Leitartikel

Sündenböcke

Was ist der richtige Weg, um auf dem langen Aufstieg an die Spitze von Politik oder Wirtschaft nicht unterwegs zu stolpern? Richtig: niemals schuld sein. Man muss peinlichst genau darauf achten, dass in der Prozess- und Entscheidungskette mindestens noch einer hinter einem selbst steht, auf den man die Schuld - sollte etwas nicht wie geplant gelingen - abwälzen kann.

So bleibt das Ego stark und das eigene Image kratzerfrei. Zumindest nach außen. Vor allem Politiker sind um Ausreden nie verlegen und mit Schuldzuweisungen schnell bei der Hand.

Wer war im Zuge dieser Finanzkrise nicht schon alles schuld. Zunächst einmal die Banken selbst, weil deren kreative Köpfe ihren Job zu gut gemacht, Lücken im dichten Regulierungsnetz gefunden und mit innovativen Produktideen gefüllt haben, die ihnen durchaus wissende Investoren bereitwillig abkauften. Das ist moralisch zweifelsfrei angreifbar und soll nun mittels zahlreicher neuer Vorschriften verhindert werden. Das wird aber nur teilweise gelingen, stattdessen vielmehr zu Ausweichmanövern in weiterhin unregulierte Systeme und Bereiche führen und das Dickicht an Vorschriften nur dichter machen, weil immer mehr Einzelfälle beachtet werden müssen. Aber immerhin hat man gehandelt.

Dann waren und sind natürlich die bösen Spekulanten schuld, die aus schnöden Gewinnmaximierungsabsichten Unternehmen, Staaten oder Währungen in den Abgrund treiben. Wo es einen Käufer gibt, muss es immer auch einen Verkäufer geben. Wo es Zockern gelingt, Spreads auszunutzen, muss es immer auch Unsicherheiten oder Ungleichgewichte geben. In stabilen Verhältnissen wäre dieses Geschäft nicht möglich. Also sollte man lieber über die Ursachen nachdenken und Spekulationsmöglichkeiten aus dem Weg schaffen, statt die Akteure versuchen einzufangen beziehungsweise zu vertreiben. Und dass ein von Renditegier getriebener Privatmann, der sein Geld bei einer ausländischen Bank zu hohen Zinsen anlegt und dieses Ersparte bei Insolvenz des Hauses verliert, von der Bundesregierung entschädigt wird, ein Anleger in Telekom- oder Postaktien die Verluste dagegen selber schultern muss, mag verstehen wer will. Aber Privatanleger sind eben auch nur Wähler.

Dann Aufsichtsbehörden und Wirtschaftsprüfer. Natürlich hätte man sich ein schnelleres und härteres Durchgreifen, ein deutlicheres Nein gewünscht. Natürlich sind die Einen wie die Anderen Teil des Systems und damit im System gefangen, was ein Agieren mitunter schwierig machen kann. Und natürlich sind Fehler passiert, wurden Dinge übersehen oder gar nicht gesehen, wurde beschönigt, geschwiegen und verdeckt. Natürlich wurde zu viel vertraut. Man hätte vieles besser machen können. Aber hätte man die Dinge wirklich verhindern können? Nein, denn das hätte zum einen hellseherischer Fähigkeiten bedurft, um all das vorauszusehen, abzuschätzen und einzupreisen. Und zum anderen unterliegen auch Aufsichtsbehörden und Wirtschaftsprüfer Regeln, müssen sich an Gesetze halten und können nur im Rahmen der Vorschriften agieren. Ob das neue Handwerkszeug, mit dem die Aufpasser und Kontrolleure nun ausgestattet werden, die Welt sicherer und das System stabiler macht, bleibt abzuwarten. Ein gewisses Drohpotenzial in Form beispielsweise eines Restrukturierungsgesetzes hilft aber sicherlich, eine zu selbstbewusste und zu selbstsichere Branche Kreditwirtschaft ein Stück weit zu bändigen.

