Leitartikel

Aktiengesellschaften: 300 Jahre Schwindel

Voll des gewinnenden Lächelns sitzt der fein ergraute Chefhändler in seinem Meals-Morton-Sessel: "Hast Du Farben, musst Du nie darben", sagt er mit der Dax-Tabelle im Über-die-Brille-Blick. Die rechte Hand hält den Zigarillo mit Filter, die linke umspielt das Weißbierglas voller köstlicher Perlen. Und seine auffallend hübsche, jugendfrische Gefährtin, selbstverständlich promoviert, nickt freundlich dazu. Das ist sie, die eine gemeine Vorstellung vom Segen des Aktienwesens als lebenslanger Begleitung arrivierter Welt- und Weitsicht. Lebenslang muss es aber wohl doch sein. Rüdiger von Rosen als netter Protagonist der Angelegenheit hat die nötige Verweildauer für einigermaßen angemessene Dividendenrenditen soeben noch auf gute 15 Jahre verlängert. Man kann solche wunderbaren Preisungen zu Aktie und Aktiengesellschaften aber durchaus noch trefflich um mindestens zwei weitere polit-populäre Geschichten ergänzen.

Zum einen ist da die Sache mit dem unaufhaltsamen Aufstieg des tüchtigen Handwerksmeisters aus dem Sparkassenkredit (was sonst?! ) heraus. Immer größer ist sein Betrieb geworden, er beschäftigt beispielsweise längst auch zwei Fremdsprachenkorrespondentinnen Heidelberger Schule, und auf der Visitenkarte des Meisters steht nun "Fabrikant". Und weil der Schwiegersohn so drängelt, geht man leider - leider zur Deutschen Bank zwecks angemessenem Going Public. Die junge Aktiengesellschaft blüht wie die alte GmbH & Co KG. Die Aktionäre sind mit der Dividende in Höhe einer Volksbankausschüttung recht zufrieden. Der Kurs, nun ja, liegt manchen ein wenig zu stabil. Aber die Familie hält ja auch die knappe Mehrheit, das schafft Sicherheit. Und die Kapitalerhöhungen etwa im Vier-Jahres-Rhythmus haben Bezugsrechte, die man einfach loben muss. Alle Hauptversammlungen sind freundliche Routine. Es lebe der deutsche Mittelstand. Auf ansehnlichem Niveau.

Zum anderen schließlich noch die Endlich- die-Klassen-überspringende Erfindung der Volksaktien respektive Belegschaftsaktien. Ein ganzes Volk von Kleinaktionären, das hat einst Kanzler Ludwig Erhard, an dessen Büste im Ministerium seine Nachfolger als vermeintliche Wirtschaftsminister inzwischen etwas unsicher vorbeihuschen, im Zeichen des "Wohlstands für Alle" durchaus als möglich weil wünschenswert erachtet. Und auch die ersten Investmentgesellschaften in Nachbarschaft der Volksaktienidee zum Beispiel für VW, waren als breite Aktiensparpläne favorisiert. Die Belegschaftsaktien, die vor allem die katholische Soziallehre als eine Steigerung des Volksaktiengedankens in die Gewerkschaft schob, schürten die noch größere Illusion: Eine Wirtschaft, die den Wirtschaftenden zu gehören hatte. Aber der Mensch, der Homo oeconomicus wie der eins darunter, der ist wohl nicht so. Um von unten zu beginnen: Belegschaftsaktien sind viel weniger eine Beteiligung als ein spekulatives Bonusinstrument geworden. Investmentfonds, möglichst täglich ein neuer, entziehen sich mühelos dem menschlichen Verstand sobald ihr Programm gerechnet ist. Und die letzten Volksaktionäre, die schwören bei jedem neuen Blasenknall, "die Dinger" nun wirklich endlich zu verkaufen. Aktionäre, nein, die sind schrecklich überflüssig. Die Welt braucht - Investoren.

Eine beliebig herausgegriffene Meldung der letzten Tage liest sich dazu so: "Die Evonik-Eigentümer haben Gespräche mit bis zu 2000 Investoren geführt. In einem konzentrierten Durchgang (! ) sind dann noch einmal 60 große Investoren neu angesprochen worden. Sie hätten jedoch Abschläge von 25 Prozent verlangt - einfach zu niedrig. Als Bewertungsziel hatten die Eigentümer 15 Milliarden Euro angestrebt." Börsengang abgesagt. Die Vorgeschichte ist aber auch eine feine für das Wesen einer AG 2012. "Der Evonik-Eigner RAG hatte Ende 2005 die Degussa-Mehrheit übernommen und Eon für 42,9 Prozent Anteil 31,50 Euro je Aktie bezahlt. Für die noch in Streubesitz befindlichen sieben Prozent bot der Konzern 42 Euro je Aktie. 2003, als Eon der RAG eine Ruhrgas-Beteiligung abgekauft und im Gegenzug eine knappe Degussa-Mehrheit verkauft hatte, war bereits ein Vorkaufsrecht eingeräumt worden." Die Aktiengesellschaft als idealer Weg des Mittelständlers an den Kapitalmarkt? Wie lange würde Hoffenheim ohne SAP als Sponsor gegen Bayern Bundesliga sein? Der Privatbankier, der einst die unentwegt zitierte Sentenz "Aktionäre sind dumm und frech" ausstieß, weil dieselben erst ihr Geld hergäben und dann auch noch etwas dafür haben wollten, durfte wahrhaftig auf jahrhundertelange Erfahrung bauen. "Durch die Gründung einer Aktiengesellschaft können große Eigenkapitalbeträge aufgebracht werden, da eine Beteiligung bereits mit geringem Kapital möglich ist und die Organisationsform eine große Zahl von Eigentümern zulässt." So steht es im Lehrbuch. Aber das ist eben richtig falsch. Denn die schlechteste aller Börsenweisheiten beruht auf der höchst einfachen Erkenntnis, dass die Emission vorzugsweise das Kapital des Emittenten zu vermehren hat, wenn er mehr, viel mehr davon "zur Verfügung" (! ) haben will. Und "Eigenkapitalstärkungen", der Himmel schütze die Commerzbank, die nicht ausdrücklich für Expansion, Fusion et cetera angekündigt werden, muss ein Verdacht auf Notlagen anhaften.

