Aufsätze

Regenschirme, Rettungsschirme

Der fühlbare Verlust der Glaubwürdigkeit von Politikern, EZB-Führung und EU-Institutionen bei den Maßnahmen zum Erhalt der Währungsunion beruht auf dem Bruch von drei angeblich ehernen Zusicherungen. Vor Einführung des Euro waren sie als Sicherungskomponenten in das Eurosystem gefügt und als solche in der Öffentlichkeit propagiert worden. Zum einen: die zentrale Rolle des Zinses als Disziplinierungsmittel für laxe Haushaltsführung. Zum anderen: das Verbot der Schuldenübernahme durch Mitgliedsstaaten für andere. Als drittes Element: der Bestand europäischen Primärrechts, zu dem die Vorschriften der Währungsunion gehören. Bei allen drei Faktoren handelte es sich um Kernelemente in der politischen "Verkaufsstrategie" für die einheitliche Währung gerade in den Hartwährungsländern - vornehmlich um in der Bundesrepublik Deutschland den Widerstand in der Bevölkerung gegen einen Austausch der Deutschen Mark abzubauen.

Zinsen und Märkte

Von Anbeginn spielte bei den Diskussionen um die Erörterung der Stabilität des neuen Währungssystems der Zins eine entscheidende Rolle. Mängel der Konstruktion, Defizite im Verständnis der Südländer gegenüber einer Stabilitätskultur, nicht zuletzt das Fehlen eines Automatismus von Sanktionen gegenüber laxer Haushaltsdisziplin würden wettgemacht durch die Disziplinierung seitens der Märkte: Die Mitgliedsstaaten, die ihre Kriterien für die Staatsverschuldung nicht einhielten, unterlägen dem klaren und gnadenlosen Urteil der Kapitalgeber. Kurz und bündig: Erhöhte und nicht vertretbare Verschuldung führe zu erhöhten Risiken für Staatspapiere und damit zu einem höheren Aufschlag auf den hierfür entrichteten Zins. Sehr bald werde dies einen auf abschüssigem Stabilitätsweg befindlichen Mitgliedsstaat zur Umkehr zwingen, schon allein durch den schwindenden Spielraum der politischen Gestaltungskraft in Form des hierfür zur Verfügung stehenden freien Teils des Staatshaushaltes. Dessen wachsend größeren Anteil werde dann der Schuldendienst einnehmen.

Heute ist bekannt: Dieser Mechanismus hat lange nicht funktioniert. Der Zins blieb für Defizitländer niedrig. Der Grund: Man betrachtete die Staaten innerhalb des Währungsverbundes als "Schicksalsgemeinschaft" (so wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Maastricht-Urteil mit freilich anderem Blick ausgedrückt hatte). Folge davon war, dass auch die Schulden fälschlich als Element unter einem gemeinsamen EU-Dach angesehen wurden. Das böse Erwachen der Euromärkte ähnelt einem Vorgang in den späten Jahren des Ost-West-Gegensatzes: Unter dem "Regenschirm" (wie die Begriffe einander gleichen) des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, RGW-Comecon, dem ökonomischen Schwesterinstrument des sowjetischen Militärbündnisses in Form des Warschauer Paktes, wurden auf den Märkten die Schulden der Teilnehmerländer im "Sowjetblock" lange Zeit gleichfalls zusammengerechnet. Geradestehen werde hierfür nach der sogenannten "Regenschirmtheorie" zuletzt die Sowjetunion. Diese Theorie brach auseinander, weil die Sowjetunion ihre Zahlungsbereitschaft für andere infrage stellte - und die Kapitalgeber für "Ostblockstaaten" und deren verstaatlichte Industrien neue Rechnungen aufmachen mussten. Was war etwa eine Forderung gegen einen Comecon-Staat unter den neuen Parametern wert? Flugs kursierte eine "schwarze Liste" - unter den Kreditgebern und auch bei der Bankenaufsicht, von der lange Zeit behauptet wurde, sie existiere nicht.

