C(S, X) = S · N(d1) − X·e-rT · N(d2): Ist eine Formel Schuld an der Finanzkrise? Langfassung

Zusammenfassung: Gestützt auf die simple Annahme der Arbitragefreiheit folgt die Finanzbranche einer Formel, die in der Physik vom Anfang des 20. Jahrhunderts wurzelt. Heute ist unstrittig, dass der Versuch, die Exaktheit der Mathematik in der Naturwissenschaft auf die Finanzmärkte zu übertragen, Krisen nicht verhindert, sondern mit verursacht und sogar befördert. Der Beitrag zeigt, dass ein falsches Verständnis der atomaren Struktur der Risiken der Treiber der Finanzsystemkrise ist. Einer Formel ist nicht die Schuld an den Finanzkrisen zuzuweisen; wohl aber den Anwendern. Die negativen Befunde verlangen nach interdisziplinären Anstrengungen und komplexerer Mathematik. Die Methoden der Stochastik müssen mit ökonomischen Konzepten verknüpft werden, die eine bessere Übersetzung von Strukturen und Mustern auf dem Finanzmarkt in Mathematik ermöglichen. Der Autor plädiert für eine Ergänzung durch die Spieltheorie.

Summary: Based on arbitrage pricing theory, the financial industry follows a formula which is rooted in physics from the beginning of the 20th century. Today, we increasingly recognise that the attempt to transfer the precision of mathematics in natural sciences on stock exchan­ges does not prevent crisis. The reverse is true. Crisis are caused and even promoted by using the formula improperly. Assumptions, which are common in financial theory, are often false for real markets. We argue that a wrong understanding of the atomic structure of risks is the driver of the financial system crisis. The formula may have contributed to the crash, but only because it was abused. It is a pressing necessity that mathematicians and economists are therefore looking for better models. The author pleads for a supplement by game theory.

 

Keywords: Finanzkrise, Finanztheorie, Finanzmathematik, Back/Scholes-Modell, Spieltheorie

                     financial crisis, financial theory, financial mathematic, Black/Scholes formula, game theory

JEL Classification: A11, C70, D53, G10, G14, G17

 

Autor: Dr. Volker Bieta, Unternehmensberater in Berlin und Lehrbeauftragter für Finanzmathematik und Spieltheorie, Technische Universität Dresden

C(S, X) = S·N(d1) − X·e-rT·N(d2):

Ist eine Formel Schuld an der Finanzkrise?

Dr. Volker Bieta

Gestützt auf die simple Annahme der Arbitragefreiheit folgt die Finanzbranche einer Formel, die in der Physik vom Anfang des 20. Jahrhunderts wurzelt. Heute ist unstrittig, dass der Versuch, die Exaktheit der Mathematik in der Naturwissenschaft auf die Finanzmärkte zu übertragen, Krisen nicht verhindert, sondern mit verursacht und sogar befördert. Der Beitrag zeigt, dass ein falsches Verständnis der atomaren Struktur der Risiken der Treiber der Finanzsystemkrise ist. Einer Formel ist nicht die Schuld an den Finanzkrisen zuzuweisen; wohl aber den Anwendern. Die negativen Befunde verlangen nach interdisziplinären Anstrengungen und komplexerer Mathematik. Die Methoden der Stochastik müssen mit ökonomischen Konzepten verknüpft werden, die eine bessere Übersetzung von Strukturen und Mustern auf dem Finanzmarkt in Mathematik ermöglichen. Der Autor plädiert für eine Ergänzung durch die Spieltheorie.

 

Die Finanztheorie ist intern und von außen erzwungen an Grenzen gestoßen. Testiert werden Praxisferne und systemisches Versagen (Lux 2009). Die Nobelpreisträger Arrow und Coase kritisieren, dass Modelle statt ökonomischer oft nur mathematische Thesen beweisen bzw. die (Finanz)Theorie ein Spiel ist, das in der Luft schwebt. Vierzig Jahre nach der Publikation des Black/Scholes-Modells (BSM), dessen berühmte Formel der Eingang zeigt, gelten rein stochastische Finanzmodelle wegen der hochsignifikanten Zurückweisung durch empirische Daten als Mitauslöser und Beschleuniger von Krisen. Dabei trifft formale Korrektheit auf empirische Beliebigkeit durch eine Ideenwelt, in der eine Formel als universell angenommen wird und der Finanzmarkt quasi naturgesetzlich funktioniert. Insbesondere ist strittig, dass die Profession weiter mit Hochdruck an Verfeinerungen der BSM forscht. Besteht die Gefahr, dass die Finanztheorie als Financial Engineering unter dem Rubrum Rigorous Mathematical zum mathematischen Glasperlenspiel wird, weil Mainstream-Ökonomen die Kritik entweder nicht verstehen oder nicht verstehen wollen; oder aber sind Rocket Scientists mit ihren (Denk)Scha­blonen überhaupt nicht in der Lage, Kritik, die fundamental ist, richtig zu bewerten? Der Beitrag thematisiert, dass Finanztheoretiker der Tatsache ins Auge sehen müssen, dass es hoch risikoreich sein kann, die universelle Gültigkeit einer Formel zu postulieren, d.h. sie auch dort anzuwenden, wo sie nicht mehr gelten kann oder schon längst außer Kraft gesetzt ist.

 

Keine Ausnahme

Russells Truthahn-Metapher erklärt, warum das Leben mit Illusionen nicht sorglos ist. Beim Truthahn festigt das tägliche Füttern ein Weltbild, das - in Nordamerika - Weihnachten plötzlich revidiert werden muss. Am Finanzmarkt beschreibt die Truthahn-Illusion den Irrglauben, dass alle Risiken berechenbar sind. So wie der Truthahn Thanksgiving nicht kennt, kennen Finanzmodelle plötzlich und unerwartet eintretende Ereignisse nicht. Dass viele Bestätigungen einer Annahme nicht deren Wahrscheinlichkeit steigert und aus einer endlichen Menge von Beobachtungen nicht auf das Allgemeingültige des scheinbar erkennbaren Sachverhaltes geschlossen werden kann, wenn die Zeiten unruhig werden, zeigte der LTCM-Crash im Jahr 1998. Was war geschehen? Damals ließ sich ein Portfolio so steuern, dass es nur an Kurssteigerungen teilnahm. Als durch die russische Krise die Kurse unerwartet stärker als berechnet schwankten, verstärkten Investoren, die auf Grund der Baseler Finanzmarktregularien ihre Ri­siken synchron mit ähnlichen Modellen berechneten, durch hektische Reaktionen den Down Effekt um ein Vielfaches. Das statistisch Unwahrscheinliche war nicht mehr unmöglich. Es kam der Crash, als Fonds als Konsequenz der Strategie massiv Papiere verkaufen mussten.

 

Versagte 1998 der Markt oder die Theorie? Sicher ist, dass beim ersten spektakulären Versagen der quantitativen Methoden nicht objektive Wahrscheinlichkeiten (exogene Störungen), sondern kollektive Systemrisiken (endogene Störungen) das Extremereignis schufen, das nach der Normalverteilung sehr unwahrscheinlich ist. Dass Finanzkrisen keine Naturkatastrophen sind, sondern zu 100% von Menschen verursacht werden, und Verhaltensrisiken auch keine Anomalien einer Theorie sind, die nur kurzfristig aus den Fugen geraten ist, zeigte 10 Jahre später in desaströser Form dann die Subprime Krise. Wieder führte individuell rationales Verhalten zu kollektiv unerwünschten Ergebnissen. Beste Strategien waren plötzlich nachrangig, da das Verhalten (Herding) der Marktteilnehmer erneut die Hypothesen verschob, die den Berechnungen zu Grunde lagen. Was war geschehen? Als die Profite aus der Verpackung und Weiterreichung von Krediten schlechter Bonität im Sog der US-Immobilienblase einbrachen und Rückkoppelungsschleifen die Abwärtsentwicklung im Finanzsystem verstärkten, sorgte ein tiefes Misstrauen im Interbankenmarkt dafür, dass mit dem Kreditprozess auch die Finanzierung von Investitionen und Handel zum Erliegen kam. Damals wie heute ist die Crux der Mathematisierung der Finanzmärkte, dass Modelle Blasen so wenig erkennen wie Truthähne Thanksgiving, die Überzeugung herrscht, dass Dank der unfehlbaren Mathematik fast jede Wette als annehmbar (hedgebar) erscheint und theoretische Resultate nur noch zügig in Produktvielfalt zu transformieren sind (Haldane 2011).

