Abhängigkeiten reduzieren!

Carsten Englert Redakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Da dürften sich nahezu alle einig sein: Wir leben in exzeptionellen Zeiten, die vieles verändern werden. Vor allem die Wirtschaftswelt steht vor einschneidenden Veränderungen. Die Globalisierung hat mit Donald Trump, der Pandemie und nun dem illegalen Angriffskrieg der Russen gleich drei heftige Nackenschläge hintereinander bekommen. Gestörte Lieferketten und (nicht nur) dadurch explodierende Preise und Versorgungsengpässe wühlen die Wirtschaft und in Folge die gesamte Gesellschaft auf. Quer durch alle Institutionen und Schichten wird die Systemfrage gestellt. Muss sich die Gesellschaft und vor allem die Wirtschaft neu ordnen, um den Problemen der aktuellen Zeit Herr werden zu können?

Doch zunächst gilt es auch erst mal ganz akut das dringendste Problem zu lösen, möglichst ohne dabei den inflationären Schock weiter anzuheizen: den Ukraine-Krieg. Auch wenn Russland militärisch nicht vorankommt und zumindest gerüchteweise die Macht Putins im Kreml bröckelt, ist der Krieg drei Monate nach Beginn der russischen Invasion weiter voll im Gange. Die Europäische Union ringt immer noch um ein Öl- und Gasembargo. Letzteres liegt in noch viel weiterer Ferne, da hier die Abhängigkeit von Russland noch größer ist. Das ist übrigens eines der wichtigsten Schlagworte bei der Diskussion, wie sich die ökonomische Welt ändern muss: Abhängigkeit. Doch dazu später mehr.

Das Ölembargo wird in der Europäischen Union derzeit durch ein Veto Ungarns blockiert. Ein Gasembargo wird sowieso grundsätzlich erst für einen fernen Zeitraum diskutiert, weil hier die "Eigenschmerzen" aktuell noch viel zu groß wären. Doch es stellt sich die Frage, ob Embargos überhaupt so sinnvoll sind? Die Idee hinter dem Embargo: Russland soll durch die fehlenden Einnahmen geschwächt werden und die wichtigste Devisenquelle ausgetrocknet werden. Krieg ist teuer. Doch was in Europa bei dieser Diskussion gerne übersehen wird: Dieses Ziel wird gar nicht erreicht! Aus Sorge um einen Angebotsschock haben die Preise für Öl- und Gas seit Beginn des Angriffskriegs mit deutlichen Anstiegen reagiert. So ist der Ölpreis seit dem 23. Februar 2022 um fast 15 Prozent gestiegen - in der Spitze waren es fast 45 Prozent. Der Futures-Preis für Erdgas (Henry Hub Natural Gas Futures) ist sogar um beinahe 90 Prozent angestiegen.

Das Problem: Die USA und Europa, die zuvorderst an der Sanktionsfront zu finden sind, stehen nur für einen Bruchteil der Weltbevölkerung. Indien hat im großen Stil Öl von Russland gekauft. China steht sowieso vollständig hinter Russland und dürfte auch herzlich wenig auf ein Öl- und Gasembargo gegen Russland geben. Beide zusammen stehen für fast drei Milliarden Menschen, die EU und USA haben zusammen nicht mal eine Milliarde Einwohner. Die Folge: Putin verdient derzeit eher mehr als vorher. Fatih Birol, Chefökonom der Internationalen Energieagentur IEA, hat in einem Interview auf Bloomberg TV gesagt, dass die Öl- und Gasumsätze Russlands in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres um 50 Prozent gestiegen sind. Auch wenn nun das Öl- oder sogar das Gasembargo kommen sollten, besteht zu befürchten, dass die Ausweichabnehmer - zu dann nochmals gestiegenen Preisen - ausreichen, um das zu (über-)kompensieren. Ein zweischneidiges Schwert also, das nur auf der Seite richtig scharf ist, die in das eigene Fleisch schneidet.

Doch es gibt auch andere Ideen. So hat Martin Moryson, Chefvolkswirt Europa bei der DWS, im Redaktionsgespräch (siehe Seite 20) den Vorschlag geäußert, dass die EU stattdessen (prohibitiv) hohe Importzölle auf russisches Gas und Öl einführen könnte. Auch diese hätten den Effekt, dass die Preise deutlich steigen und weniger nachgefragt und somit auch verkauft wird. Der Unterschied: Der "Ertrag" durch höhere Preise würde von der Europäischen Union abgeschöpft und nicht von Putin. Ein zumindest diskussionswürdiger Vorschlag! Kommen wir nun zu der Frage, wie es langfristig weitergehen kann und muss. An ganz prominenter Stelle wurde die Frage nach einer neuen Wirtschaftsordnung auch zwischen dem 22. und 26. Mai 2022 in Davos auf dem World Economic Forum diskutiert. Geschichte am Wendepunkt - unter diesem Motto traf sich die Weltelite in dem kleinen Schweizer Ort zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie. Sehr oft - nicht nur in Davos - fällt in der Diskussion das Stichwort der Deglobalisierung. Doch wäre das wirklich die richtige Reaktion?

