryson, schon zu Beginn der Pandemiezeiten gab es Kapriolen am Rohstoffmarkt. Der Future-Preis für Öl war kurze Zeit sogar negativ! Nun durch die russische Invasion gab es die Verwerfungen auch auf anderen Rohstoffmärkten. Am 8. März 2022 stieg der Nickelpreis innerhalb kürzester Zeit um mehr als 100 Prozent. Sind die Rohstoffmärkte dysfunktional geworden und den Herausforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen? Oder wird sich das alles wieder einpendeln?

Es sind wirklich außergewöhnliche Zeiten. Wir haben nun den dritten Rückschlag in Folge für die Globalisierung: Erst Donald Trump, dann kam Corona und nun der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dass Märkte darauf empfindlich reagieren, ist im Grunde wenig überraschend. Bei vielen dieser Märkte ist es so, dass man sich daran gewöhnt hat, dass die Waren eben einfach so fließen und mehr oder weniger zu Grenzkosten angeboten und produziert werden.

Nun werden in Zeiten von Knappheit sehr hohe Preise aufgerufen, weil die Nachfrager die Güter im wahrsten Sinne des Wortes um jeden Preis haben wollen. Dass die Märkte deswegen dysfunktional geworden sind, das würde ich jetzt nicht unbedingt sagen. Hohe Preise haben ja auch eine Berechtigung und eine Signalwirkung. Sie zeigen tatsächlich existierende, sich abzeichnende oder zumindest befürchtete Knappheiten und lenken dann auch die Produktion dahin mehr in diesen Bereichen zu produzieren. Hohe Preise sind deshalb für sich genommen zunächst einmal nicht unmittelbar das Problem.

Hohe Preise sind ja die eine Seite, aber wir hatten beim Öl eine Zeit lang ja sogar negative Futures-Preise. Das spricht doch schon eher für eine Marktstörung, oder?

Eine Marktstörung würde ich das jetzt nicht nennen. Das war eine sehr spezifische Situation, die sich auf den Ort Cushing, Texas, bezieht, wo das Öl nur in eine Richtung fließen kann. Und weil man an dieser Stelle zu geringe Lagerkapazitäten hatte, gab es diesen kurzzeitig negativen Ölpreis. Gegen eine Marktstörung spricht auch, dass der Preis für Öl der Sorte Brent - und viele andere Rohölpreise ebenfalls - nicht negativ war. Es herrschte in Cushing aus den angesprochenen Gründen "Not am Mann", das Öl auch unterzubringen. Dadurch entstand der negative Preis, was in diesem Fall auch gerechtfertigt war. Allerdings muss ich zugeben, dass die Situation alle - mich eingeschlossen - überrascht hat. Negative Zinsen konnte man sich ja lange Zeit auch nicht vorstellen, einen negativen Ölpreis konnte ich mir zuvor noch weniger vorstellen.

Wie können sich Unternehmen gegen solche Preisextreme schützen?

Es gibt jede Menge Möglichkeiten, sich gegen solche Preisschwankungen abzusichern. Da bieten die Finanzmärkte ja vielfältige Optionen an. Wogegen man sich natürlich nicht absichern kann, ist ein dauerhafter Anstieg der Ölpreise. Früher oder später erwischt es einen dann eben doch. Dann hilft tatsächlich nur, bei den Einkäufen breit zu diversifizieren. Zudem ist auch ein gutes Risikomanagement sehr wichtig. Dieses wiederum besteht im zeitlichen Strecken von solchen Preiseffekten. Einen generellen Anstieg des Ölpreises beispielsweise von 40 auf 100 US-Dollar wird man allerdings nicht dauerhaft bei 40 US-Dollar begrenzen können. Aber man kann die Auswirkung abpuffern, indem man die Preiserhöhungen zeitlich verteilt und bilanziell geschickt behandelt. Es gibt da eine Reihe von Möglichkeiten, was Unternehmen tun können. Ansonsten müssen Unternehmen sehen, dass sie die gestiegenen Kosten an die Kunden weitergeben.

