Schwerpunkt: Herausforderung Wirtschaftsarchitektur

Bauen im Bestand - Zukunftsaufgabe für Planer

Die Menschheit hat über Jahrtausende wie selbstverständlich an-, um- und weitergebaut und damit gute Ergebnisse erzielt. Vergegenwärtigen wir uns die Städte, die über das Mittelalter, die Renaissance, den Barock und den Klassizismus immer weiter gewachsen sind, ergänzt wurden und sich verändert haben zu dem, was wir an der sogenannten "europäischen Stadt" so schätzen.

Warum haben wir Respekt vor dem Bestand und wie können wir dennoch zeitgenössische Standards in den Bestand integrieren? Was benötigen wir dazu in der Bauforschung, der Lehre und wie sieht das Selbstverständnis des Berufsstands aus? Was müssen wir der Gesellschaft vermitteln, damit Bautraditionen erhalten bleiben beziehungsweise fortgeführt werden können? Wo müssen wir gezielt mit Lobbyarbeit ansetzen, um suboptimale Voraussetzungen zu verbessern? Das ist ein weites Feld, in dem wir uns schon heute bewegen und künftig verstärkt agieren müssen.

In Baden-Württemberg wurden im Jahr 2011 immer noch täglich 6,3 Hektar Naturraum vor allem für Baugebiete, Verkehrs- sowie Erholungsflächen neu genutzt - das entspricht einer Fläche von neun Fußballfeldern. Zwar sinkt der Flächenverbrauch seit vier Jahren, doch die Revitalisierung von Brachen wird auch zukünftig eine zentrale Rolle spielen. Hier liegt die Herausforderung für eine zeitgemäße und das heißt vor allem flächensparende Siedlungsentwicklung. Wir müssen es schaffen, der Innenentwicklung und insbesondere dem Flächenrecycling, also der Wiedernutzbarmachung vorgenutzter und auch belasteter Flächen, Vorrang zu geben.

Revitalisierung von Brachen

Damit ist ein weiteres Stichwort bereits gefallen - die Innenentwicklung, die in unseren Städten und Gemeinden nun (vor der Außenentwicklung) vorrangig zu verfolgen ist. In der letzten Novellierung des Baugesetzbuches wurde deshalb für die Wiedernutzbarmachung von Flächen, die Nachverdichtung oder für andere Maßnahmen der Innenentwicklung ein beschleunigtes Verfahren zur Aufstellung von Bebauungsplänen eingeführt. Auch die Vereinfachung des Abstandsflächenrechts (durch den Wegfall des nicht nachbarschützenden Teils der Abstandsfläche) in der baden-württembergischen Landesbauordnung dient der Innenentwicklung.

Bereits seit vier Jahrzehnten, nämlich seit Inkrafttreten des Städtebauförderungsgesetzes im Jahr 1971, wird - nicht nur in Baden-Württemberg - die städtebauliche Erneuerung gezielt betrieben und staatlich gefördert. Auch sie dient zur Stärkung der Innenentwicklung und zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrszwecke und unterstützt die Städte und Gemeinden bei der Bewältigung des wirtschaftsstrukturellen und demografischen Wandels.

Dass die Innenentwicklung nicht nur propagiert wird, sondern schon eindrücklich stattfindet, ist in den Auszeichnungsverfahren "Beispielhaftes Bauen" in den letzten Jahren mit zunehmender Tendenz zu erleben: Wohnhäuser, die auf Restgrundstücken in bestehende Siedlungen integriert werden, Erweiterungsbauten für Unternehmen, Kirchenraummodernisierungen, Mensagebäude für Schulen und so weiter. Auch beim alljährlich Ende Juni bundesweit stattfindenden Tag der Architektur stehen immer wieder zahlreiche gelungene "Anbauten, Umbauten und anderes Weitergebautes" auf dem Besichtigungsprogramm.

1975 löste das Europäische Denkmalschutzjahr einen wahren Denkmalpflegeboom aus, der seinerzeit nicht zuletzt dem Protest gegen eine verfehlte Städtebaupolitik zu verdanken war. Die heutige Situation ist eine wesentlich schwierigere und die zunehmende Neigung zu Rekonstruktionen führt tendenziell sogar zu einer Gefährdung der überkommenen Substanz, da hierdurch suggeriert wird, ein Denkmal könne beliebig wiederhergestellt werden. Vorhandene Bausubstanz zu erhalten beziehungsweise im Hinblick auf eine zeitgemäße Nutzung zu sanieren und damit im Sinne nachhaltiger Stadtentwicklung ressourcenschonend zu handeln, ist eine wesentliche Aufgabe von Denkmalschutz und Denkmalpflege.