Mit die beliebtesten Sündenböcke aber sind die Ratingagenturen, wie man aktuell an den auf höchsten Ebenen geführten Diskussionen um die Rettung Griechenlands bestens verfolgen kann. Da fordern doch tatsächlich eine deutsche Bundeskanzlerin und ein deutscher Finanzminister die unabhängigen Bewerter auf, beide Augen zu verschließen und sich der Tragweite ihres Handels bewusst zu sein. Wenn das passieren würde, müsste man die Ratingagenturen auf der Stelle abschaffen, dann wären sie überflüssig, denn man könnte sich künftig eines Urteils nie mehr sicher sein, müsste man doch stets überlegen, welche Hintergründe bei der Notenvergabe eine Rolle gespielt haben könnten. Ratingagenturen müssen emotionslos handeln und auf Basis nachvollziehbarer Kriterien ein Urteil abgeben.

Tun sie das immer zweifelsfrei? Nein. Ist es richtig, dass Ratingagenturen privatwirtschaftliche Institutionen sind? Ja und Nein. Zum einen unterliegen sie damit natürlich gewissen ökonomischen Interessen wie Gewinnerzielung, zum anderen sind sie dadurch aber eben auch nicht direkt an Weisungen von Regierungen oder Ähnlichem gebunden. Vertragen sich Beratungsmandate mit der Unabhängigkeit? Auch Nein. Ist die US-amerikanische Dominanz in diesem Marktsegment hilfreich? Natürlich nicht. Wird hier vielleicht sogar Wettbewerbspolitik zugunsten amerikanischer Unternehmen und Banken betrieben? Wer weiß.

Klar ist: Die Ratingagenturen sind zu mächtig geworden. Daran sind allerdings nicht sie selber schuld, sondern all diejenigen, die die Ratings als einziges und unkritisch hingenommenes Beurteilungskriterium willkommen heißen. Wer zwingt denn die Märkte auf die Benotungen zu hören? Jeder Vorstand kann die Kreditabteilung überstimmen, eine Auszahlung zulassen oder eben verhindern. Allerdings auf eigenes Risiko. Genauso könnte die EZB eine mögliche Herabstufung Griechenlands ignorieren und die griechischen Staatsanleihen weiterhin als Sicherheiten akzeptieren. Im Falle Portugals hat sie das doch auch getan. Entscheidend ist aber, dass Ratingagenturen für ihr Tun zur Verantwortung gezogen werden. Im Falle von nachweislich falschen Urteilen müssen sie für diese haften.

Ein wichtige Rolle in diesem Spiel von Schuldzuweisungen spielen nicht zuletzt auch Öffentlichkeit und Medien. Es ist mitunter schon erstaunlich, mit welch einer Selbstverständlichkeit Halb- oder gar Unwissen verbreitet wird, mit welch einer Geschwindigkeit Meinungen wechseln, wie offensichtlich Menschen manipuliert und benutzt werden, und das alles zugunsten vermeintlicher Schlagzeilen, die in dieser schnelllebigen Zeit am nächsten Tag ohnehin kaum noch jemanden interessieren. Die Halbwertszeit von Zeitungsnews sinkt dramatisch. Warum beispielsweise muss ein Unternehmen rund zwei Jahre vor Ausscheiden des amtierenden Vorstandsvorsitzenden dessen Nachfolger küren? Dann hat man immerhin eine lange Zeit über die vermeintliche "lame duck", die Ungeduld des zukünftigen Chefs, dessen Aktionen et cetera zu berichten. Eine komische Welt.

Irgendwann wird man wissen, wohin das alles führt. Irgendwann, wenn all die feinen neuen Regelungen ihre Wirkung voll entfaltet haben, werden sie (kredit-)wirtschaftliche und damit auch gesellschaftspolitische Strukturen verändert haben. Das wird sicherlich noch einige Zeit dauern. Leider, und dieses leider muss man betonen, wird dann kaum noch einer der heute politisch und anders Verantwortlichen mehr im Amt sein, sodass wieder mal keiner mehr schuld sein wird (kann). Nur die armen Sündenböcke.

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