Rechnen Sie denn mit dauerhaften Anstiegen bei den Rohstoffpreisen - nicht nur Öl auch bei anderen Rohstoffen?

Wir haben schon einiges an Preisanstiegen gesehen. Insofern bin ich zurückhaltend bei der Prognose weiterer Preisanstiege. Eine Sondersituation gibt es aber bei den Energierohstoffen. Bei ihnen werden uns die hohen Preise wohl sehr lange begleiten. Auch die Forwards signalisieren hier, dass es nicht deutlich billiger werden wird. Man muss einfach sehen, wenn die Märkte so stark in der Backwardation sind - also die zukünftigen Preise viel niedriger als die aktuellen sind - dann heißt das ja nicht, dass es in Zukunft reichlich Angebot gibt. Die Aussage ist eigentlich die umgekehrte: Wegen der Knappheit will jeder den Rohstoff lieber heute als morgen haben und ist daher bereit, heute viel mehr zu bezahlen als morgen. Zudem gibt es strukturelle Gründe, warum die Energiepreise zumindest für eine gewisse Zeit deutlich erhöht bleiben dürften.

Damit meinen Sie die nachhaltige Transformation der Gesellschaft?

Richtig. Für den Verbraucher lässt sich das in zwei Effekte zerlegen. Einerseits werden CO2-Abgaben und Umweltauflagen zunehmen und somit die Preise für Energie erhöhen, vor allem für Energie aus fossilen Brennstoffen. Das ist der gewollte Effekt. Der andere Effekt, den wir aktuell beobachten und der auch etwas heftiger ist, als man das erwartet hatte, besteht darin, dass sich Investitionen in Infrastrukturprojekte jetzt viel schneller amortisieren müssen. Was meine ich damit? Ganz langfristig wird Öl sehr viel billiger werden, weil es kaum noch jemand brauchen wird. Die Produktionskosten werden nicht besonders steigen, aber der Verbrauch wird drastisch zurückgehen, weil wir ja aus Klimaschutzgründen keine fossilen Brennstoffe mehr verwenden wollen. Deshalb wird etwa bis zum Jahr 2045 beziehungsweise 2050 - zu der Zeit, zu der Net-Zero angestrebt wird - Öl sehr viel billiger sein als heute.

Früher haben Investitionen in die Exploration neuer Felder, in neue Gaspipelines oder LNG-Terminals, Jahrzehnte gehalten und sich dadurch auch über Jahrzehnte amortisiert. Jetzt ist aber klar, dass man die LNG-Terminals, die neu gebaut werden sollen, nicht lange brauchen wird. Wir streben ja an, uns möglichst schnell von den fossilen Brennstoffen zu verabschieden. Also wird es für die nächsten paar Jahre so sein, dass die Amortisation über einen sehr viel kürzeren Zeitraum stattfinden muss - und das kann nur gelingen, wenn der Preis sehr hoch ist.

Was kann und muss unsere Regierung tun, damit unsere Wirtschaft autarker wird, zumindest bei Vorprodukten. Bei Rohstoffen wäre das ja quasi unmöglich ...?

Stimmt, bei Rohstoffen ist das in weiten Teilen unmöglich. Da hilft nur das, was jetzt auch alle anstreben: eine größere Diversifikation bei den Lieferanten. Zudem sollten wir uns etwas unabhängiger machen. Aber das ist ohnehin im Rahmen von Umweltschutzzielen schon geplant. Eine andere Frage ist, was die Bundesregierung tun kann, um die Verbraucher zu schützen? Da muss man zunächst unterscheiden. Man kann einen solchen Preiseffekt immer in zwei Teileffekte zerlegen: den Einkommenseffekt und den Substitutionseffekt. Wenn ein Produkt deutlich teurer wird, dann kauft man davon eben weniger, weil es relativ teurer ist. Das ist der sogenannte Substitutionseffekt, den man haben will.