Doch was nützen Engagement und Fördermittel, wenn es an Fachleuten in der Verwaltung fehlt? Zwar ist die Aufstockung des Denkmalförderprogramms positiv zu werten, jedoch ist für eine sinnvolle Umsetzung eine ausreichende Anzahl qualifizierter Berater in den Denkmalschutzbehörden zwingend erforderlich. Denn immer wieder kommt es zu Engpässen bei der Bearbeitung von Anträgen. Darüber hinaus wird die vom Land forcierte Innenentwicklung ausgebremst, wenn die Denkmalschutzbehörden nicht innerhalb der vorgegebenen Fristen die erforderlichen Stellungnahmen abgeben können. Dies ist ein kleines Beispiel für die Lobbyarbeit der Kammern.

Ein weiteres ist das stetige Werben, manchmal auch Mahnen, im Baubestand nicht auf Teufel komm raus zu dichten und zu dämmen, um auch noch die letzte Kilowattstunde Energie einzusparen. In Richtung Gesetzgeber empfiehlt die Architektenkammer die Weiterentwicklung der EnEV mit Augenmaß zu betreiben, am besten am Bestand und weniger am Neubau orientiert. Ansonsten verschreckt man die Immobilienbesitzer anstatt sie zu motivieren, in die energetische Modernisierung ihrer Gebäude zu investieren. Zum anderen empfehlen sich Architekten für die Planung dieser Maßnahmen. Denn sie fühlen sich verpflichtet, dem zunehmend unkritischen Umgang mit der Gebäudesubstanz entgegenzuwirken. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Kommunen zwar für den Klimaschutz dicht und gedämmt, jedoch anschließend "gesichtslos" sind.

Nachhaltigkeit

So mancher Bauherr fragt schon heute, ob sich das Bauen im oder besser mit dem Bestand überhaupt lohnt. Es gilt die Devise von Radio Eriwan: "Im Prinzip ja." Schalten Sie jetzt bitte nicht ab, wenn an dieser Stelle der mittlerweile ziemlich "grün gewaschene" Begriff der Nachhaltigkeit ins Spiel gebracht wird. Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur die Berücksichtigung ökologischer Belange, sondern eben auch ökonomischer und soziokultureller Aspekte. Die Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (kurz: DGNB), zu deren Gründungsmitgliedern die Architektenkammer Baden-Württemberg gehört, hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, Wege und Lösungen aufzuzeigen und zu fördern, die nachhaltiges Bauen ermöglichen. Dies betrifft die Planung von Gebäuden ebenso wie deren Ausführung und Nutzung.

Das Ziel von nachhaltigem Bauen ist vor allem Qualität - und dies in einer umfassenden und langzeitigen Perspektive. So sind nachhaltige Gebäude wirtschaftlich effizient, umweltfreundlich und ressourcensparend. Sie sind für ihre Nutzer behaglich und gesund, und sie fügen sich optimal in ihr soziokulturelles Umfeld ein. Damit behalten nachhaltige Gebäude langfristig ihren hohen Wert - für Investoren, Eigentümer und Nutzer gleichermaßen. Investoren haben deshalb Zertifikate für ihr Marketing entdeckt.

Die Bundesarchitektenkammer ist auch in diesem Jahr auf der Expo Real mit der DGNB auf einem Gemeinschaftsstand vertreten. Denn: Da sich die Rahmenbedingungen der Bauwirtschaft künftig stark wandeln werden, ist dieser langfristige Nutzen für alle Beteiligten von großer Bedeutung. Rund ein Drittel des Ressourcenverbrauchs in Deutschland geht allein auf das Konto von Gebäuden; im gleichen Maße gilt dies für CO2-Emissionen, Abfallaufkommen et cetera. Angesichts von Klimaschutzzielen und Ressourcenverknappung werden gesetzliche und normative Vorgaben weltweit deutlich zunehmen. Vor diesem Hintergrund zielt nachhaltiges Bauen also einerseits auf eine hohe Qualität und Werthaltigkeit von Gebäuden und stellt sich andererseits vorsorgend auf künftige Entwicklungen ein. Nachhaltiges Bauen entlastet die Umwelt, sorgt für gesellschaftlichen Nutzen und unterstützt die Wirtschaft - mit oder ohne Zertifikat.

Bauen im Bestand beziehungsweise Bauen mit dem Bestand - beides lohnt sich. Neubauten nachverdichtend zwischen bestehende Gebäude einzufügen oder im Bestand an- und umzubauen, sind allesamt spannende Aufgaben. Und sie stellen in der Regel eine größere Herausforderung dar als auf der "grünen Wiese" zu planen. Beim Bauen im und mit dem Bestand gibt es keine Standardlösungen. Vielmehr gilt es, die Balance zu finden zwischen Erhalt und Innovation, zwischen Sanierung und neuer Architektur, zwischen dem historischen Charakter eines Gebäudes und seinem aktuellen Stellenwert. Das erfordert von Architekten eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Konzept eines Gebäudes selbst und mit seiner Umgebung, das heißt auch mit allen Gegebenheiten seiner Entstehungszeit.

