Leitartikel

Instrumente für den Blick auf das Ganze

Dem großen Ansehen der Deutschen Bundesbank in der Öffentlichkeit hat die Abgabe von geldpolitischen Kompetenzen an die EZB offenbar keinen Abbruch getan. Denn trotz Finanzkrise und all den unerfreulichen Belastungen, die die Politik und die Regulatoren den Bürgern und der Wirtschaft in regelmäßiger Dosierung verordnen, sehen 97 Prozent der Bevölkerung in der Notenbank immer noch eine mehr oder weniger unantastbare Instanz. In seinen Ausführungen zum Thema Banken und Vertrauen zur 58. Kreditpolitischen Tagung der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen (Beiträge in diesem Heft) hat das für Finanzstabilität verantwortliche Vorstandsmitglied Andreas Dombret diesen ungeheuren Vertrauensvorschuss seines Hauses zwar nur beiläufig erwähnt. Doch er weiß genau um die vertrauensbildende Wirkung der Analysen, Beurteilungen, Mahnungen und Empfehlungen der Bundesbank. Entsprechend ernst genommen wird am Markt die Einschätzung der aktuellen Bedrohungslage im Finanzstabilitätsbericht 2012. Als größte Gefahr wird weiterhin die europäische Staatsschuldenkrise eingestuft, aber auch dem Niedrigzinsumfeld einschließlich gewisser Übertreibungen an den Immobilienmärkten sowie einmal mehr dem Schattenbankensystem gilt genaue Beobachtung.

Dass die Bundesbank überhaupt solche Bedrohungspotenziale der Finanzstabilität identifiziert, ist dem im vergangenen Jahrzehnt gestiegenen Stellenwert der makroprudenziellen Überwachung zu verdanken. Haben sich die Bankenaufseher bisher mit dem Blick auf Einzelrisiken beziehungsweise der Risikolage einzelner Banken oder allenfalls der Bankengruppen begnügt, liegt das Augenmerk nun auch auf den sogenannten systemischen Risiken, also den "Wechselwirkungen zwischen und innerhalb der drei Komponenten des Finanzsystems: Intermediäre, Finanzmärkte und finanzielle Infrastruktur" wie im Vorwort des ersten eigenständigen Finanzstabilitätsberichtes 2005 betont wurde. Dabei ist der Begriff "makroprudenziell" im ersten Vorläuferbericht - damals noch im Monatsbericht Dezember 2003 veröffentlicht - überhaupt noch nicht aufgetaucht. Ein knappes Jahr später (Monatsbericht Oktober 2004) wurde im Zusammenhang mit dem vom IWF initiierten Projekt der Financial Soundness Indicators (FSI) von einem umfassenden makroprudenziellen Analyserahmen gesprochen. Seither gehört dieser ganzheitliche Blickwinkel auf die Risiken für Finanz stabilität fest zum Repertoire der Aufseher, also schon vor Beginn der Suprime-Krise.

Richtigen Schub bekommen hat die makroprudenzielle Betrachtung dann im Zuge der Aufarbeitung der Finanzkrise mit dem Finanzstabilitätsbericht 2009. Spätestens dort wurde die Einsicht verbreitet, dass es zur Gewährleistung von Finanzstabilität unabdingbar ist, die Einzelinstitutsüberwachung durch eine makroprudenzielle Aufsicht mit einem systemischen Blickwinkel zu ergänzen. Der Begriff der makroprudenziellen Analyse gehört seither zum Standardprogramm der Finanzstabilitätsberichte. Und es laufen Bestrebungen, dieses Element in die gelebte Aufsichtspraxis einzubringen. Nach Zustimmung durch den Bundestag Ende Oktober und den Bundesrat Ende November 2012 hat es mittlerweile seinen Niederschlag im Gesetz zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht gefunden. Mit diesem eigenständigen Mandat sind in Deutschland die Rahmenbedingungen geschaffen, auf deren Basis konkrete Instrumente für eine nationale makroprudenzielle Politik festgelegt werden können. Wenn der zugehörige Instrumentenkasten konkret bestückt ist, kann ein neu zu schaffender Ausschuss für Finanzstabilität (AFS - mit je drei Vertretern von BMF, Bundesbank und BaFin) künftig den deutschen Banken möglicherweise einen kleineren Kredithebel oder ein höheres Eigenkapital vorschreiben oder im Falle einer ausgemachten Immobilienkrise vielleicht die Einhaltung bestimmter Beleihungsgrenzen bei der Kreditvergabe im Wohnungsbau.