Zugleich ist man natürlich auch ein Stück weit ärmer, wie wir alle gerade durch die starke Inflation erleben. Das Einkommen ist weniger wert als vorher. Das ist der sogenannte Einkommenseffekt. Weil Energie so viel teurer wird, kann ich mir nicht mehr das Gleiche leisten wie vorher. Diesen Einkommenseffekt will man, wenn es um die Umwelt geht, eigentlich nicht haben. Deshalb ist es sinnvoll, den privaten Haushalten die Mehrkosten zu erstatten. Aber dabei ist es ganz wichtig, dies nicht in Abhängigkeit vom Verbrauch zu machen, weil dann der Substitutionseffekt wieder komplett weg wäre. Das Geld sollte vielmehr pauschal verteilt werden.

Etwas anders verhält sich die Sache jetzt mit Russland. Denn da sind wir nun mal alle ärmer geworden. Bei uns spielt sich das zwar noch auf einem erträglichen Niveau ab, aber in anderen Ländern ist das zum Teil schon dramatisch, gerade im Hinblick auf die Lebensmittelpreise. Das ist dann eher eine soziale Frage. Da sollte es nicht darum gehen, ob der Staat einen Tankrabatt verteilen sollte. Das ist volkswirtschaftlich kompletter Unfug. Wenn man Armut bekämpfen möchte, hilft es oft am meisten, armen Menschen Geld zu geben. Ein Tankrabatt dagegen hilft nicht armen Leuten, sondern Autofahrern.

Jetzt haben wir vor allem über Energierohstoffe und Nahrungsmittel gesprochen. Wie sieht es aber bei anderen Rohstoffen wie den wichtigen Industriemetallen aus? Sind die überhaupt aus Regionen zu bekommen, die nicht von diktatorischen Unrechtsregimen geführt werden? Oder hilft da auch nur Verzicht?

Es ist ein interessantes Phänomen, dass viele Rohstoffe bei Diktaturen liegen. Das ist kein Zufall. Unser ehemaliger Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat, als er noch beim Internationalen Währungsfonds war, ein schönes Paper dazu geschrieben: "Does mother nature corrupt?" Es ist tatsächlich ein zu beobachtendes Phänomen, dass Reichtum an Rohstoffen tendenziell Kleptokratien Vorschub leistet, weil man die Vorkommen eben ausbeuten kann - Windfall Profits sozusagen. Insofern ist es tatsächlich so, dass man beispielsweise bei Erdöl sehr oft in Diktaturen landet - die USA sind da eine große Ausnahme. Ansonsten hilft tatsächlich nur Diversifikation, soweit es eben geht.

Welchen Impact hätte ein Energierohstoffembargo gegen Russland für die deutsche Wirtschaft - insbesondere beim für die deutsche Wirtschaft so wichtigen Erdgas? In welchen Dimensionen würde das BIP ausgebremst werden?

Die Frage ist Gegenstand zahlreicher Debatten und Prognosen. Man muss dabei unterscheiden: Handelt es sich um ein Exportstopp vonseiten Russlands oder ein Importembargo vonseiten der EU. Wenn Russland jetzt sofort, unmittelbar und ohne weitere Vorbereitung die Gaslieferungen einstellt, hätte das sicherlich größere Auswirkungen, als wenn die Europäische Union im Laufe der Zeit entscheidet das zu tun. Der Hintergedanke dabei ist, dass man nur ein solches Embargo verhängen will, das Putin und Russland mehr schadet als den Europäern und das auch nachhaltig durchzuhalten ist. Hier zeichnet sich ab, dass ein Embargo von europäischer Seite nicht so schnell kommen wird, sondern erst dann, wenn es auch machbar ist. Ein Kohleembargo wurde ja bereits beschlossen. Bei Öl wird noch verhandelt. Da halte ich es aber auch für durchaus realistisch, dass dies in absehbarer Zeit noch kommt.