 

Folgen Finanzkrisen aus einer falschen Theorie über die Bewertung von Optionen oder durchschauen Banker und Aufsicht nicht die Komplexität dessen, was sie tun? Der Beitrag gibt Antworten auf die Frage. Dazu werden Aspekte der prinzipiellen Unberechenbarkeit der Ereignisse am Finanzmarkt analysiert (Teil I). Im Fokus stehen Sprünge. Sie sind Ursachen und Auslöser von Krisen; wegen des systemischen Bezugs aber auch der wesentliche Unterschied in den Vorstellungen von Ökonomie und Physik bzgl. der Dynamik am Finanzmarkt. Dabei stützt die Physik einerseits das herrschende finanztheoretische Dogma und bereitet andererseits der Spieltheorie das Feld (Teil II). Zunächst werden Ausschnitte des Weges zur Formel des Eingangs skizziert. Das erste wichtige Datum ist das Jahr 1827, als Brown beschrieb, dass Flüssigkeits- oder Gasmoleküle, die mit suspendierten mikroskopischen Teilchen (Pollen) kollidieren, unter dem Mikroskop eine Zitterbewegung der Teilchen zeigen.

 

Das Fundament

Die Mathematisierung der Finanzmärkte begann, als Bachelier im Jahr 1900 die Dissertation „Théorie de la spéculation“ vorlegte. Als er an der Pariser Börse keine statistischen Regelmäßigkeiten fand, um eine Bewertungsformel für Rentes (eine Art Bundesanleihen) anzugeben, nahm er an, dass Kurse so verlaufen müssten, als wären sie zufällig erzeugt worden. Er formulierte einen Diffusionsprozess, der zur Brownschen Bewegung führt. Danach werden Aktienkurse von den Transaktionen am Markt genau so zufällig bewegt, wie in Flüssigkeiten suspendierte Teilchen durch ungerichtete Stöße anderer Teilchen zufällige Wege zurücklegen. Dabei üben Kauf- und Verkaufsgebote einen kleinen Druck auf den Kurs aus, was zu den kleinen, unregelmäßigen, für Aktienkurse typischen up/down-Bewegungen führt. Im Bache­lier Modell folgen die zufälligen Bewegungen der Teilchen einer Normalverteilung. Die Richtung der Stöße ist gleich verteilt und die Wahrscheinlichkeit, mit der sich ein Teilchen zu einem Zeitpunkt an einem Ort befindet, hängt von der Entfernung vom Ursprung und nicht von der Richtung ab. Da keine Richtung bevorzugt wird, ist der Kursprozess eine reine Zufallsbewegung (Random Walk). Die Brownsche Bewegung erscheint, wenn die Zeit zwischen den Stößen der Teilchen gegen Null geht. Der probabilistische Zugang zu Kursbewegungen war der Zeit voraus. Heute sind verfeinerte Brownsche Bewegungen der Standard. Das Geschehen am Finanzmarkt gleicht dem Heimweg eines Betrunkenen: Jeder seiner Schritte ist schwer vorhersagbar. Ungewiss ist, welchen Weg er wählen wird. Gewiss ist nur, dass er ein Ziel hat. Dies kombiniert stochastische Prozesse mit einer deterministischen (Trend)Komponente.

 

Bacheliers Modell war zeitgemäß und originell. Da sich die Transaktionen am Finanzmarkt kaum beeinflussten, hatten Kursprozesse kein Gedächtnis und Bewegungen konnten als unabhängig von den vorausgegangenen angenommen werden. Auch war die Normalverteilungshypothese, nach der fast alle Kursbewegungen sehr klein und nur sehr wenige Bewegungen sehr groß sind, die, je größer sie sind, umso unwahrscheinlicher werden, nicht unbegründet. Letztendlich orientierte sich Bachelier an der Physik seiner Zeit. Durch die Annahme, dass Kurse mit der gleichen Wahrscheinlichkeit fallen oder steigen, mit der eine faire Münze Kopf oder Zahl zeigen kann, konnte er Kursänderungen Wahrscheinlichkeiten zuordnen, um aus den Regeln der statistischen Mechanik Trendaussagen über das Verhalten der Marktteilnehmer abzuleiten. Bacheliers Lehrer Poincaré ließ die Arbeit aber nur knapp zur Promotion zu. Er kritisierte durch die Analogie zur Thermodynamik die Realitätsferne der Kursbildung. Das Grundsätzliche der Kritik setzt sich bis heute fort (Frydman, 2011). Offen wird bezweifelt, ob Ökonomen den Finanzmarkt so vermessen können wie Physiker die Raumtemperatur messen: Physiker müssen nicht die Gleichheit der Luftmoleküle annehmen; Ökonomen müssen annehmen, dass das Verhalten der Marktakteure im statistisch beschreibbaren Durchschnitt eine gewisse Homogenität hat. Rückblickend ist zu bedauern, das Bachelier das Offene der Spielanalogie nicht vertieft hat, da die Normalverteilung wenig Gewicht in den schmalen Rändern hat und sich Ereignisse dort unbemerkt zu hohen Risiken potenzieren können, es Macht großer Händler gibt, die hebelartig den Markt bewegen können, sich kleine Akteure, die sich beobachten, nicht wie Teilchen unabhängig voneinander verhalten, es Dominoeffekte und Herdenverhalten gibt und sich durch Überreaktionen Blasen bilden können (Bachelier 1901).

 

Formal abgeschlossen wurde Bacheliers Arbeit durch den Beweis der Existenz der Brown-schen Bewegung durch Wiener. Als ihm im Jahr 1923 die Konstruktion einer Verteilung auf dem Raum der stetigen Prozesspfade gelang, begann die Zeit der streng mathematischen Analyse der ungerichteten Zufallsbewegung von Teilchen (Diffusion) als stochastischer Prozess. Seine Beschreibung der Brownschen Bewegung ist bis heute gültig. Zuvor hatten Einstein im Jahr 1905 und Smoluchowski im Jahr 1906 die Bewegung eines Schwebeteilchens in Raum und Zeit als Diffusionsprozess durch eine aus der molekularkinetischen Theorie der Wärme abgeleitete partielle Differentialgleichung mathematisch beschrieben. Dass Bachelier Eigenschaften der Brownschen Bewegung vor Einstein bewies, ist bemerkenswert. Für die Stochastik hat die Brownsche Bewegung die gleiche Bedeutung wie die Normalverteilung für die Wahrscheinlichkeitstheorie. Erstere ist anzusetzen, wenn die Kraft für Veränderungen von Zuständen keine räumliche Richtung bevorzugt und in ihren Wirkungen von der Vergangenheit unabhängig ist; letztere ist anzusetzen, wenn auf eine Größe viele zufällige unabhängige Einflüsse wirken. Dass die Brownsche Bewegung der Prototyp des reinen Zufalls im Zeitablauf ist und das sich die Wahrscheinlichkeiten für Kursverläufe verbreiten wie Wärme, ist zu bedenken, wenn die Praxistauglichkeit der Werkzeuge der Finanztheorie zu bewerten ist.

 

Weniger falsche Realitäten schaffen

In der Finanztheorie nimmt die Vorstellung von Wetten einen prominenten Platz ein, seit Samuelson in den 1950er Jahren Bacheliers zentrales Resultat, dass Kursschwankungen Random Walks folgen, wieder aufgriff. Damit Kurse nicht ins Negative gelangen, etablierte er das Modell in exponentieller Form als geometrische Brownsche Bewegung. In den Augen vieler Ökonomen erhob die folgende Mathematisierung die Finanztheorie in den Rang einer Naturwissenschaft. Es begann die Zeit von Modellplatonismus und nicht mehr einsichtigen Begriff­lichkeiten, wo außer Acht gelassen wurde, was mathematisch nicht erfasst werden konnte.

 

Im Sog der Mathematisierung erweiterte Sharp in den 1960er Jahren mit dem Capital Asset Pricing Model (CAPM) die Portfoliotheorie von Markowitz zu einer Kapitalmarkttheorie. Aus dem Hauptergebnis, dass im effizienten Markt nur systematische Risiken zu bepreisen sind, formte Fama Anfang der 1970er Jahre die Market Efficient Hypothesis (MEH). Die MEH ist im Prinzip die Übertragung der Theorie rationaler Erwartungen auf die Finanzmärkte. Prognosefehler, definiert als die Differenz aus dem realisierten Wert einer Variablen und der rationalen Erwartung, sind wegen nivellierender Anpassungsprozesse im Durchschnitt Null und nicht vorhersagbar. Da erwartete Kursanstiege in der aktuellen Periode erfolgen, ist die beste Prognose zum Kurs von morgen der Kurs von heute. Letzteres fundiert Bacheliers Modell theoretisch, da Kursänderungen Random Walks sind. Berühmt ist Famas Satz „A market in which prices always fully reflect available information is called efficient“.

