Aufsätze

Unternehmensgewinne und Aktienkurse

Die Aktienkurse in Deutschland waren in den letzten beiden Jahrzehnten - vor dem Hintergrund eines positiven Trends - erheblichen Schwankungen unterworfen. Die Gewinne der deutschen Aktiengesellschaften weisen ein ähnliches Verlaufsprofil auf.1) Dies stützt theoretische Überlegungen, die in den (diskontierten zukünftigen) Unternehmensgewinnen einen wichtigen "fundamentalen" Bestimmungsfaktor der Aktienkurse sehen. Auffällig ist aber auch, dass es im Rückblick immer wieder massive Abweichungen zwischen der Aktienkurs- und der Gewinnentwicklung gegeben hat. Hier fällt insbesondere der New-Economy-Boom zur Jahrtausendwende auf. Fehleinschätzungen erwarteter Gewinne aufgrund von Herdenverhalten oder einer asymmetrischen Informationsverteilung sowie Überreaktionen der Anleger auf neue Nachrichten können zur Erklärung derartiger Aktienkursbewegungen beitragen.

Auswirkungen der Finanzkrise

Die Kurse deutscher Aktien sind - gemessen am Deutschen Aktienindex Dax - von Anfang 1991 bis Ende September 2009 um knapp das dreifache gestiegen.2) Allerdings ist die Entwicklung nicht kontinuierlich verlaufen. Einem steilen Anstieg insbesondere Ende der neunziger Jahre im Zuge des New-Economy-Booms auf einen Höchststand von über 8 000 Indexpunkten im März 2000 folgte ein massiver Rückgang. Bis zum Frühjahr 2003 verlor der Dax über 70 Prozent an Wert. Mit der konjunkturellen Belebung der Weltwirtschaft und nachfolgend auch in Deutschland stiegen die Notierungen anschließend wieder an und erreichten im Sommer 2007 einen neuen Spitzenwert.

Im Zuge der vom US-Immobilienmarkt ausgehenden Finanzkrise und den damit verbundenen Befürchtungen über die Solidität einiger Finanzinstitute sowie über das Ausmaß der erforderlichen Wertberichtigungen kam es erneut zu kräftigen Wertverlusten. Diese erreichten im März dieses Jahres mit rund 55 Prozent gegenüber dem Sommer 2007 ihr Maximum, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass die Finanzkrise zunehmend auf die Realwirtschaft übergreifen und auch eine deutliche Abkühlung der Weltkonjunktur nach sich ziehen würde. Vor dem Hintergrund der zuletzt beobachteten Stabilisierung im Finanzsektor und positiver Gewinnmeldungen einzelner Finanzinstitute kam es seitdem zu einer deutlichen Kurserholung.

Die Unternehmensgewinne der Dax-Unternehmen entwickelten sich abgesehen von einer kurzen Phase Mitte der neunziger Jahre grundsätzlich ähnlich wie die Aktienkurse, blieben aber hinter dem Kursanstieg während des New-Economy-Booms und dem zuletzt beobachteten Kursaufschwung zurück und weisen auch generell deutlich geringere Ausschläge auf (Abbildung 1).3) Der ebenfalls relativ stete Verlauf der Dividenden deutet auf eine Politik der Dividendenkontinuität der Unternehmen hin, die Dividendenkürzungen offensichtlich zu vermeiden versuchen und die Ausschüttungen daher möglichst nur an permanente Gewinnänderungen anpassen. Zum einen zeigt sich dies Mitte der neunziger Jahre sowie in jüngster Zeit, als die Dividenden bei rückläufigen Gewinnen weitgehend stabil blieben beziehungsweise in geringerem Maße sanken. Zum anderen fielen die Ausschüttungen nach 2003 hinter die Gewinne zurück, als die Unternehmen den Gewinnanstieg zunächst offensichtlich vor allem für höhere Thesaurierungen und eine "Sanierung" ihrer Bilanzen nutzten.