Bei Gas versucht jeder, so schnell wie es geht unabhängig davon zu werden. Unser Wirtschaftsminister hat ja schon gesagt, dass er in - so glaube ich hat er es genannt - in Tesla-Geschwindigkeit handeln will. Schon 2023 soll das LNG-Terminal in Brunsbüttel lieferfähig sein. Liquid Natural Gas (LNG) wird aber nicht ausreichen, um das russische Gas vollständig zu substituieren. Dafür ist es einfach zu viel. Man muss ja aber auch nicht immer über ein vollständiges Embargo nachdenken. Ich persönlich hielte (prohibitiv) hohe Importzölle für viel geeigneter. Bei einem Embargo steigen die Preise und Putin profitiert noch in gewissem Sinne davon. Wenn die EU hohe Zölle erhebt, steigen die Preise ebenfalls, aber der "Ertrag" landet dann eben nicht bei Putin, sondern in der EU-Kasse. Das halte ich persönlich für die intelligentere Lösung.

Nun zu Ihrer eigentlichen Frage: Wenn es tatsächlich zu einem Embargo kommt, gehen die Schätzungen da doch sehr weit auseinander. Einige vermuten einen eher geringen Impact, andere doch eher sehr deutliche Auswirkungen. Die Bundesbank zum Beispiel rechnet für Deutschland mit einem Abschlag von 5,1 Prozent gegenüber dem Normalszenario. Das ist eine ganze Menge. Ich persönlich glaube, dass man das zugleich über- und unterschätzt. Warum? Die Tiefe ist an der einen oder anderen Stelle möglicherweise überschätzt, weil es doch viele Substitutionsmöglichkeiten gibt. Hohe Preise haben auch immer eine Signalwirkung und machen erfinderisch. Während der Pandemie hatten anfänglich auch alle gesagt, "die Wirtschaft kollabiert total" und plötzlich gingen doch viele Dinge, die bislang nicht möglich waren. Man konnte in Deutschland plötzlich nahezu überall mit Kreditkarte bezahlen, Restaurants haben angefangen Essen auszuliefern et cetera. Es gab sehr viel Innovationen. Ich kann mir deshalb vorstellen, dass der Einbruch an der einen oder anderen Stelle gar nicht so tief sein wird.

Die Industrie wird ein Energieembargo in Teilen sehr hart treffen. Das steht völlig außer Frage. Man darf aber nicht vergessen, dass Deutschland mittlerweile einen sehr hohen Dienstleistungsanteil hat und dass viele Dienstleistungen von so einem Embargo nicht betroffen wären. Der Sachverständigenrat hat drei bis fünf Prozent für Deutschland geschätzt, das halte ich für realistisch. Die EU insgesamt wäre sicher etwas weniger betroffen, weil nicht alle Länder so stark vom russischen Gas abhängig sind wie Deutschland.

Selbst der Beinahe-Kanzlerkandidat Habeck bringt eine Verlängerung der Kohlekraft ins Spiel. Natürlich nur als Übergangslösung, bis wir Alternativen haben. Ist die Wirtschaft doch wichtiger als das Klima?

Das ist ja wirklich als vorübergehende Maßnahme gedacht. Wir leben in exzeptionellen Zeiten und man muss, wenn man ein solches Embargo aussprechen will, dafür sorgen, dass es in der Bevölkerung den notwendigen Rückhalt gibt. Das ist ja der Vorteil einer Demokratie: Wenn etwas beschlossen ist, gibt es eben auch den Rückhalt in der Bevölkerung. Dafür muss man aber als Politiker sorgen und kann nicht wie Putin belügen und betrügen. Ich würde deshalb sagen, dass nicht die Wirtschaft wichtiger ist als die Umwelt, sondern dass die Freiheit Europas in dieser großen geopolitischen Krise kurzfristig wichtiger ist als der Klimaschutz. Zudem wäre der Eingriff in den Klimaschutz ja auch zeitlich beschränkt. Es würde sich ja nicht um die Rückkehr zur Kohleenergie handeln, sondern um eine vorübergehende Wiederaufnahme.

Welche Auswirkungen, neben der Preistreiberei, wird diese Entwicklung noch auf die deutsche Wirtschaft haben? Wird es strukturelle Auswirkungen geben?