 

Mit einer MEH-Erweiterung begann der wirkliche Aufstieg der stochastischen Analyse zur wohl erfolgreichsten ökonomischen Theorie. Im Aufsatz „The Pricing of Options and Corporate Liabilities“ (1973) gaben Black und Scholes die berühmte Formel des Eingangs an. Mit der Formel, die zeigt, wie sich der Preis einer Option im Zeitablauf verändert, hatten Optionen erstmals einen präzise berechenbaren Wert. Dafür richtungsweisend waren das Erkennen des Zusammenhangs von Arbitragefreiheit und der Existenz eindeutiger Preise sowie der Zugriff auf die hochentwickelte Stochastik. Dass die Präferenzen der Marktteilnehmer keine Rolle spielen, macht bis heute BMS schlank, elegant und performant. Seit nun mehr als vier Dekaden ist die Normalität der Finanztheorie präferenzfrei und reine Zufallsspiele (faire Glücksspiele) stellen die Ergebnisse am Finanzmarkt ein. Nach der Formel bewegen sich Kurse, deren typisches Zick-Zack-Muster durch die zufällige Gewinnentwicklung beim Roulette erzeugt wird und deren Verläufe durch die Optionsgriechen eindeutig bestimmt sind, ohne Sprünge (Diffusion). Die Akteure sind willenlose Optimierungsmaschinen in einem Markt, der ein nach Gleichgewichten suchendes System ist.

 

Obwohl die Herleitung der Formel aus einer partiellen Differentialgleichung 2ter Ordnung, die Turbulenzen beschreibt, ökonomisch unzugänglich und durch die Itô-Theorie mathematisch schwierig ist, veränderte sich sofort die Finanzwelt. Durch die Aussicht in Black/Scho­les-Welten jedwedes Risiko mathematisch eliminieren (hedgen) zu können, erfindet sich die Finanztheorie zwei Dekaden nach Samuelson als Rocket Science quasi neu. Dass Wetten auf zufällige Schwankungen des Marktes (spekulative Risiken) gehandelt werden konnten und Optionsgeschäfte ab dem Jahr 1973 nicht mehr als Glücksspiel galten, waren die Treiber einer stürmischen Entwicklung. Dabei wurde ignoriert, dass das steigende Bedürfnis der Marktakteure nach Spekulation und Absicherung durch Investments in Derivate zu immer undurchsichtigeren Risiken führte. Spätestens ab dem Jahr 2000, als Produkte kreiert wurden, deren Wert wieder von Derivaten abhing. pendelt der Finanzmarkt immer zwischen Euphorie und Panik. Der Handel mit Wetten auf den zukünftigen Preis einer Wette (strukturierten Produkten) war der Nährboden der Subprime Krise (Stewart 2012). Als Auslöser gelten die Colla-teralized Debt Obligations (CDOs), die hohe Renditen versprachen, ohne dass die Risiken transparent waren. Was war geschehen? Damals wurden Hypothekenkredite an Schuldner mit schlechter Bonität nach mathematischen Kriterien zu neuen Wertpapieren gebündelt. Die Asset Backed Securities (ABS) wurden zu einem noch dickeren Wertpapier vermengt. Ein CDO konnte mehrere hundert ABS mit tausenden Krediten umfassen. In der Bonität oft als Triple A bewertet, störte es Investoren, denen normale, durchschaubare Risiken nicht mehr ausreichten, nicht wirklich, dass bei komplizierten mathematischen Konstrukten wie den CDO‘s die Transparenz niedrig und die Verständnishürde hoch war. Dies ging solange gut, wie die Herde der gläubigen Truthahn-Investoren immer größer wurde. Alles veränderte sich als Blasen entstanden, weil Investoren durch billiges Notenbankgeld, was die ABS-Kurse trieb, kollektiv zu optimistisch waren und die Korrelationen unterschätzten, wenn viele Kredite ausfallen. Als die Kredite wie Dominosteine kippten, kollabierte das System. Verloren war das Spiel, in dem Quants heraus zu finden hatten, wie viele schlechte Kredite sich in ein Wertpapier packen lassen, um gerade noch das Triple A-Rating zu erreichen.

 

Dass Finanzprodukte vom Typ CDO durch Lösungen stochastischer Differenzialgleichungen bewertbar sind, bringt als ökonomische Stützpfeiler das No-Arbitrage Prinzip und das Prinzip der Risiko-Neutralität ins Spiel. Gilt Ersteres, gibt es keine risikolosen Gewinne (free lunch), da zwei Portfolios, die morgen den gleichen Wert haben, diesen auch heute haben müssen; gilt Letzteres, können Marktteilnehmer im Durchschnitt weder gewinnen noch verlieren. Dadurch ist die Entwicklung am Finanzmarkt irrelevant. Kursverläufe können wahrscheinlichkeitstheoretisch durch Martingale (Spielsysteme beim Roulette) beschrieben werden, deren definierende Eigenschaft ist, dass der bedingte Erwartungswert einer Beobachtung gleich dem Wert der vorherigen Beobachtung ist. Wird der Kursprozess als Kontostand eines Spielers beim Roulette aufgefasst, formalisieren Martingale faire (Glücks)Spiele, da in einem Spiel, das fair ist, der beste Schätzer zukünftiger Kurse der gegenwärtige Kurs ist, weil der Gewinn in einer Spielrunde unabhängig vom bisherigen Spielverlauf ist. Auch sind Martingale im Mittel konstant (ohne Drift), da der zu erwartende zukünftige Kontostand mit dem gegenwärtigen übereinstimmt. Im kontinuierlichen Fall ist die Brownsche Bewegung; im diskreten Fall der Random Walk das Standardmartingal.

 

Auf Grund der hier nur im Groben nach zu zeichnenden Entwicklungen, wurzelt die Finanztheorie, Bacheliers Ansatz fortentwickelnd, methodisch in der Theorie stochastischer Prozesse und bzgl. der (risikoneutralen) Bewertung von Produkten in der Theorie der Martingale. Dabei steht bei Martingalen der auf Casino Games reduzierte Spielbegriff für eine „ordre natu­rel“ der Spiele gegen eine Umgebung, die sich stets gleich (überraschungsfrei) verhält, obwohl am Finanzmarkt der Zusammenbruch historischer Abhängigkeiten beobachtet wird. Neben diesem krassen Widerspruch zur Realität durch die Empirie muss Modellbauer irritieren, dass Bücher mit provokanten Titeln wie „A Demon of Our Own Design“ und „After the Music Stopped“ durch die Kritik reüssieren, dass Kurse ausschließlich durch reine Zufallsprozesse darstellbar sind, Martingale nur lineare Dynamiken bewältigen können und durch das No-Arbitrage Prinzip am Finanzmarkt nur Spiele gegen die überraschungsfreie Natur (Wahrscheinlichkeitsverteilung über Umweltzustände) gespielt werden, deren Zufälligkeit (Risiko) sich durch stochastische Integrale (Optionspreise) mathematisch zügeln (hedgen) lässt.

 

Die zunehmende Dichte der Irritation am Finanzmarkt zeigt, dass die vorherrschende Theorie unzulänglich ist, weil sich Finanzökonomen durch ihren Werkzeugkasten nicht mit der Tatsache auseinandersetzen können, dass die Performance im Risikomanagement zu einem großen Teil das Ergebnis von Spielen ist, die nicht normal im Sinne der Stochastik sind. ist. Wider der „déformation professionnelle“ ist die entscheidende Frage: Wie können Modelle weniger blind gegenüber Zuständen sein, die aus Strukturen geschaffen werden, die sich immer wieder neu und anders produzieren können? Ohne das Grundsätzliche und Prinzipielle dieser Frage zu verkennen, sind die Autoren überzeugt, dass das systemische Defizit der Theorie zwar nicht kurzfristig überwunden, wohl aber ein stückweit gehandhabt werden kann, wenn auch die Art und Weise der Mathematisierung zu einem Teil der Modellbildung wird. Bachelier Modelle sind durch die Casino Game-Schablone nicht überflüssige aber doch veraltete Werkzeuge. Dies zeigt das Fundamental Theorem of Asset Pricing. Das Theorem, um das sich bei der Bestimmung von Preisen am Finanzmarkt alles dreht, postuliert, dass durch Manipulation der Wahrscheinlichkeiten das Modell eines arbitragefreien Marktes in ein risikoneutrales Modell (faires Spiel) transformiert werden kann. Da im Finanzmarkt faire Spiele die Ausnahme und nicht die Regel sind, d.h. die Spiele des Marktes nicht durch äquivalente Martingalmaße in faire Spiele transformiert werden können, erscheint der folgenreiche Schluss als nicht zu gewagt, dass nicht die Finanzmodelle, die stets mathematisch richtige Resultate liefern, sondern die Grundlagen der Disziplin das Problem sind. Wie also kann der seit Bacheliers Zeiten gebräuchliche (Glücks)Spielbegriff geeignet verallgemeinert werden, damit auch Risiken zugelassen werden können, die der Eigendynamik des Marktes geschuldet sind? Bevor wir Antworten auf diese Frage geben können, müssen wir noch kurz ansprechen, warum Bache­liers Erben in der Wissenschaft und in den Banken noch immer in dessen Denken in Wahrscheinlichkeiten verharren.