Richtige Einrichtung der Märkte

Waren etwa Abschläge auf Polenkredite geringer anzusetzen, als die auf Bulgarien? (Jugoslawien spielte eine Sonderrolle, wie stets - aber da stand noch der Zerfall in Teilrepubliken bevor.) Nicht nur die Bonität des Staates und seiner Wirtschaft war zu prüfen, sondern auch seine Fähigkeit, Valuta-Kredite in harter Währung zurückzuzahlen (was heute - noch - nicht beschäftigt, so lange ein angeschlagener Teilnehmerstaat in der Eurozone verbleibt und nicht etwa währungsrechtlich möglicherweise problematische Änderungen der Denomination für die Rückzahlung vorsieht).

Als die Märkte gegenüber Irland, Griechenland, Spanien, Portugal und etwa Italien "aufwachten", als die gesamtwirtschaftlichen Rechnungen die Verschuldungssituation dieser Staaten aufdeckten, als die Märkte sie aufnahmen, das systemgewollte Ansteigen des Zinses infolge des Risikos (!) eintrat und das "Disziplinierungsmittel" des Zinses zu greifen begann, als die "spreads" zwischen den Teilnehmerstaaten wegen der Risiken in die Höhe schossen - da handelten plötzlich die Märkte angeblich "spekulativ" und "unberechenbar". Da wurde den stabilitätsbewussten Ländern vorgehalten, sie finanzierten sich und ihren Haushalt auf Kosten der in Not geratenen.

Aber: Der Kapitalverkehr ist frei. Auch hier reagierten die Märkte richtig. Kapital ist nicht nur scheu wie ein Reh, sondern es soll (das "Weißbuch" der Kommission zur Einführung des Binnenmarktes zielt mit Recht darauf ab) zum rentabelsten und sicheren Ort fließen. Das tut es nun (wenngleich von Rentabilität bei zehnjährigen Bundesanleihen unter Berücksichtigung der Inflationsrate und des Steuerabschlages keine Rede mehr sein kann). Für viele ist die magere Nominalrendite indes noch besser, als zum geschorenen Gläubiger einer maroden Bank zu werden.

Die EZB nahm den Kampf gegen diese "Verzerrungen" auf. Das Zinsniveau sollte - entgegen den Marktentwicklungen - durch Operationen (die bekannt sind) innerhalb der Eurozone möglichst angeglichen werden ... Keine Rede ist dort mehr von "disziplinierendem Zins" als erwünschtem Mittel der Fiskalpolitik- umso mehr aber von der Disziplinierung unverantwortlich handelnder Märkte. Die hatten übrigens spät die richtige Einschätzung für das entstandene Risiko als Zinsaufschlag getroffen: Man prüfe einmal den Verlust, den der Gläubiger einer Griechenlandanleihe erlitten hat. Ihn illustriert trefflich der unterhaltsame und lesenswerte Bericht eines Redakteurs einer Zeitung. Er schenkte der politischen Versicherung Glauben, kaufte Griechenland-Anleihen - und musste dann seinen "haircut" besonderer Art hinnehmen. Die (noch) gut Davongekommenen haben für ihr Zittern und Zagen nach üblichen Kriterien einen Zuschlag mehr als verdient.

"Non-Bail-out"

Der Vertrag von Maastricht, integriert in die Gemeinschaftsverträge, samt der Satzung der Europäischen Zentralbank, stellt sogenanntes "Primärrecht" dar. Cum grano salis: Primärrecht bildet das Grundgesetz der Europäischen Union. Was im Primärrecht steht, bedarf zu Änderungen grundsätzlich eines vertragsändernden Verfahrens. So konnte der damalige Bundes minister der Finanzen bei Abschluss der Verhandlungen zur Währungsunion behaupten, Bestand und Aufgaben der EZB seien besser abgesichert, als die entsprechend einfach gesetzlichen Regelungen über die Deutsche Bundesbank im bundesrepublikanischen Rechtssystem (in Kenntnis einer periodisch aufflackernden Kontroverse hierüber).