Trotz dieser Unterschiede im Detail weisen die realisierten Gewinne und die laufenden Dividenden im Beobachtungszeitraum ein ähnliches Verlaufsprofil auf wie die Aktienkurse. Dies steht im Einklang mit theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang der genannten Größen.

Gewinne und Aktienkurse: theoretische Überlegungen

Der Kurs einer rational bewerteten Aktie sollte in einem vollkommenen Markt dem Barwert der künftig erwarteten Dividenden entsprechen. Dabei setzt sich der Diskontierungsfaktor aus dem risikofreien Zinssatz und einer Risikoprämie zusammen, die Anleger als Kompensation für die Unsicherheit der Dividendenströme verlangen. Die Erfahrung zeigt aber, dass Aktienkurse mitunter Werte annehmen, die zumindest im Nachhinein nicht im Einklang mit einer rationalen Bewertung stehen. Hierzu zählen sogenannte Vermögenspreisblasen, die sich als eine starke Abweichung von der fundamental gerechtfertigten Bewertung identifizieren lassen. Bei der Entstehung von Vermögenspreisblasen können unter anderem Herdenverhalten und eine asymmetrische Informationsverteilung unter den Anlegern sowie Überreaktionen auf veränderte Gewinnerwartungen eine Rolle spielen. Auch psychologisch bedingte Verhaltensweisen auf Seiten der Anleger, deren Auswirkungen im Rahmen der Behavioural Finance untersucht werden, können zur Erklärung nicht fundamental begründeter Aktienkursbewegungen beitragen.

Für die Beurteilung des fundamental gerechtfertigten Bewertungsniveaus von Aktien sind im Rahmen des Dividendendiskontierungsansatzes Unternehmensgewinne eine wichtige Größe. Andere einfache Messgrößen für eine Bewertung des Aktienkursniveaus sind das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) und die Dividendenrendite, die den laufenden oder erwarteten Gewinn beziehungsweise die Dividende in Relation zum Aktienkurs abbilden. Ein verwandter Indikator ist das sogenannte Fed-Modell, das der Differenz zwischen dem inversen KGV - der Gewinnrendite - und einem sicheren Zinssatz entspricht und sich als Risikoaufschlag gegenüber einer sicheren Anlage interpretieren lässt.

Während der Vergleich solcher Messgrößen über verschiedene Marktsegmente oder nationale Aktienmärkte aufgrund von Unterschieden zwischen den Risikoprämien, der Rechnungslegung und den Realzinsen als problematisch gilt, ist ihre Interpretation im Vergleich mit einem als fundamental gerechtfertigt erachteten langfristigen Durchschnitt weit verbreitet.

Dividendenbarwertmodelle

Auch Dividendenbarwertmodelle ermöglichen eine Beurteilung des Bewertungsniveaus. Sie basieren auf der Diskontierung aller zukünftigen Dividenden mit der erwarteten realen Aktienrendite - also der Summe aus sicherem Zins und Aktienrisikoprämie - als Diskontfaktor. In der einfachen Variante des Modells werden die zukünftigen Dividendenzahlungen ermittelt, indem die aktuelle Dividende zugrunde gelegt und eine konstante Dividendenwachstumsrate unterstellt wird.

Im dreistufigen Dividendenbarwertmodell, das auch von der Bundesbank verwendet wird, werden drei Phasen des Dividendenwachstums unterschieden. Während in der ersten Phase von einem konstanten Dividendenwachstum ausgegangen wird, nähert sich die Wachstumsrate in der zweiten Phase annahmegemäß linear ihrem langfristigen Gleichgewichtswert an, der in der dritten Phase erreicht wird.4) In der Praxis wird das Modell häufig nach der Aktienrisikoprämie aufgelöst, deren Vergleich mit einem langfristigen Durchschnittswert eine Abschätzung des Bewertungsniveaus ermöglicht. Eine hohe Aktienrisikoprämie deutet auf eine vergleichsweise große Zurückhaltung der Anleger und demzufolge eine relativ niedrige Kursbewertung hin.