Die erste AG überhaupt soll 1288 für den Betrieb einer schwedischen Kupfergrube gegründet worden sein; die ersten herkömmlichen Aktien waren die der "Allgemeinen Niederländischen Vereinigten Ostindischen Compagnie" 1602; die erste deutsche Aktiengesellschaft war die des Kurfürsten von Brandenburg als "Han-dels-Compagnie auf den Küsten von Guinea." Sie alle verliefen prinzipientreu: Die wissenden Investoren versprachen den unwissenden Anlegern furchtbar viel und furchtbar schnell Gewinn. Mehr nicht. Besonders anregend wird die Geschichte, wenn Hoheiten - siehe oben - oder einfach der Staat dem Prinzip folgen. Die rückblickend schönste Erinnerung darf hier aus fast aktuellem Anlass dem wohlbekannten "Südseeschwindel" gewidmet sein!

Anfang des 18. Jahrhunderts, genau 1711, bemerkte die Regierung Englands, dass sie zahlungsunfähig wurde. Das Volk mochte und mochte die "Staatsschuldenverschreibungen" nicht mehr kaufen. Also gründete man die "Südsee-Gesellschaft", übertrug ihr matte 32Millionen Pfund Staatsschulden und gab ihr die Konzession für den Handel mit den spanischen Häfen in Südamerika, glatt gelogen als Ergebnis unerhörter Verhandlungserfolge mit den dortigen Kolonialherren. Umrandet vom Geruch unermesslicher Schätze stieg der Aktienkurs von 100 auf 130 auf 300, auf 400 auf 500 Pfund - gezeichnet von Lords wie Lüstlingen aller Art. Das muss sehr ansteckend gewesen sein. Eine der Folgegründungen warb Tausende von Anleger mit der Ankündigung, den Geschäftszweck erst nach Zeichnung mitzuteilen (zitiert nach Helmut Böttiger). Der König eilte aus Hannover herbei, das Parlament forderte Bestrafung der Direktoren. "Doch diese stellten sich selber als einfache, ehrliche, hart arbeitende Menschen dar, die von einer Räuberbande ausgeplündert worden waren. Dass sie selber aktiver Teilhaber an dieser Zockerei waren; das wollten sie nicht wahrhaben. Einige wurden verurteilt, andere flohen ..."

Dreihundert Jahre Südsee-Schwindel und kein bisschen klüger geworden? Natürlich ist das eine unangemessene und somit falsche Bewertung dessen, was Aktien- und Börsenrecht "seitdem" geleistet haben, um glatten Betrug und sanfte Übervorteilung an und von Aktionären einzuschränken. Weil Derartiges aber auch nur von Porsche bis Facebook, vom Neuen Markt bis zu den Solargründungen offensichtlich niemals vollständig auszuschließen ist, hat sich eine Professionalisierung im Aktienwesen durchgesetzt: eben mit den neuen "Investoren".

Vom Grundsätzlichen her wollen sie das Gleiche wie der alte Aktionär. Siewollen möglichst schnell, möglichst viel Geld verdienen. Und just dieses müssen sie, weil sie ja nur höchst selten als unabhängige Milliardäre agieren, sondern vielmehr als eine Art von Auftragnehmern von, sagen wir, Kapitalsammelstellen aller Quellen. Sie stellen also Intermediäre dar, wie es früher vielleicht einmal die Banken gewesen sein mögen. Folgerichtig verkommen (oder auch avancieren) Börsengänge zu Marketingveranstaltungen mit besonderer Bevorzugung von Analysten, und mutieren Hauptversammlungen zu (vorher) notariell abgesegneter Vorstandsantworten auf Zwei-Minuten-Fragen. Ach, auch dieses noch: Die selbst börsennotierte Börse verliert mit Absicht Stück für Stück ihrer alten Souveränität für die Kurse - sie denkt nur noch in Umsätzen.

Das Aktienwesen, Aktiengesellschaft und Aktie scheinen an Faszination zu verlieren, je mehr man Irrtum, Hoffnung, Risiko und Chance im Einbauschrank programmiert. Aber zum Glück reißt öfters jemand die Schranktür auf. Dem wahren (?) Leben zuliebe. K. O.

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