Fakt ist, viele Menschen sind enttäuscht von der Globalisierung. Den versprochenen und auch erzielten Wohlstandszuwachs fressen gerade die inflationären Schockwellen in weiten Teilen wieder auf und auch die Versorgung mit Gütern stockt in einem Maße, wie es über Jahrzehnte eigentlich nicht mehr vorstellbar war. Doch diese dann gleich beenden? Ein Schritt, vor dem auch unser Wirtschaftsminister Robert Habeck warnt. In seiner Rede in Davos sagt er "es wäre dabei falsch, die Antwort auf die Krise in einer Deglobalisierung zu suchen (siehe Seite 12)". Er sieht die Gefahr von Rückzug, Abschottung und Nationalismus. Allerdings sehen nicht wenige die Ursache für zuletzt wieder zunehmenden Nationalismus eben genau in der Globalisierung.

Dennoch: Eine Abkehr von der Globalisierung wäre fatal, vor allem für uns Europäer mit den vielen exportorientierten Unternehmen und Ländern. Wie die Zahlen auf Seite 10 in der Rubrik "Daten & Fakten" zeigen, wird sich die globale Rangfolge der größten Wirtschaftsnationen/Wirtschaftsräume ändern. Um das Jahr 2030 ist (unter der Annahme, dass China weiterhin deutlich stärker wächst als die USA) damit zu rechnen, dass China die USA beim Bruttoinlandsprodukt überholen wird und damit zur größten Wirtschaftsmacht der Welt werden wird. Im Jahr 2016 waren die Eurozone und China noch gleichauf.

Nach den Prognosen des Internationalen Währungsfonds wird die chinesische Wirtschaftsleistung im Jahr 2026 gut 54 Prozent beziehungsweise fast zehn Billionen US-Dollar über der des Euroraums liegen. Da Europa über einen viel kleineren Binnenmarkt verfügt, würde bei einer Rückabwicklung der Globalisierung der alte Kontinent ökonomisch in der Bedeutungslosigkeit versinken. Ein möglichst freier Welthandel ist für die Europäer also alternativlos!

Aber ein Weiter-so wie bisher ist eben auch keine Option. In einem Punkt herrscht daher große Einigkeit: Die Abhängigkeit von einzelnen antidemokratischen und autokratischen Regionen muss sinken! Das Zauberwort heißt hier Diversifikation - das sah auch Robert Habeck in seiner Rede ähnlich. Es geht dabei nicht nur um die Diversifikation der Lieferketten, sondern auch von Rohstofflieferanten und Absatzmärkten.

Die Produktion strategisch wichtiger Vorprodukte wie Mikrochips muss in einem gewissen Maße autarker werden. Eine Abkehr von der Just-in-time-Produktion mit stärkerer Lagerhaltung kann zumindest eine gewisse Zeit lang mehr Resilienz gegen Lieferkettenstörungen bringen - allerdings auch um den Preis einer strukturellen Inflation, da die Produktionskosten dadurch steigen werden. Die nachhaltige Transformation hin zu einem immer höheren Anteil an erneuerbaren Energien gepaart mit noch größeren Energieeffizienzanstrengungen könnte zudem die Abhängigkeit von Rohstoffdiktaturen senken.

Das dringendste Gebot für Deutschland, aber auch für den Rest Europas muss allerdings auch heißen, deutlich unabhängiger vom Export nach China zu werden. China ist nach den USA zweitwichtigstes Exportland für Deutschland, Russland liegt hier nur auf Rang 14. Nicht wenige geopolitische und militärische Experten sehen das Säbelrasseln Chinas im südchinesischen Meer mit großer Sorge. Einige rechnen bereits in den nächsten Jahren damit, dass China versuchen wird, Taiwan zu annektieren.

Geschieht bis dahin nichts, verliert die Eurozone entweder die Glaubwürdigkeit oder die Strafmaßnahmen werden noch viel größere Eigenschmerzen verursachen als die Sanktionen gegen Russland. Daran ändert auch nichts, dass der US-Präsident Joe Biden nun in Japan im Gegensatz zum Ukraine-Konflikt für Taiwan explizit die militärische Option in den Sanktionswerkzeugkasten "gelegt" hat. Diese wäre am Ende noch viel schmerzhafter ...

Carsten Englert , Leitender Redakteur, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen , Fritz Knapp Verlag
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