 

Lernschwäche der (Finanz)Ökonomen

Zu Bacheliers im Vergleich zu heute eher ruhigen Zeiten spielte es im Prinzip keine Rolle, dass die Brownsche Bewegung die Ursachen für Veränderungen offen lassen muss und durch Annahmen wie statistische Unabhängigkeit und Unveränderlichkeit aus Turbulenzen von Irrfahrten zahme Störungen macht. Gut 100 Jahre später ist dies anders. Bacheliers Werkzeug­kasten ist nicht mehr zeitgemäß. Offen wird bezweifelt, dass sich die Bewertungsprobleme, die der Finanzmarkt stellt, zu dem System fügen, das benötigt wird, um Kursprozesse durch stochastische Differenzialgleichungen zu beschreiben, deren Lösungen Martingale sind. Dass immer häufiger die gefürchteten Black Swan-Phänomene auftreten, zeigt den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis. Die Parabel, mit der Mill vor fast 200 Jahren klar gestellt hat: „No amount of observations of white swans can allow the inference that all swans are white, but the observation of a single black swan is sufficient to refute that conclusion“, ist der worst case der Finanztheorie. Black Swans sind sehr unwahrscheinlich, treten mit extremen Folgen überraschend ein und sind im Nachhinein einfach zu erklären. Sie zeigen als allgegenwärtige Modellunsicherheit wie stark stochastische Modelle einer Kontrollillusion unterliegen.

 

Verhindern BSM durch zu schlichte Annahmen das wissenschaftliche Verständnis der Fi­nanzmarktdynamik? Antworten auf diese Frage liefert der Rest des Beitrags. Selbstverständlich gilt für BSM, wie für andere Modelle auch, dass ein Modell nur unvollständig an die Realität angepasst ist. Dabei sind manche Modelle allerdings besser angepasst als andere. Bei BSM erscheint das Potenzial einer Methode als zunehmend ausgeschöpft. In Bachelier Welten ist das Risikomanagement mechanistisch auf die Funktionen und die Wechselwirkungen eines physikalischen Kontextes festgelegt und ökonomische Postulate zum Funktionieren des Marktes sind ebenso wenig erfüllt, wie die mathematischen Annahmen zur Existenz stochastischer Integrale, die das Funktionieren der Modelle sichern. Die Subprime Krise ist als bisher größte Irrfahrt der Quants das prominenteste Szenario, das zeigt, dass neben dem stochastischen Konstruktionsprinzip auch zu einem Teil der Modellbildung werden muss, dass Marktteilnehmer heute Entscheidungen treffen, deren Folgen davon abhängen, was morgen geschieht. Wie konnten aus faulen Krediten handelbare Produkte werden, um die Krise auszulösen? Bei einen groben Fokus, liefert Girsanows Theorem die Antwort. Es sichert unter Annahmen einen Maßwechsel vom kanonischen Maß (P) zum äquivalenten Martingalmaß (Q). Da nach dem Fundamentalsatz unter dem Maß (Q) die diskontierten Preise eines Underlying (einer Aktie) Martingale sind, ist für die Theorie wichtig, dass das Theorem stochastische Prozesse geeignet manipuliert werden können. Für die Praxis ist wichtig, dass Methoden nicht mehr funktionieren, wenn durch die mit Martingalen mögliche Projektion der komplexen Finanzwelt auf übersichtliche Teilräume Eigenschaften oft unbemerkt überzeichnet, Abweich­ungen zur Wirklichkeit ignoriert und mathematisch richtige Resultate nur umgesetzt werden.

 

Dass sich Risiken durch Martingale und optimierte Wetten über Kursschwankungen nur theoretisch zügeln lassen und Quants schon wieder riskante Wetten produzieren, könnte dazu führen, dass Investoren schon bald wieder viel Geld verlieren könnten, weil nur Fiktionen be­preist werden (Bailey 2014). Auch wenn sich aus vielen hier nicht im Detail anzusprechenden Gründen der Vergleich von Finanztheorie und mathematischem Glasperlenspiel aufdrängt; wirklich stören muss die Branche der Mismatch der Ergebnisse von Theorie und Praxis aber nicht. Noch nehmen kennzahlengläubige Investoren klaglos hin, dass Ökonomen durch im Detail zwar feinere, aber doch stets baugleiche Modelle das Wesentliche des Handelns am Finanzmarkt nicht darstellen können (Poovey 2003), Auch das Basel-Regelwerk, das Quants quasi dazu zwingt, sich mit dem Finanzmarkt wie Physiker mit der Welt zu befassen und dessen nicht anreizkompatibler Versicherungscharakter die „es kann nicht falsch sein, was alle tun müssen“-Logik fordert und fördert, trägt mit dazu bei, dass Quants im Endlosspiel zur Veränderung der Spiele nur Spieler mit einen Handicap sind. Gegenstand vom Teil II des Beitrags ist die Rückführung des Handicaps durch eine geeignete Mathematisierung der Spielmetapher. Dazu werden Merkmale identifiziert, die auf das Feld der Spieltheorie führen. Für die Zweckmäßigkeit der Spieltheorie wird sich als wichtig erweisen, dass Zufallsereignisse nicht notwendigerweise statistischer Natur sein müssen.

 

Unsicherheit zu stark vereinfachende Modelle

Dass die Bewertungsprobleme, die der Finanzmarkt stellt, nicht mehr lehrbuchhaft zu lösen sind, verkürzt Diskussionen über den Reifegrad der Finanztheorie auf das Wesentliche. Zukünftig wird zu beachten sein, dass stochastische Prozesse den Finanzmarkt nur dann adäquat beschreiben, wenn sich Akteure wie Roulettespieler verhalten, die passiv gegen die Kugel im Kessel und nicht aktiv gegeneinander oder miteinander gegen andere spielen. Es wurde schon gesagt, dass bei Glücksspielen die Stochastik freundlich ist, weil die Normalverteilung die natürliche Metrik zur Beschreibung der Verhältnisse zwischen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Ereignissen ist, die valide Vorhersagen für mögliche Spielergebnisse liefert, da in jeder Spielrunde der Zufall nur Ergebnisse produziert, die als mathematisch vorhersagbare Ereignisse eintreten können. Die Empirie erschüttert allerdings diese sterile Finanzarchitektur.

 

In der Praxis jenseits der Casino Game-Welten ist die Stochastik unfreundlich. Strategien, die in der Vergangenheit funktioniert haben, sind für die Zukunft oft nutzlos, weil Market Games (strategische Spiele) und Casino Games (nicht-strategische Spiele) nicht dasselbe sind. In Market Games ist die Zukunft nicht prä-determiniert, da kein Akteur heute wissen kann, ob im Markt morgen Roulette, Poker oder Mischformen von Glücks- und Gesellschaftsspielen gespielt werden. Da kein statistischer Durchschnitt und keine Summierung aus Handlungen zu einem Gesetz führen kann, das sich in nahezu endloser Häufigkeit unabhängig von Zeit und Ort immer wieder einstellen lässt, ist in Market Games eine von Zweifeln befreiende Expertise in Stochastik zunächst nachrangig. Es liegt auf der Hand, dass aus BSM-Verfeinerun­gen zwangsläufig der nächste Fehler dann folgen muss, wenn der Gegner nicht mehr eine vom Verhalten der Anderen unabhängige Verteilung ist. Dass in der Finanztheorie richtige Fragen - geschweige denn Antworten - fehlen müssen, ist auch den Missweisungen durch ökonomische Postulate geschuldet. Wegen der Dominanz der MEH ist das Postulat effizienter Märkte das sperrigste Hindernis auf dem Weg zu Modellen, die realistischer als bisher abbilden, wie sich Anleger wirklich verhalten (Fox 2011). Famas Diktum „formal tests requires formal models, with their more or less unrealistic structuring of the world“ blockiert die notwendige grundlegende Änderung der Abstraktion des Untersuchungsgegenstandes und ist gleichzeitig das Entrée in die Scheinwelten der Quants. Dabei ist gut für die Theorie, dass die MEH die Erfolglosigkeit bei Vorhersagen zum Prinzip erhebt und schlecht für Investoren, dass die MEH schon durch das schlichte Verhaltensmuster obsolet wird, dass Marktteilnehmer zwar nicht die mathematischen Gesetze von Martingalen verändern, diese wohl aber zu ihrem nicht in den Kursen eingepreisten Vorteil nutzen können. Wäre dem nicht so, gäbe es (auf Grund gleicher Erwartungen über Kursänderungen!) keine Termingeschäfte. Das ist bei Pferdewetten nicht anders: Würden alle Wetter auf dasselbe Pferd wetten, gäbe es keine Wetten.

