Gespräch des Tages

Regulierung - "Strich" und "Abgrund"

Welche Rolle sollten Staat und Markt spielen, wenn es um die Gestaltung der Beziehungen unter Wirtschaftssubjekten geht? Diese Frage wurde vor der Wirtschafts- und Finanzkrise dies- und jenseits des Atlantiks unterschiedlich beantwortet. Für den anglo-amerikanischen Kapitalismus galt, dass sich der Staat möglichst wenig einmischen sollte, was bei der Deregulierung der Finanzmärkte offenbar wurde. Die kontinental-europäische Sicht dagegen sah in dem Staat eine gesetzgeberische Regulierungsinstanz, auch wenn die Finanzindustrie aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit immer auf einen Gleichklang pochte. Peer Steinbrück und Hank Paulson, auf deutscher und US-amerikanischer Seite im ersten Schritt verantwortlich für die Bewältigung der Krise, verhielten sich dann aber abweichend von dieser "Theorie" ganz anders.

Die ehemaligen Finanzminister geben in ihren Büchern "Unterm Strich" und "On the Brink" - "Am Rande des Abgrunds" Einblicke in die dramatischen Augenblicke der Bankenrettung, aber auch in eine eher unerwartete Änderung der Einstellungsmuster vieler Beteiligten. So musste sich Steinbrück trotz der immensen Höhe der staatlichen Garantien für die HRE und des Dilettantismus ihrer Manager für deren Verstaatlichung im Deutschen Bundestag rechtfertigen. Und er muss sich bis heute von Vertretern der Deutschen Bank anhören, nie direkt staatliche Hilfe in Anspruch genommen zu haben, obwohl das Institut selbstverständlich von diversen staatlichen Rettungsengagements profitierte. Möglich wird dieser rhetorische Verschiebebahnhof, weil das Finanzmarktstabilisierungsgesetz den Banken einen Zugang zu frischem Kapital ermöglichte, ihn aber nicht vorschrieb, die deutsche Politik mit dieser Freiwilligkeit der Inanspruchnahme also eher "marktkonform" reagierte.

Ganz anders sein Kollege Paulson. Der hielt sich nicht lange mit Politik, man könnte auch sagen mit politischer Ideologie auf, sondern sprach stets von "radikalen Schritten, an die man in anderen Zeiten noch nicht mal zu denken gewagt hätte, die nun aber getan werden müssten". Ausgerechnet der ehemalige CEO von Goldman Sachs setzte die Chefs der neun größten US-Banken so unter Druck, dass sie innerhalb von 24 Stunden insgesamt 125 Milliarden US-Dollar als staatliche Kapitaleinlage in

ihre Banken akzeptierten. Und trotz umfänglicher Rettungspakete prallten an ihm Vorwürfe des "Finanzsozialismus" und "Un-amerikanischen Vorgehens" regelrecht ab. Paulson: "Um kritische Entscheidungen treffen zu können, ist es immer schwierig, die richtige Mischung aus politischen Überlegungen, den Bedürfnissen des Marktes und den politischen Realitäten zu finden. Ich tendierte dazu, die Politik an die letzte Stelle zu setzen ...". Der Minister zwang Kapital auf - und handelte damit schlichtweg "staatskapitalistisch". Fazit: Wo weniger Staat "drauf" steht, kann durchaus mehr Staat "drin" sein - und umgekehrt. Bettina Wieß

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