Leitartikel

Vom Wandel des Börsengeschäfts

Die Börse ist tot - zumindest ein symbolträchtiger Teil von ihr. Das altbekannte Bild des Maklers mit Kurszettel und Telefonhörer in der Hand wird es in Frankfurt nicht mehr geben, seitdem die Deutsche Börse den Präsenzhandel Ende Mai durch ein Modell auf Basis der hauseigenen Xetra-Plattform ersetzt hat. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht für den Handelsplatzbetreiber ist dieser Schritt dringend notwendig. So hat die Deutsche Börse auf dem Parkett im vergangenen Jahr nämlich gerade einmal fünf Prozent des gesamten deutschen Wertpapierhandels auf sich gezogen, Tendenz - wie schon in den Vorjahren - fallend. Zum Vergleich: Der Anteil von Xetra lag bei deutlich mehr als 80 Prozent.

Unter dieser Entwicklung gelitten haben auch die Erträge auf dem Parkett. Gelingt es mit dem Umstieg auf die vollelektronische Plattform, die Qualität zu steigern und so Marktanteile zurückzugewinnen, stärkt das Frankfurt als Finanzplatz und kommt allen Marktteilnehmern zugute. Auch durch den nun geschaffenen Zugang aller (Retail-orientierten) Xetra-Nutzer auf den FWB-Handel soll der bislang immer unbedeutender werdende Handelsplatz wieder an Rang gewinnen. Ohne Zweifel sind die Vorteile für die Deutsche Börse als Betreiber: Hier muss man sich fortan nicht mehr mit der Weiterentwicklung zweier einandersetzen.

Die Handelsplätze von heute sind schon lange nicht mehr das, was sie einst waren. Wann genau "die Börse" erfunden wurde, ist ohnehin schwer festzumachen. Joseph de la Vega hat dazu etwas ketzerisch geschrieben: "Bibelfeste Leute versichern, dass Hiob die Börse erfunden haben könnte, da er seine Anhänger lehrte, die Beleidigungen von Verleumdern mit Geduld zu ertragen. Die Schriftgelehrten behaupten, dass Absalom die Börse erfunden hat, denn an der Börse gibt es Leute, die von ihm gelernt haben, die Gelegenheit bei den Haaren herbeizuziehen, während andere wie er das Unglück aus der Luft greifen. Argwöhnische Menschen geben an, dass Luzifer die Börse erfand, da er die Spekulanten durch sein Versprechen täuschte, dass sie wie Gott etwas aus dem Nichts schaffen könnten."

Die Suche nach der ersten institutionalisierten Börse führt derweil nach Belgien. In Brügge, so wurde es festgehalten, war von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts eine Familie "Van der Beurse" ansässig (die im Familienwappen drei Geldbeutel führte). Im östlich gelegenen Antwerpen betrieben einige Familienmitglieder ab 1350 einen Gasthof für Kaufleute - so bahnten sich "bei den Beursen" allerlei Geschäfte an. Rund 200 Jahre später wurde in der Stadt das erste Börsengebäude eröffnet, das für Händler aller Länder geöffnet war.

Wenn aber im Jahr 2011 über Börsen gesprochen wird, dann geht es hauptsächlich um die Fusionen von Betreibergesellschaften wie Deutscher Börse und Nyse, die wachsende Bedeutung unregulierter Marktplätze wie Bats/Chi-X oder sogenannter "Dark-pool"-Plattformen, algorithmischen Handel in Mikrosekunden oder auch um die Spekulation mit Derivaten. Schnell gerät dabei in Vergessenheit, zu welchem Zweck Börsen einst gegründet wurden und welchen volkswirtschaftlichen Nutzen sie im öffentlichen Auftrag erfüllen sollten: In erster Linie sollte es Aufgabe eines Handelsplatzes sein, die Wirtschaft mit Kapital zu versorgen und dem (auch privaten) Anleger eine transparente Plattform für die Geldanlage zu bieten - also Aktionäre oder Investoren in festverzinsliche Wertpapiere als Kapitalanleger und Unternehmen (oder auch Staaten) als Kapitalnachfrager zusammenzubringen.