 

An der Quelle verschiedenster Empfindlichkeiten bzgl. theoretischer Hygiene sind Missverständnisse zu vermeiden. Einerseits gibt es keine Alternative zur Mathematik, um die Probleme des Finanzmarktes zu lösen. Andererseits läuft die Finanztheorie durch Transformationsfehler obiger Art Gefahr, sich selbst aus den Angeln zu heben. Dabei ist unbestritten, dass BSM auch nach 40 Jahren eine mathematisch brillante Verkürzung der Realität sind und dies auch bleiben werden. Die Frage nach dem geeigneten Bezugsrahmen ist dennoch mit Nachdruck gestellt. Russels Truthahn, erscheint der Tag, an dem er geschlachtet wird, als unvorhersehbarer Zufall, dem Metzger dagegen nicht. Dass die Brownsche Bewegung jeden Zustandsbezug mit Zeitverzögerung begleitet, erfahren auch Truthahn-Investoren immer wieder. Im Licht der Einschätzung „Die Black/Scholes-Gleichung war für die Finanzwissenschaft, was Newtons Mechanik für die Physik war… sie ist diese Art von Fundament, auf dem alles andere aufbaut“ (Scientific American 1998) ist nüchtern zu konstatieren, dass Bacheliers Erben den Paradigmenwechsel in der Physik nicht mit gemacht haben. Dass die (Heisenberg)Physik des 21. Jahrhunderts begriffen hat, dass Messbarkeitsprobleme prinzipieller Natur sind, ist in der Finanztheorie, die noch der (Newton)Physik des 19. Jahrhunderts folgt, ebenso wenig angekommen wie die Tatsache, dass Modelle der Physik auch ein Verfallsdatum haben. Die Literatur zeigt, dass die Profession mehrheitlich glaubt, dass, je detaillierter und raffinierter stochastische Modelle messen, umso klarer und eindeutiger auch das Resultat ausfallen muss. Lévy-Modelle können, anders als Brownsche Bewegungen, Sprungprozesse abgreifen. Diese Klasse stochastischer Prozesse dreht das Rad der Forschung ohne Zweifel wieder einmal schneller. Klüger als Russels Truthahn am Schlachttag ist man nicht, da die Resultate trotz der besseren Anpassung an historische Daten ebenso isoliert sind wie die Resultate der Vorgängermodelle.

 

Die beschränkte Leistungsfähigkeit der BSM in wesentlichen Punkten und das grundsätzliche Problem, dass Modelle, die Krisen mit verursachen, durch Verfeinerungen nicht aus Krisen herausführen können, stellen in der Finanztheorie die Zeichen auf grundlegende Veränderung. Da nicht gefordert werden kann, dass die Marktteilnehmer ihr Verhalten ändern, muss die Theorie ihre Defizite überwinden. Hier zeigt die prominente Kritik vom Beginn des Bei­trags, dass zumindest Teile der Profession erkannt haben, dass die Analogie zwischen Marktgeschehen und Diffusionsprozessen, die für Casino Games nicht unbegründet ist, für Market Games falsch ist. Dass am Finanzmarkt augenfällig nicht Akteure Erfolg haben, die richtig rechnen, sondern sich relativ zu den anderen richtig einschätzen, nährt die Vermutung, dass die Zufallseigenschaft der Kurse nicht die Voraussetzung für, sondern das Ergebnis von Handlungen ist. Liegt der wirkliche Grund für Ungewissheit in den Absichten der Marktteilnehmer, ist das im Spielerischen enthaltene Irrationale keine Kuriosität der Märkte, sondern die Bedingung ihres Funktionierens: „Spielen ist das Experimentieren mit dem Zufall“ (Novalis). Da Krisen, die auf der Ebene von Investoren ihren Anfang nehmen, mit stochastischen Filtern nicht zu erkennen sind, weil sich Handlungen einer nicht amorphen Masse nicht zu einem Durchschnitt mitteln lassen, der statistisch beschrieben werden kann, ist, stoßen Modellbauer, die dem stochastischen Paradigma (Zustandsrisiken) verpflichtet sind, an ihre Grenzen. Damit ist der Alleinvertretungsanspruch der BSM passé, und zwar ohne dass die Metapher vom Roulettespieler zu einer überflüssigen Hypothese wird.

 

Hält man fest, dass der Casinobetrieb außerhalb der Realwirtschaft läuft, durch Rettungsschir­me Risiko und Verantwortung entkoppelt ist, das Basel-Regime die Regeln des Marktes außer Kraft setzt und Risiken finanzökonomischer Spiele unüberschaubar sind, begründen zumindest zwei theoretische Mängel eine Erweiterung der Finanztheorie. Zum einen streben BSM wegen der implizit unterstellten Stationarität in Richtung des Gleichgewichts und nach exogenen Schocks pendelt sich das System wieder ein. Hier ist das Problem, dass ein System, das auf der Suche nach Gleichgewichten die Daten der Vergangenheit ausliest, Störungen verpasst, wenn durch endogene Schocks plötzlich und unerwartet gänzlich neue Pfade eingeschlagen werden. Zum anderen ist die probabilistische Entscheidungslogik ausgeschaltet, wenn keine Wahrscheinlichkeitsverteilungen mehr konstruiert werden können, weil die Ereig­nisräume in der Gesamtheit unbekannt sind. Hier ist das Problem, dass der Glaube „the future is merely the statistical reflection of the past“ den Ernst der Situation durch Spieltäuschungen (Ludic Fallacy) und statistisch-regressive Täuschungen (Statistical Regress Fallacy) verkennt. Ein generell falsches Spielverständnis, verursacht durch den Irrglauben, dass der strukturierte Zufall, wie er in Random Walks auftritt, dem unstrukturierten Zufall am Finanzmarkt gleicht, ist die Wurzel der Truthahn-Erfahrungen. Letzteres zeigt, dass es nicht das Problem der Finanztheorie ist, dass es Casino Games gibt, sondern nur, an sie zu glauben.

 

Dass die Finanztheorie in einem Darstellungsmodus erstarrt ist, mit dem wenig anderes getan werden kann, als jede Form von Unsicherheit auf kalkulierbare Unsicherheit zu reduzieren und dass sich die Finanztheorie wegen der Dominanz des stochastischen Paradigmas aus eigner Kraft nicht selbst erneuern kann, erfordert eine theoretische Erweiterung, die Zusammenhänge nicht ausschließlich auf stochastische Wechselwirkungen verkürzen muss. Hier kommt mit der Spieltheorie eine ausgereifte mathematische Theorie ins Spiel, in deren Bezugsrahmen damit umgegangen werden kann, dass in der Mathematik Axiome angegeben werden, denen der Begriff Wahrscheinlichkeit genügen muss, in der Ökonomie hingegen Wahrscheinlichkeiten die Einschätzung des Für-Wahr-Haltens möglicher Zukunftslagen sind und Risiken stochastisch nicht messbar sind, wenn Marktteilnehmer mit unterschiedlichen Präferenzen nach Lösungen (Strategien) suchen, die am ehesten zum Erfolg führen. Dass die Grenzen der Spiele im Finanzmarkt, die fließend sind, immer wieder auch neu vermessen werden können, weil bei Spiellösungen (Nash-Gleichgewichten) nicht alles gleich und nicht alles optimal sein muss, schafft den Raum zur Lösung von vielen der eigentlichen Problemen auch deshalb, weil Casino Games nur in dem Umfang überflüssig werden, wie in Market Games das risikobewehrte Verhalten der Spieler zu quantifizieren ist (Bieta, Milde 2014). Dass Spieltheorie und Standardtheorie nicht im Konflikt stehen, charakterisiert die Spieltheorie letztendlich als umfassende Problemlösungsmethode mit Potenzial. Teil II des Beitrags beginnt mit Voraussetzungen und Reichweiten der Spieltheorie.