Das Bedrohungsszenario einer länger anhaltenden Niedrigzinsphase hat die Bundesbank bereits im Finanzstabilitätsbericht 2010 gezeichnet. Schon dort wurde eine Erosion der Ertragslage für Banken und Versicherer befürchtet und auf sonstige unerwünschte Nebenwirkungen hingewiesen. Heute skizziert die Bundesbank angesichts des anhaltenden Niedrigzinsumfeldes für beide Branchen mögliche Szenarien einer Umschichtung finanzieller Mittel von niedrig verzinslichen, aber vergleichsweise sicheren Anlagen in höher rentierliche, aber riskantere Assets. Für möglich hält die Notenbank aber auch eine Ertragserosion durch die von höheren regulatorischen Eigenkapitalanforderungen getriebene Verlagerung der Geschäftsausrichtung in risikoaber auch margenärmere Geschäftsfelder. Und nicht zuletzt könnte es auf mittlere Sicht zu einem verschärften Wettbewerb mit Versicherern kommen, die ihrerseits mangels Renditeaussichten der traditionellen Assetklassen ihrer Kapitalanlagen über die Erschließung neuer Geschäftsfelder wie Finanzierung von Infrastruktur und Immobilienprojekten oder sogar Kreditvergabe an Endkunden nachdenken.

Inzwischen hat sich offenbar das Gefährdungspotenzial des niedrigen Zinsumfeldes auch mit Blick auf mögliche Übertreibungen am Wohnimmobiliensektor verfestigt. Zwar sieht die Bundesbank im aktuellen Finanzstabilitätsbericht das derzeitige Preisniveau an den deutschen Immobilienmärkten noch im Einklang mit Fundamentaldaten wie den wachsenden Bruttolöhnen und Gehältern, einer steigenden Zahl von Haushalten und Sonderentwicklungen in einigen Ballungsräumen, wie etwa Vorzieheffekten angesichts des niedrigen Zinsniveaus. Und auch die moderate Steigerung der Wohnimmobilienkredite um 1,2 Prozent im Jahr 2011, die traditionell langfristige Zinsbindung bei der Baufinanzierung sowie der in Deutschland übliche begrenzte Fremdfinanzierungsanteil bestärken sie derzeit noch darin, von Gegenmaßnahmen abzusehen. Doch sie verweist auch auf eine längerfristig absehbare Dämpfung der Wohnraumnachfrage durch die ungünstige demografische Entwicklung sowie auf die Gefahr einer Bildung von Klumpenrisiken bei Banken im regionalen Bereich, deren Kreditvolumen in hohem Maße aus der Wohnungsbaufinanzierung generiert wird.

Mit dem gesetzlichen Auftrag zur Überwachung der Finanzstabilität darf der AFS künftig Warnungen und Empfehlungen geben. Und vor dem Hintergrund der konkreten Bedrohungsszenarien wird sicher schon lebhaft über die konkrete Ausgestaltung des Instrumentariums der makroprudenziellen Überwachung nachgedacht. Doch die erhoffte Gesamtwirkung, sprich die ersehnte Vertrauensbildung an den Märkten, wird letztlich davon abhängen wie die Marktteilnehmer all die nationalen und internationalen Regularien in der täglichen Praxis ganz persönlich leben. Vertrauen erwächst aus guter Arbeit. Viele kluge (Selbst-) Erkenntnisse und hehre Vorsätze dazu werden in den Beiträgen dieses Heftes angesprochen. Um es mit Johannes zu Eltz zu formulieren: Anstand muss Methode haben.

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