Auf jeden Fall. Ich glaube, es ist eine Mammutaufgabe, vor der die deutsche Wirtschaft und insbesondere die Industrie steht. Wie vorhin schon erwähnt, hat die Globalisierung schon drei Rückschläge hinnehmen müssen. Das geht an niemandem spurlos vorbei. Kurt Tucholsky hat schon vor gut 100 Jahren gesagt: "Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten." Das gilt immer noch. Lange Zeit gab es die Hoffnung, dass diese starke Verflechtung zu Frieden führt und Kriege sozusagen unmöglich macht.

Jetzt ist die Haltung eher die, dass man durch die Verflechtung in Kriegen nicht so agieren kann, wie man gerne würde, weil man derart abhängig voneinander ist. Das gilt nicht nur für den deutschen Staat, sondern auch für sehr viele Unternehmen. Ich denke in jedem Unternehmen werden jetzt Maßnahmen getroffen, die weggehen von der Just-in-time-Produktion. Es wird wieder mehr auf Vorräte gesetzt werden und diversifiziert werden, neue Lieferwege werden erarbeitet werden et cetera. Das Risikomanagement ist an dieser Stelle sehr gefordert. Da wird ein riesenhafter Umbau in Gang kommen. Dazu kommt dann auch noch die gesamte Transformation wegen des Klimawandels. Es ist eine riesige Herausforderung, vor der die Wirtschaft steht. Das wird uns über sehr viele Jahre beschäftigen.

Leiten die Verwerfungen das Ende der Globalisierung ein oder wird diese nur neu aufgestellt?

Das ist eine sehr interessante Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist. Nach wie vor wird bei solchen Ereignissen oft der kurzfristige Effekt überschätzt und der langfristige Effekt etwas unterschätzt. Kurzfristig muss man sagen: Der Welthandel läuft. Wenn man sich die Prognosen des Internationalen Währungsfonds anschaut, dann ist es immer noch so, dass der Welthandel stärker zunimmt als das Welt-BIP. Der Containerumschlag und weitere Zahlen sind auf einem sehr ordentlichen Niveau. Der Welthandel ist auf dem höchsten Stand aller Zeiten - real gerechnet, nicht nur nominal. Er legt also kontinuierlich zu. In einzelnen Jahren zwar auch mal weniger als das BIP, doch das ist jedoch schon seit einiger Zeit so. Insofern würde ich sagen, wir haben einen Peak der Globalisierung, in dem Sinne, dass die Zuwachsraten nicht mehr so hoch ausfallen werden wie in der Vergangenheit. Das ist Punkt eins.

Punkt zwei: Die Globalisierung hat eine Menge Freunde verloren, vor allen Dingen in den westlichen Ländern. Donald Trump hat ja auch das an sich wohl durchdachte TTP seines Vorgängers Barack Obama scheitern lassen. Der Gedanke dabei war, eine transpazifische Handelsordnung ohne China aufzubauen, damit China dann später zu Bedingungen beitreten kann, die die anderen Länder ausgehandelt haben. Das hat nicht funktioniert. Das transatlantische Handelsabkommen ist ebenfalls in der Schwebe. Jetzt mit Joe Biden könnten die Verhandlungen wieder aufgenommen werden.

Was man aber auch sehen muss: Die Globalisierung hat immer noch sehr viele Freunde im asiatischen Raum. Das Recent Comprehensive Economic Partnership (RCEP) wird allein schon wegen des Bevölkerungswachstums in der Region und des BIP-Wachstums in China die größte Freihandelszone der Welt werden. Da sieht man dann doch, dass die Globalisierung weiterhin Freunde hat - wenn man die Globalisierung auf den Freihandel beschränkt. Das sollte man aber nicht tun. Globalisierung ist viel mehr als nur Freihandel. Es gehört beispielswiese auch der freie Austausch von Informationen dazu. Da ist die Entwicklung umgekehrt. Da hat die Globalisierung sehr viele Freunde im Westen. Jeder ist hier für freien Meinungsaustausch. Das ist in den Diktaturen dieser Welt natürlich nicht der Fall.