 

Relevanz systemischer Faktoren

Spiele, die eine Metapher für im Ergebnis offene Prozesse der Selbstorganisation sind, sind das definierende Erkenntnisobjekt der Spieltheorie. Spiele mit sich beeinflussenden Akteuren, die unter Beachtung der Regeln ihren Vorteil suchen, werden als strategisch; Spiele, die vom reinen Zufall abhängen, als nicht-strategisch (Games against Natur) bezeichnet. Market Games sind strategisch; Casino Games sind nicht-strategisch. Die Spieltheorie, die Spiele durch ihre als wesentlich erachteten Struktur- und Verhaltensmerkmale abbildet und mathematisch streng löst, ist eine Systematik zur Beschreibung und Vorhersage von Spielen (Verhalten), deren empirischer Ast die Spielmodelle experimentell überprüft (Maschler 2013).

 

Warum ist die Spieltheorie die notwendige Ergänzung der Finanztheorie? Ungeachtet dessen, dass bei jeder mathematisch durchgebildeten Theorie Annahmen zu treffen sind, die akzeptieren oder verworfen werden können, ist eine kurze Antwort auf die Frage, dass der empirische Befund und der theoretische Anspruch, auch schwierige Zusammenhänge erfassen zu können, es erfordern, dass der Finanzmarkt durch eine Terminologie zur Strukturierung komplexer Zustände auf eine neue Art und Weise zu interpretieren und zu beschreiben ist. Dass Anreize die Antriebskraft für finanzwirtschaftliche Aktivitäten sind, Marktteilnehmer durch strategisches Verhalten versuchen, den Markt in Gestalt der Mitspieler zu schlagen, sich durch Analysen Anomalien finden und in statistische Vorteile verwandeln lassen und nicht anreizkom­patible Regulierungsmaßnahmen das Potenzial für Arbitragestrategien haben, die das Finanzsystem destabilisieren, sind bekanntere Beispiele dafür, dass die Finanztheorie zukünftig interdisziplinär auf verschiedene Bereiche der Mathematik, Wirtschaftswissenschaften, Physik und Psychologie zugreifen können muss. Durch die Mathematisierung der Spielmetapher in allgemeiner Form ist die Spieltheorie der Rahmen für die Modellierung, Analyse und Bewertung vieler Probleme, die der Finanzmarkt stellt. Zum besseren Verstehen und Quantifizieren der zunehmenden Marktunsicherheit ist dabei wesentlich, dass Spielanalysen wenigstens zwei Anforderungen erfüllen müssen. So muss zum einen die konkrete Situation adäquat als Spiel modelliert werden (Spielauswahlproblem). Zum anderen ist wegen der Nicht-Eindeutigkeit des Nash-Gleichgewichts anzugeben, unter welchen Bedingungen ein bestimmtes Spielergebnis zu erwarten ist (Lösungsauswahlproblem). Dass dadurch, grosso modo, die systematische Auseinandersetzung mit dem BSM-Modellrisiko zum Bestandteil von Analysen wird, trägt der Tatsache zumindest Rechnung, dass der Finanzmarkt Echtzeitexperimente produziert.

 

Warum ist die Welt der Spieltheorie nicht zwingend die virtuelle, geschlossene Welt der Finanztheorie? Eine kurze Antwort ist, dass (i) aus Sicht der Spieltheorie Finanzgeschäfte eine Menge von Regeln sind, die aus den regulatorischen Bedingungen und den Kosten-Nutzen-Kalkülen der Akteure (Spieler) folgen, (ii) die Ungewissheit über Spielausgänge aus den Absichten der Spieler resultiert, für die Poker und nicht Roulette das Vorbild ist, wenn sie überlegen, welche Strategie in welcher Situation zu welchem Ergebnis führt und (iii) das Nash-Gleichgewicht Spielausgänge klassifiziert, in denen kein Spieler davon profitiert, wenn er allein von einer Strategie abweicht. Da sich das Finanzsystem durch die Interaktion der Teile erklärt, sind dies aus systemischer Sicht die Minimalbedingungen, die erfüllt sein müssen, um Bewertungsprobleme in guter Näherung zu lösen. Dies ist nicht wenig in Anbetracht dessen, dass die Finanztheorie in weiten Teilen noch in Gauss’schen Glockenkurven denkt und der Markt nicht aus abhängigen Akteuren besteht, deren Verhalten einem Random-Walk folgt, sondern ein fragiles System interaktiver Beziehungen ist, wo Handlungen weitreichende Folgen haben können. Es ist das Credo der Spieltheorie, dass Finanz(Spiel)Mo­delle durch das Auswahlproblem als eine erste Annäherung nur eine Art idealer Maßstab sind, Lösungen nicht optimal sein müssen und das Modellrisiko präsent ist, weil es nicht das eine richtige Modell geben kann, wenn Gesetzmäßigkeiten, die in Casino Games axiomatische Gültigkeit haben, nicht Eins-zu-Eins übertragen werden müssen. Das Vorgehen der Spieltheorie ist einfach: Man beginnt mit einer Vermutung und revidiert diese anhand neuer, objektiver Informationen und gelangt so zu verbesserten Modellen. Da Spieltheoretikern bewusst ist, dass bei falscher Expertise mit einer richtigen Strategie (Spiellösung) das falsche Spiel gespielt werden kann, öffnet sich die Schere zwischen Formalisierung und realem Bezug nicht weiter, weil der Anspruch der Spieltheorie bescheidener ist, als ihn die Finanztheorie gemeinhin formuliert.

 

Wie Spielanalysen Modellrisiken reduzieren, zeigt die Beobachtung, dass der Markt Arbitrage zulässt, da Banken für ein und dasselbe Derivat verschiedene Preise bekommen. Nicht eindeutige Preise sind für Finanztheoretiker der worst case. Für Spieltheoretiker ist die fundamentale Unberechenbarkeit des Marktes ein Baustein eines Spiels. Dieses Mehr an analytischen Freiheitsgraden greift an der Crux der BSM. Diese müssen die Ursachen relevanter Fragestellungen offen lassen, weil in der Welt verteilungsabhängiger, präferenzfreier Random Walk-Gleichgewichte der Weg von der Beobachtung zum Modell nicht substanziell verändert werden kann. In diesem Kontext unterstreicht die Zweckmäßigkeit der Spieltheorie auch, dass Spieltheoretiker die Beobachtung nicht ignorieren müssen, dass am Finanzmarkt nicht Risiko nach Bachelier, sondern Unsicherheit nach Knight die Zustände einstellen. Dass Knight in den 1920er Jahren die streng probabilistische Struktur zukünftiger Ereignisse bezweifelte - er trennt Risiko (Erwartungswerte existieren) von Unsicherheit (Erwartungswerte existieren nicht) und folgerte, dass die Welt unsicher (nicht berechenbar) und nicht riskant (berechenbar) ist - erklärt heute die wenig erfolgreiche Mathematisierung der Finanzmärkte durch das in Bachelier Modellen notwendige Ausgrenzen von Zusammenhängen (Unsicherheit). Da in der Subprime Krise Banker Risiko mit Unsicherheit (und Korrelation mit Kausalität) verwechselten ist Knightian Uncertainty ebenfalls ein starkes Indiz dafür, dass sich die Finanztheorie zeitnah darum kümmern können muss, wie der Finanzmarkt wirklich funktioniert. Die wenigen gegebenen Beispiele illustrieren, dass die Spieltheorie durch das Abgreifen der objektiven Perspektive mathematischer Wahrscheinlichkeiten und der subjektiven Perspektive handlungsleitender Prinzipien die Finanztheorie konzeptionell und methodisch gerade um die Problemfelder erweitert, auf denen Finanzmodelle durch eine vor allem auch erfolgreiche Mathematisierung zukünftig ihre Geltung behaupten müssen (Weisberg 2014).

 

Welche Mathematik beschreibt die Börse am besten?

Das Titelbild des Economist (Juli 2009) zeigt das langsame Abschmelzen des Lehrbuches „Modern Economic Theory“. Auch für die Finanztheorie hat das Bild Symbolkraft. Spürbar sind fundamentale Wissenslücken zu schließen. Auch im Jahre 6 nach der Subprime Krise sind große Teile des Finanzmarktes noch immer eine Black Box, weil, durch das Basel Regime legitimiert, der Beihilfe zum Entstehen der Krise leistende analytische Minimalbereich weiterhin der wissenschaftliche Anspruch ist. Dass die Tauglichkeit der Theorie offen begrenzt ist, erhöht inzwischen schon wieder die Gefahr, dass Finanzmodelle durch falsche Signale eine Dynamik entwickeln könnten, die Profession, Quants und Aufsicht weder vorhergesehen hat noch zu beherrschen in der Lage ist.