Hierzu gehört das "Bail-out-Verbot". Das Verbot des "Bail-out", des "Herauskaufens" eines Mitgliedsstaates durch Übernahme der Schulden durch einen anderen, dient der Disziplinierung von Haushaltssündern. Würde man das Herauskaufen zulassen, so würde dies die Vorstufe zu einer Solidarhaftung der Mitgliedsstaaten, jedenfalls aber zu einer Entlastung von der Zinsdisziplinierung und den Haushaltszwängen des Sünderstaates führen. Dasselbe trifft zu, wenn die EZB entgegen dem Verbot Staatspapiere eines solchen Mitgliedsstaates ankauft.

Die Praxis der nationalen Regierungen, ihre Abstimmungen sowie die EU-Institutionen und vor allem der EZB hat diese Verbote über Bord geworfen. Das geschah nicht etwa unter Eingestehung des Regelbruchs. Vielmehr wurden Ziel und Zweck ausgetauscht. Man tritt danach nicht an, um in Not geratene Defizithaushalte zu entlasten, sondern um wild gewordene Märkte zu disziplinieren, die Ordnung auf den Finanzmärkten sicherzustellen und den Euro zu retten. Leider muss man dann eben aus dieser Sicht die heiklen Hebel des Vertrages, die das "Bail-out" und die Staats finanzierung durch Notenbankkredite verbieten, anpacken und umbiegen: Der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB liege im Rahmen ihres Mandats, um Preisstabilität zu wahren, heißt es aus dem Munde eines prominenten EZB-Spitzenbeamten.

In jahrzehntelanger währungsrechtlicher Tradition und hiesiger Notenbankpraxis als "Blaupause" für den Rechtsrahmen der EZB hatte sich dagegen herausgebildet, dass gerade die Staatsfinanzierung durch Notenbanken das währungspolitische Grundübel für die Erhaltung des Geldwertes sei. Die EZB versucht, dieses Grundübel und dem damit gegebenen zunehmenden Einfluss auf die Fiskalpolitik, aber auch durch die Fiskalpolitik zu entschärfen, indem sie eine Neutralisierung durch entsprechende nachfolgende Marktoperationen, das "Sterilisieren" verspricht. Sie legt damit selbst den Finger in die Wunde (die längst schwärt): Verlust der währungspolitischen Neutralität. Die Deutsche Bundesbank hat - wie jüngst berichtet - dies in einer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben.

Der Vertragsbruch

Hierfür verschieben die Akteure eklatant die Instrumente. Es geht demnach nicht mehr um den Wortlaut des EU-Vertrages. Es geht auch nicht um die im Wertungsgrad weit gewichtigere Auslegung nach Sinn und Zweck der Vorschrift. Vielmehr wird ein grundlegendes Prinzip außer Kraft gesetzt. Es heißt: Eine verbotene Maßnahme darf nicht ergriffen werden, um ein gesetzliches Ziel zu erreichen. Nunmehr lautet es umgekehrt, die Verfolgung des gesetzlich vorgegebenen Ziels rechtfertige auch den Einsatz pönalisierter Instrumente.

Hätte das Heer von Köpfen, das die bisherige alternativlose Rettungspolitik erdenkt, entwirft, umsetzt und vertritt, wenigstens die Problematik öffentlich gemacht. Hätte man wirklich gesagt, die entstandene Lage sei in keinem Drehbuch vorgesehen. Würde ein Vertreter der EZB in einem Radiointerview im Herbst vergangenen Jahres nicht nur sinngemäß gesagt haben, was geschehen sei und geschehen werde, könne man in keinem Lehrbuch lesen, sondern: Hätte man zur Rechtfertigung der Rettungspolitik wenigstens die Grundlage geschaffen, um aus dem Extrakt von Völkerrecht, Europarecht als supranationalem Geflecht und europafreundlicher Auslegung des nationalen Rechts eine glaubhafte Konstruktion für einen rechtlich vertretbaren Nothilfe-Anker entwickelt - es wäre besser gewesen für die breite Akzeptanz der getroffenen Maßnahmen. Noch wichtiger wäre es gewesen für die Achtung und Bewahrung von Rechtskultur und Rechtsstaatlichkeit.

Da die Eurokrise nach der Einschätzung aller Seiten noch kein Ende gefunden hat, könnte man künftig einiges von dem beherzigen, was insoweit als Erkenntnis aus den ersten Jahren verblieben ist: als "Regenschirm" neuer Art sozusagen.

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