Dann kommt noch ein dritter Aspekt der Globalisierung hinzu: die Migration, die ein wesentlicher Teil der Globalisierung ist. Letztlich müssen die Arbeit und die Menschen zusammenkommen. Das kann man über Freihandel erreichen. Wenn man jetzt auf weniger Freihandel setzt, wenn man also überlegt, wieder mehr Produktion zurückzuholen, beispielsweise von strategischen pharmazeutischen und medizinischen Produkten, dann braucht man eben auch Arbeitskräfte, an denen wir hierzulande einen Mangel haben. Das würde dann also Migration nach sich ziehen. Es wird oft darüber geredet, wie komplex das in Europa ist. Ich würde das aber eher positiv sehen. Man sieht ja, mit welchen offenen Armen die Menschen aus der Ukraine hier aufgenommen werden. Auch zu Beginn der Flüchtlingskrise herrschte eine ähnliche Stimmung. Da sieht man doch, dass Einigkeit herrscht, dass wir mehr Leute brauchen. Dass die Leute zu uns fliehen und nicht nach Russland oder China, das hat ja auch gute Gründe. Daran zeigt sich, dass das westliche Betriebssystem aus Demokratie, Freiheit und Kapitalismus - und dazu zählt dann auch noch Globalisierung - doch noch sehr viele Anhänger hat.

Könnte es sein, dass der enorme Druck auf die Unternehmen einen Innovationssprung auslöst, der zu viel mehr Ressourceneffizienz führt und am Ende sogar den Kampf gegen den Klimawandel schneller voranbringt, als das ohne diesen Krieg je möglich gewesen wäre?

Eindeutig ja. Hohe Preise haben ihre Berechtigung und ihren Sinn. Es gibt sogar Berechnungen, die zeigen, dass bei dauerhaft für alle steigenden Energiepreisen die deutsche Wirtschaft sogar profitieren würde - zumindest bei singulärer Betrachtung der Preiseffekte, ohne Betrachtung der Nachfrage- und weiterer Effekte. Warum? Weil die deutsche Wirtschaft energieeffizienter produziert als viele andere Länder. Das wiederum würde unter den wie erwähnt restriktiven Annahmen dazu führen, dass mehr Produkte bei uns ankommen. Insgesamt erwarte ich schon, dass die Energieeffizienz dadurch steigt. Aber ich erwarte ehrlich gesagt dadurch keine Sonderkonjunktur für die deutsche Wirtschaft.

Die ganzen angesprochenen Entwicklungen mit steigenden Preisen, dem Streben nach mehr Autarkie mit dem (Wieder-)Aufbau von Lagerhaltung und Repatriierung von Produktion, was den Druck auf die Preise zusätzlich erhöhen wird et cetera: Werden die Kapitalmärkte, auch und vor allem in Anbetracht der nahenden Zinswende, dauerhaft darunter leiden?

Wir haben es mit dem Klimawandel zu tun, die demografische Entwicklung belastet - zwar etwas abgemildert durch Migration, aber nicht vollständig kompensiert. Deutschland verliert auf die kommenden zehn Jahre jedes Jahr ungefähr ein Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Also gibt es auch von dieser Seite Inflationsdruck. Die Inflationstendenzen werden also bleiben oder sich gar verstärken, wenngleich nicht mit noch höheren Inflationsraten zu rechnen ist. Vielleicht könnten diese in den nächsten zwei bis drei Monaten noch steigen, dann treten aber auch Basiseffekte ein, sodass wir davon ausgehen, dass die Inflationsraten sukzessive wieder sinken werden. Aber natürlich nicht auf ein Vorkrisenniveau, sondern weit oberhalb des EZB-Ziels.

Die EZB wird darauf reagieren müssen. Natürlich wird das auch Auswirkungen auf die Kapitalmärkte haben. Gerade Unternehmen, bei denen die Gewinne weit in der Zukunft liegen, sind stark betroffen, da der Diskontierungsfaktor größer wird. Wir rechnen aber damit, dass die Aktienmärkte in den kommenden zehn Jahren Renditen von rund 5,5 Prozent abwerfen werden, damit schlagen sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Inflation der kommenden Dekade. So schlecht sind die Aussichten also nicht.

Dr. Martin Moryson , Chefvolkswirt Europa , DWS Investment GmbH, Frankfurt am Main
Noch keine Bewertungen vorhanden


X