 

„Dass zu grobe Raster oft mehr schaden, als das sie nutzen“ (Kant), trifft durch die Random Walk-Hypothese auch auf die Finanztheorie zu. Im Finanzsystem können Kaskadeneffekte in Sekunden massiv Finanzwerte zerstören, alte Abhängigkeiten durch spontane Selbstorganisation plötzlich brechen und Akteure auf externe Steuerungsversuche strategisch reagieren. Ferner liegt in den wechselseitigen Abhängigkeiten von Banken, Investoren und Aufsicht sowie in den Interdependenzen zwischen den Finanzmarktsegmenten mit ihren Ansteckungsrisiken ein Potenzial für Krisen, die es nach den Verästelungen der Portfoliotheorie und den Dynamic Stochastic General Equilibrium-Modellen nicht geben dürfte. Ohne sich zu sehr in Details zu verstricken, wurde gezeigt, dass im Nicht-Zugriff auf die nicht vollständig prä-determinierten Market Games die konzeptionelle und strukturelle Schwäche der herrschenden Theorie liegt und die Spieltheorie durch die Mathematisierung von Situationalität die notwendigen Problemlösungen liefert. Dabei kommt die Spieltheorie dem mathematischen Verständnis des Finanzmarktes näher als die Theorie des Status quo, weil durch das Auslesen der Symmetrien, die den Finanzmarkt koordinieren und den stochastischen Kalkül ausschalten können, dynamische Inkonsistenzen zugelassen sind. Es ist wesentlich, dass es im Bezugsrahmen der Spieltheorie im Prinzip keine Rolle spielt, ob sich in Krisen optimistische in pessimistische Sichtweisen verkehren oder koordiniertes Verhalten an die Stelle von stochastischer Unabhängigkeit tritt, wenn Marktteilnehmer die (Spiel)Regeln missachten, um Vorteile daraus zu ziehen.

 

Auch wenn die Spieltheorie auf viele Probleme der Finanztheorie zugreifen kann; die Spieltheorie ist keine Theorie für Alles. Den skizzierten Vorteilen, die grundlegender Natur sind, steht als „gefühlter“ Nachteil gegenüber, dass Finanz(Spiel)Modelle im Regelfall weder elegant sind noch eindeutige Lösungen haben. Dies sollte nicht verwundern: Modelle, die realistisch sind, weil sie sich ähnlich verhalten wie das Finanzsystem, können nicht die Kopie eines Originals aus der Physik sein. Das Aufbrechen der Ideenwelt Bacheliers, die ein geschlossenes theoretisches Gebilde ist, was nach dem Prinzip von Ockham’s Razor eher einfache Antworten liefert, mag erklären, dass die Mathematisierung finanzökonomischer Prozesse durch Spiele noch zu oft am Beharrungsvermögen der Curricula scheitert: Das massiv im stochastischen Paradigma gebundene Humankapital ist das Trägheitsgesetz der Lehre, was die notwendige Reform der Inhalte verhindert (Admati/Hellwig 2013). Das es Inseln der Veränderung gibt, wie den Schwerpunkt in Spieltheorie an der Universität Bonn, ist zumindest tröstlich. Im Sog der herrschenden Regulierungspraxis, die mit dazu beiträgt, dass der Theorie viele Risiken wie ein Stück nasser Seife entwischen müssen, sind letzte Antworten zu Fragen zur richtigen Mathematik in naher Zukunft wohl eher nicht zu erwarten (Shreve 2009). Wir geben aus „guten“ Gründen nun eine pragmatische Antwort auf die Frage des Eingangs.

 

Is math to blame?

Augenfällig befruchtet die analytische Stärke des stochastischen Kalküls zwar die Forschung, doch ebenso augenfällig tragen die Resultate wenig zu Problemlösungen bei, wenn sich die Objekte modellendogen verhalten. Letzteres ist die Regel und nicht die Ausnahme. Damit sind Modelle, deren Grad an mathematischer Strenge, spitzt formuliert, oft umgekehrt proportional zum Nutzen ist, eine regulatorische Praxis, die Scheinwelten institutionalisiert, und die Vielzahl der Rettungsschirme, die Fehlanreize setzen, in der Summe starke Signale, die darauf hindeuten, dass, wider des Beharrungsvermögens des ökonomischen Mainstream, zeitnah zu entscheiden sein wird, ob Modelle zukünftig weiter nur den hohen Standard der Naturwissenschaft erfüllen müssen oder auch Bedingungen einer Finanzsystemkrise standhalten sollen.

 

Warum ist das, was mathematisch richtig ist, oft falsch? Wie Föllmer (2009) konstatieren auch die Autoren, dass es ad hoc-Antworten auf die Frage, um die sich im Grunde genommen alles dreht nicht gibt. Weil die Natur des Menschen Schuld an den Finanzkrisen ist, wird es letzte Antworten auch niemals geben; die Quantifizierung von Risiken, die sich in Umfeldern entwickeln, die im Sinne der Stochastik nicht normal (nicht messbar) sind, führt ins Prinzipielle und Grundsätzliche. Es ist nicht trivial, dass die Voraussagbarkeit durch Bachelier Modelle in wesentlichen Punkten beschränkt ist, weil einerseits das die Finanzmärkte treibende elementare Muster nicht nachgebildet werden kann, dass Händler Aktien kaufen, wenn sie erwarten, dass deren Kurs steigt und Händler mit ihren Käufen auch entscheiden, ob das geschieht oder ob das nicht geschieht und andererseits die Realität, die neu verstanden werden muss, nicht neu verstanden werden kann, solange das, was nicht in den Setzkasten der Stochastik passt nicht wichtig ist. Auch junge Mitglieder der Bachelier Familie verfeinern nur, ohne zu verändern. Gerade en vogue sind Copulas. Wieder ist der einfältige, stoisch vor sich hin optimierende Durchschnittsakteur am Werk, der die Eintrittswahrscheinlichkeiten aller künftigen Zustände ebenso kennt wie die Struktur des Marktes, den er allein bevölkert. Dies sorgt nicht für die dringend notwendige (Auf)Klärung von Zusammenhängen im Finanzsystem. Klar zu beurteilen ist, ob Modellannahmen realistisch sind oder nicht. Erst dann suggeriert die unfehlbare Mathematik nicht auch dort eine zeitlose Präzision, wo die Voraussetzungen ihrer Gültigkeit entfallen.

 

Die Art und Weise der Umsetzung mathematischer Resultate in den Banken verknüpft die Frage nach der Schuld der Black/Scholes-Formel an Finanzkrisen mit der Frage nach der Rolle der Mathematik. Sind Mathematiker Schuld an Finanzkrisen? Bleibt menschliches Fehlverhalten unbeachtet, betreffen Antworten die subtile Natur mathematischer Realität. Wir folgen Hilbert, der im Jahr 1900 klar gestellt hat, dass die Mathematik neutral bzgl. Anwendungsinhalten ist. Demnach sind Mathematiker an Finanzkrisen so wenig Schuld wie Einstein am Bau der Atombombe. Dass Kursverläufe heute als Diffusionsprozesse auf Basis einer präferenzfreien Dynamik analysiert werden, folgt aus einer Modellierung, die Ökonomen und nicht Mathematiker gewählt haben. Auch ist es nicht das Problem der Mathematiker, dass der Homo oeconomicus ein Theoriezwerg ist und mit diffusen Metaphern wie der unsichtbaren Hand und dem Laplaceschen Dämon sowie Harmonielehren zu Gleichgewichten eine sehr grobe Handlungslogik anzunehmen ist, um die Gesetze der klassischen Mechanik Eins-zu-Eins übertragen zu können. Blinders Einschätzung, dass im Mathematik-Rennen der Forschung das Exakte der Mathematik und das Diffuse der Ökonomie untrennbar miteinander verschmelzen, halten die Autoren für gefährliche Entwicklung. Nicht länger darf es ausschließlich darum gehen, dass komplexe Geschehen am Finanzmarkt durch theoretisch beste Lösungen in mehr oder weniger einfache Formeln zu pressen, wenn der Finanzmarkt in der Praxis nicht einmal zweitbeste Lösungen zulässt. Wie Poincaré stellen auch die Autoren nicht die Mathematik, sondern das bedenkenlose Umsetzen mathematischer Resultate in Frage. Die Frage nach der Schuld der Black/Scholes-Formel an Finanzkrisen ist mit einen klaren „Nein“ zu beantworten. Wie mit der Ist-Situation umgangen werden kann, dass Bacheliers Erben in der Wissenschaft und in den Banken in großen Teilen auch weiterhin im stochastischen Zugang den einzig möglichen Weg sehen, obwohl die Empirie zeigt, dass am Markt mehr Poker als Roulette gespielt wird, wird statt eines Fazits abschließend diskutiert.