Qualifikation der Architekten

Bauen mit dem Bestand erfordert ein möglichst breites, aber auch vertieftes Wissen über die sozialen Umstände, die technischen Möglichkeiten und die Vorlieben der jeweiligen Epoche. So manches Standardwerk der Baukonstruktionslehre aus dem Studium wird wiederentdeckt werden. Das Bauen mit dem Bestand erfordert außerdem viel Kreativität. Ein Blick aufs Land: Dort, wo zum Beispiel Bauernhöfe in großer Zahl brachfallen, ist nicht nur das Ortsbild, sondern auch die traditionelle Kulturlandschaft in Gefahr. Dazu braucht es natürlich auch Bauherren, die sich nicht scheuen, ein altes Haus zu erwerben und die Bausubstanz an ihre Bedürfnisse anzupassen. Hierzu wiederum braucht es Architekten mit einer fundierten Ausbildung, die sich auch nicht scheuen, sich weiterzuqualifizieren, die kreativ entwerfen, integral planen und teamfähig sind.

Da wir künftig überwiegend im Bestand bauen werden, braucht es aber noch etwas anderes ganz dringend: eine institutionalisierte Qualitätssicherung. Denn bei aller persönlichen Verantwortung der an Planung und Bau Beteiligten für die Belange der Gesellschaft und der gebauten Umwelt: Baukulturelle Verklärung ist beim Bauen eher eine Seltenheit, weil es in der Regel immer auch um Werte, um wirtschaftliche Interessen, um Renditen, Vermarktungschancen und -risiken geht.

Umso wichtiger erscheint vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Interessen auf der einen und der bezüglich Stadtentwicklung und -gestaltung fachlich nicht selten überforderten Entscheidungsträger auf der anderen Seite eine möglichst unabhängige Beratung durch Fachleute, zum Beispiel durch sogenannte Gestaltungsbeiräte. Solcher Rat zu Fragen der Verträglichkeit und Vertretbarkeit von Baumaßnahmen darf keinesfalls aus Opportunitätsgesichtspunkten von Eigeninteressen unterlegt sein. Und selbstverständlich darf ein solches Beratungsgremium nicht selbst die Entscheidungen fällen, sondern es muss die demokratisch gewählten Entscheidungsträger durch fundierte, das heißt wohlbegründete Beratung von der Richtigkeit seiner Empfehlungen überzeugen.

Gestaltungsbeiräte für den Städtebau

Um den vom Gesetzgeber vorgegebenen baukulturellen Auftrag erfüllen zu können, werben die Architekten mit allem Nachdruck für die Einsetzung von Gestaltungsbeiräten für Kommunen. Sie tragen in ihrem Zusammenwirken von fachlichem Sachverstand und politischem Entscheidungswillen dazu bei, das Bewusstsein für Planungs- und Gestaltungsfragen bei den Bürgern zu fördern, vorausschauend, verantwortungsbewusst und nachhaltig die Entwicklung der gebauten Umwelt unserer Städte und Gemeinden voranzubringen und nicht zuletzt Ideen und Visionen mutig Wirklichkeit werden zu lassen, die sich ohne diese gemeinsamen Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse nicht in die Realität umsetzen ließen.

Und noch ein Argument für die Schaffung von Gestaltungsbeiräten: Man sollte Entscheidungen mit Langzeitwirkung über Ortsbild prägende Objekte (und die Halbwertzeit von Architektur ist eben nun einmal beachtlich) nicht allein den Verwaltungen, nicht allein den Investoren oder Nutzern und übrigens auch nicht allein den Architekten und Stadtplanern überlassen. Um Kommunen auf den Geschmack zu bringen, bietet die Architektenkammer Baden-Württemberg seit diesem Jahr einen Gestaltungsbeirat "to rent", gewisser maßen zum Ausprobieren, an.

Die sogenannte "Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt" (entstanden im Mai 2007 im Rahmen eines informellen EU-Bauministertreffens in Leipzig) stellt als eine ihrer Kernaussagen fest: "Die Stadt muss schön sein... Gerade auch unter dem Aspekt des zunehmenden Standortwettbewerbs zwischen Städten wird der baukulturelle Aspekt der Stadtentwicklung immer wichtiger. Baukultur ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Baukultur gibt Impulse für Wachstum - in Zeiten, in denen es überall alles gibt, werden bauliche Qualitäten zu strukturpolitischen Instrumenten."

Baukultur ist kein Luxus

An Stadtplaner und Architekten, private Bauherren wie öffentliche Auftraggeber ergeht der Appell, Wege zur Qualitätssicherung, besser noch zur Qualitätssteigerung zu beschreiten und Instrumentarien zu schaffen, die unsere Städte und Gemeinden liebens- und lebenswert erhalten oder überhaupt erst machen. Ortsbildprägende Bestandsbauten spielen dabei als Identifikationsmerkmale eine ganz besonders wichtige Rolle - sie bei Bedarf zu revitalisieren macht Sinn. Es lohnt sich.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X