Griechenland

Gegen das Primat der Politik?

Seit Jahren interpretiert Hans-Werner Sinn die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft als streitbare Einmischung in die gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Dabei begnügt er sich ganz bewusst nicht mit Stellungnahmen und Debatten in wissenschaftlichen Zirkeln, sondern ist stets bemüht seine Kernbotschaften auch der breiteren Öffentlichkeit nahezubringen - gerne auch in Talkshows und kurzen Statements für die Medien. Ob vor oder nach zentralen Weichenstellungen aus Berlin, Brüssel oder anderen politischen Zentren meldet er sich zeitnah aus dem Münchener Ifo-Institut zu Wort und wird nicht müde, aus seinem eigenen ökonomischen Blickwinkel die Wirkungen der politischen Entscheidungen zu beurteilen.

Dass seine Stimme auch in der jüngsten Debatte um den Umgang der neuen griechischen Regierung mit dem ausgehandelten Rettungsprogramm und den darin festgelegten Auflagen eine Rolle spielt, ist insofern geradezu selbstredend. Aber die Tonlage, mit der zuletzt eine Lagerbildung der Ökonomen für die eine oder andere Sicht der Dinge betrieben wurde, wird einer verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit dieser ganz entscheidenden Frage für eine gedeihliche Weiterentwicklung Europas nicht gerecht. "Zusätzliches Geld ist nichts als ein Schmerzmittel für die griechische Krankheit und trägt nicht zur Heilung bei." Zugegebenermaßen hat Sinn mit dieser Botschaft einmal mehr den jüngsten Beschluss der Euro-Finanzminister zu Griechenland in einer Tonlage kritisiert, die eine gewisse Angriffslust erkennen lässt und zu Widerspruch anregen mag. Aber in der Sache vertritt er damit genau die Argumentationslinie, die er schon wenige Tage vorher mitten in dem Entscheidungsprozess der EU-Finanzminister vor dem Internationalen Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten vorgetragen hatte: Griechenland wurde durch den Euro zu teuer und muss nun billiger werden, um seine Wettbewerbsfähigkeit zurückzuerlangen. Das geht nur durch den Austritt aus dem Euro und die Abwertung der Drachme.

In der Sache empfiehlt Sinn der griechischen Regierung, die Bedingungen für einen geordneten Austritt aus dem Euroraum auszuhandeln. Dazu rechnet er ein Moratorium zur Verringerung der Schulden des griechischen Staates, der Geschäftsbanken und der Notenbank. Ein Programm zur späteren Rückkehr in die Eurozone, wenn die nötigen Reformen umgesetzt sind und der Drachme-Kurs sein Gleichgewicht gefunden hat, will er ausdrücklich nicht ausschließen. Und gleichzeitig will er Griechenland als assoziatives Mitglied ohne Stimmrecht im Eurosystem halten. Auch ein Hilfsprogramm für die Anfangszeit zur Abmilderung der Preissteigerung, etwa bei medizinischen Importen, rechnet er zu seinem wünschenswerten Instrumentarium.

Unverändert skeptisch klingen hingegen seine Äußerungen zu der nun beschlossenen Fortsetzung des Rettungsprogramms unter modifizierten Bedingungen. Zwar sieht er darin für die griechische Regierung Zeit für das Aushandeln eines Nachfolgeprogramms. Aber aus seiner Sicht verschieben die Kredite der anderen Staaten die dringend notwendige Preisanpassung und verlagern "den Zeitpunkt für den Offenbarungseid nur noch weiter hinaus." Für die Steuerzahler Europas befürchtet er auf diese Weise noch höhere Lasten und warnt vor einer weiteren Verlängerung der Massenarbeitslosigkeit der griechischen Bevölkerung. Untermauert wird diese Auffassung durch eine nüchterne Bestandsaufnahme des griechischen Arbeitsmarktes. Seinen Zahlen nach liegt die Arbeitslosenquote in Griechenland momentan doppelt so hoch wie zu Beginn der ersten Grexit-Diskussion vor fünf Jahren. Und dabei veranschlagt er die Schulden Griechenlands bei der EZB und der Staatengemeinschaft inzwischen mit 263 Milliarden Euro oder 143 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung auf das Fünffache des damaligen Wertes. Sinns Zwischenfazit zur Griechenlandpolitik der EU fällt dementsprechend hart aus: "Das ist der untaugliche Versuch, die Gesetze der Ökonomie durch das Primat der Politik überwinden zu wollen. Die bisherige Rettungspolitik hat nicht funktioniert."

Man kann diesen Vorrang der Politik infrage stellen. Und man wird vor allen Dingen darüber streiten können, wie hoch der wirkliche Preis dafür ist, dass die derzeitige Geld-, Wirtschafts- und Finanzpolitik massiv die Steuerungsfunktion der Märkte einschränkt. Aber man sollte zur Schärfung der öffentlichen und politischen Meinungsbildung froh sein, wenn Professor Sinn weiterhin Bereitschaft zur Einmischung zeigt und andere Ökonomen ihm in angemessener Tonlage widersprechen.

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