 

(Spiel)Analysen verändern

Im Groben stellen kühne ökonomische Annahmen, die Herdenverhalten, Intransparenz, Informationsasymmetrie, Manipulation und Marktmacht ausschließen, und die Vorstellung, dass durch Random Walks am Finanzmarkt kleine Kurssprünge relativ häufiger auftreten als große sicher, dass mit dem Black/Scholes-Modell faire Preise für Optionen berechnet werden können. So weit, so schematisch. Die Praxis sieht bekannter weise anders aus: Die Finanzbranche sitzt in einem Prisoners’ Dilemma, weil in Finanznetzen, die in Realtime getaktet sind, Gleichgewichte immer wieder krass von Spielausgängen abweichen, die alle Akteure besser stellen. Dabei sollte die unbefriedigende Ist-Situation nicht wirklich überraschen, da Modelle, die historische Daten nutzen, um die Zukunft vorherzusagen, mit Veränderungen und neuen Entwicklungen naturgemäß nicht zurechtkommen.

 

Dass Wahrscheinlichkeiten nicht die ganze Wahrheit sein können, impliziert, dass das Risikomanagement sich nicht nur mit dem, was passiert ist, sondern auch mit dem, was jenseits der von Random Walks ausgeleuchteten Pfade passieren kann, auseinandersetzen können muss. Dass stochastische Finanzmodelle keine Kenntnisse über risikogenerierende Prozesse erfordern, macht heute das Credo der 1970er Jahre zur Crux. Damals schrieb euphorisch die New York Times „Soon traders were valuing options on the floor of the exchange, punching half a dozen numbers into electronic calculators hard wired with the formula…Mr. Black and Mr. Scholes became so highly regarded at the exchange that when they visited, traders would give them standing ovation“; heute ist neu zu definieren, was Finanzökonomie umfasst. Für grundsätzliche Lösungen, die erwartet werden, sind Einsichten in Präferenzen und die Gründe für deren Wandel notwendig. Wie kann auf die wahre Struktur der Spiele am Finanzmarkt besser zugegriffen werden als bisher? Wittgensteins Aperçu „Um Antworten auf schwierige Fragen zu finden, muss man beim Irrtum ansetzen und ihn in die Wahrheit überführen“ erhellt die Situation. Da Black/Scholes-Modelle für Casino Games und nicht für Market Games das richtige Framework sind, ist der Irrtum der Ökonomen das Festhalten an ihrer Universalität. Am mephistophelischen Zug „Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr“ ist anzusetzen. Dies mag schwierig erscheinen, weil die Finanzbranche im stochastischen Paradigma bequem und auch lukrativ eingerichtet ist; unmöglich ist es nicht.

 

Wie kann die Finanztheorie, die nicht nur auf Grund dessen was gelehrt wird, sondern auch auf Grund dessen, was nicht gelehrt wird, unter einem spürbaren Legitimationsdruck steht, ihre Defizite überwinden? Da die Marktteilnehmer ihr Verhalten nicht verändern werden und es keine Alternative zu formalen Methoden gibt, ist nicht etwa weniger, sondern, im Gegenteil, mehr und vor allem komplexere Mathematik notwendig. Im Bezugsrahmen der Spieltheorie wird der Wittgensteinsche Irrtum der Finanzökonomen vergleichsweise friktionslos in ein Mehr an Wahrheit transformiert wird, weil bei Knightscher Unsicherheit die Casino Games durch Market Games ersetzt werden können. Die Zweckmäßigkeit der Spieltheorie muss der Test der Zeit zeigen. Wesentlich ist, dass die Spieltheorie weniger Wirklichkeit zerstört als es Black/Scholes-Modelle tun müssen, da in guter Näherung ereignisgenaue Finanz(Spiel)Mo­delle sich nicht aus zu einfachen ad hoc-Settings und Datenhistorien wider den Annahmen der Stochastik formen müssen und dass bei Spielanalysen, wo empirische Fakten, ökonomische Expertise und methodischer State of the Art auszubalancieren sind, mehr Fragen aufgeworfen werden können, als das es Antworten gibt. Letzteres trägt der Tatsache Rechnung, dass die Finanzmarktrealität nicht immer leicht analytisch zu durchdringen ist. Sand im Getriebe stochastischer Routinen muss kein Nachteil sein. An der Wirkungsgrenze des Kalküls ist an Car­dano zu erinnern. Er war Spieler und der vielleicht erste Stochastiker. Sein Rat „Der größte Vorteil erwächst aus dem Spiel, das man gar nicht spielt“, sollte wieder öfter gehört werden.

 

Die Spieltheorie ist ein mit vielen Nobelpreisen ausgezeichnetes dynamisches Forschungsgebiet. Das Spektrum reicht von empirischen Experimenten bis hin zur theoretischen Mathematik. Die Kritik am Stand der Theorie ist im Beitrag ausgeblendet. Manches davon ist auch nur in einem begrenzten Maß gerechtfertigt, da es weniger den Stand der Theorie als vielmehr die Natur der Probleme betrifft (Gintis 2000). Augenfällig lässt „die Natur der Probleme“ das Arbeitspferd der Finanztheorie lahmen. Financial Engineers fällt es erkennbar immer schwerer, dass, was am Finanzmarkt passiert, modelltheoretisch in den Griff zu bekommen. Im Status quo gilt, was Clausewitz für Kriege formulierte: „Jeder neuen Krise wird zunächst mit dem Paradigma der letzten begegnet, ehe sie das eigene prägt“. Finanz(Spiel)Modelle können das an Facetten reiche Set von Preis- und Risikomustern zumindest handhaben.

 

Dass die Spieltheorie das Bewährte wie die Berechnung reiner Optionen mit der Black/Scho­les-Formel unangetastet lässt, verbessert die Finanztheorie iterativ durch Abgleich mit der Re-alität. So wird die scheinbare Alternativlosigkeit stochastischer Finanzmodelle in eine zukünftig notwendige It is better to be roughly right than precisely wrong-Kultur eingebettet. Damit ist die Basis zum besseren Verstehen der grundlegenden Natur der Risiken gelegt. So ist die Breite und Tiefe möglicher Entwicklungen in ihren Chancen und Risiken besser abzuschätzen und besser zu begrenzen als bisher. Quod erat demonstrandum; wie der Mathematiker sagt.

 

Literatur:

Admati, A; Hellwig, M: The banker’s new clothes, Princeton 2013

Bachelier, L: Théorie de la Spéculation, Gauthier-Villars 1900; ders. Théorie mathématique du jeu. in: Annales scientifiques de l’École Normale Supérieure. Sér. 3, Bd. 18, 1901

Bailey, D et al: Pseudo Mathematics and Financial Charlatanism, in: Notices of the American Mathematical Society, Vol. 61, 2014

Bieta, V; Milde, H: Risikomanagement und Spieltheorie, in: Neue Zürcher Zeitung 28.10. 2014; ders. Märkte und Modelle: Vorsicht vor plausiblen Dogmen, in: NZZ 14.11.2014

Blinder, W: After the Music Stopped, Boston 2013

Bookstaber, R: A Demon of Our Owen Design, NY 2011

Fox, J.: The Myth of the Rational Market, NY 2011

Frydman, R.; Goldberg, M: Beyond Mechanical Markets, Oxford, 2011

Gintis, H.: Game theory Evolving, Princton 2000

Haldane A.G.; May R.M.: Systemic risk in banking ecosystems, Nature 469, 2011

Maschler, M et.al: Game Theory, Cambridge Mass, 2013

Föllmer, H: Alles richtig und trotzdem falsch? in: MDMV 17, 2009

Lux, T : The Financial Crisis and the Systemic Failure of Academic Economics, Kiel 2009

Poovey, M.: Can numbers ensure honesty?, in: Notices of the American Mathematical Society, Vol 50, 2003

Shreve, S: Don’t blame the Quants, in: Forbes Magazine, Spring 2009

Stewart, I: The mathematical equation that caused the banks to crash, The Observer: 2/2012 Weisberg, H.: Wilful Ignorance: The Mismeasure of Uncertainty, New Jersey, 2014

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