Aus Sicht des (privaten) Anlegers mit kleinteiligem Geschäft muss heute allerdings die Frage gestellt werden, ob das Börsengeschäft nicht zu institutionell geworden ist. In den vergangenen Jahren ist der Anteil von Privatkundenorders immer weiter geschrumpft. Zwischen stetig wachsenden Volumen professioneller Anleger und (oftmals zu riskanter) institutioneller Spekulation wurde das Geschehen ohnehin zu unüberschaubar, als dass Privatanleger noch mit halbwegs vorhersehbaren Renditen kalkulieren können. Selbst die private Altersvorsorge läuft aus gleichem Grund mittlerweile fast ausschließlich über institutionelle Mittelmänner. Darüber hinaus ist der ursprüngliche Unternehmensanteil, die Aktie, heute mitunter nicht viel mehr als ein Mittel zum Zweck: Auf seinem Kurs, oder dem eines Korbs an Notierungen, bauen eine Vielzahl an Indizes und Derivaten auf - die in erster Linie der Finanzindustrie selbst dienen.

Um den direkten Bezug zur Realwirtschaft einerseits und zum (Privat-)Anleger andererseits weiterhin zu sichern, haben zunächst die kleineren Börsen Unternehmensanleihen in ihr Angebot aufgenommen und ihre weitere Produktpalette auf (kleinteiliges) Nischengeschäft ausgerichtet. Seit Mitte Februar 2011 können mittelständische und junge, wachsende Unternehmen zudem Anleihen auch im Entry Standard der Deutschen Börse emittieren. Neben der Aufnahme von Eigenkapital soll das Segment so auch für die Fremdkapitalbeschaffung genutzt werden. Nicht zuletzt aufgrund vergleichsweise geringer Transparenzanforderungen ist dieser Zugang zum Kapitalmarkt eine gute Alternative für mittelständische Unternehmen, die keine Umwandlung in eine AG durchführen wollen - sei es aus Kostengründen oder aus Angst vor dem Verlust der Alleinbestimmung.

Es hat sich also, in sehr bedingtem Maße freilich, eine Verschiebung von der Aktie hin zur Anleihe vollzogen. Aus Sicht des Privatanlegers ist das gut so, zumindest solange das Geschäft ein etwas "ruhigeres" bleibt und nicht von hochvolumigen Spekulationen beeinträchtigt wird. Vergleicht man die Unternehmensgrößen von heute mit denen zu Zeiten des Aufkommens "der Börse", so wird schnell klar, dass volkswirtschaftlich betrachtet gleichzeitig auch eine Neudefinition der Größendimensionen stattgefunden hat, sowohl bei den Marktbetreibern wie auch den Wirtschaftsunternehmen. Damit einher ging eine Anpassung bei den Finanzinstrumenten.

Parallel haben sich auch die Anforderungen von institutionellen Investoren in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Die Börsen haben sich dementsprechend angepasst, sie sind globaler und schneller geworden. Letztendlich darf man sich bei aller Nostalgie den betriebs-, finanz- und volkswirtschaftlichen Realitäten im Börsengeschäft des neuen Jahrtausends also nicht verschließen. Die Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren zeigt deutlich, wie sehr sich gerade die Rolle der großen Marktbetreiber zum Dienstleister für institutionelle Investoren und dem Handel im Mikrosekundentakt gewandelt hat - und wie sehr Handelsplätze nach "neuem Muster" als Rückgrat für eine internationale und stark vernetzte Finanzindustrie dienen. Schon der Blick auf die weltweiten Märkte macht es trotz krisenbedingter Schwankungen eindeutig klar: Die Börse lebt!

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