Im Dividendenbarwertmodell haben Änderungen der Dividendenwachstumsraten insbesondere dann einen erheblichen Einfluss auf das Kursniveau, wenn die unterstellte langfristige Dividendenwachstumsrate nahe bei der erwarteten Aktienrendite liegt. Für die Aussagekraft und Interpretation des Modells ist es daher von zentraler Bedeutung, dass die angenommenen Dividendenwachstumsraten die tatsächlichen Erwartungen der Anleger korrekt wiedergeben und gute Schätzwerte für die tatsächliche Dividendenentwicklung sind.

Analystenschätzungen als Messgröße für erwartete Unternehmensgewinne

Ein gebräuchliches Maß für die erwarteten Unternehmensgewinne sind Analystenschätzungen. Im Zusammenhang mit Untersuchungen zu Analystenprognosen stellt die I/B/E/S-Datenbank (Institutional Brokers Estimate System) die am häufigsten verwendete Datenquelle dar. Diese Datenbank enthält Schätzungen des Bilanzgewinns über unterschiedliche Zeithorizonte zwischen zwölf Monaten und fünf Jahren. Der Fokus der Marktteilnehmer richtet sich überwiegend auf die nächsten zwölf Monate, weshalb sich auch der Großteil der Prognosen auf das laufende und das nächste Geschäftsjahr bezieht.

Für die Unternehmen des Deutschen Aktienindex Dax stehen seit 1991 im Durchschnitt monatlich knapp 30 Vorhersagen pro Unternehmen für den zwölfmonatigen Ausblick zur Verfügung. Diese vergleichsweise hohe Prognosedichte zeigt, dass Analysten vor allem große Unternehmen im Blickpunkt ihrer Tätigkeit haben.5) Für die beobachteten Unternehmen bedeutet eine höhere Analystenabdeckung ein verbessertes Informationsumfeld, das sich letztlich in einer qualitativ besseren Konsensprognose niederschlagen sollte.6)

Die auf Einzelunternehmensebene ermittelte durchschnittliche Prognose der Analysten wird gemäß der Marktkapitalisierung des jeweiligen Unternehmens gewichtet und zu einer Gesamtzahl für den Index aufaddiert. Allerdings erneuern die Analysten ihre Prognosen in der Regel nicht in monatlicher Frequenz. Für die Dax-Unternehmen zeigt sich, dass bei monatlicher Betrachtung seit 1991 nur ungefähr jede vierte Schätzung revidiert wird.7) Auch wenn sich dieses Verhältnis seit dem Jahr 2000 auf durchschnittlich knapp ein Drittel (32 Prozent) erhöht hat, bedeutet dies immer noch, dass die überwiegende Anzahl der in den Gesamtindex einfließenden Prognosen denjenigen des Vormonats entspricht. Dies führt - wie unten näher ausgeführt wird - unter anderem dazu, dass sich die (durchschnittlichen) Gewinnprognosen nur zögerlich an abrupt eintretende neue Entwicklungen anpassen.

Analyse der Gewinnentwicklung

Seit 1991 erwarteten die Analysten von wenigen Ausnahmen abgesehen ein (positives) Gewinnwachstum für deutsche Unternehmen. Die für die jeweils folgenden zwölf Monate prognostizierten Gewinne lagen fast immer über den realisierten Gewinnen der vorangegangenen zwölf Monate. Trotz eingebrochener Gewinnerwartungen im Zusammenhang mit der aktuellen Finanzkrise gehen die Analysten derzeit bereits wieder von einem deutlichen Gewinnanstieg in den nächsten zwölf Monaten aus (plus 24 Prozent).

Bezüglich der Gewinnentwicklung sind zwischen dem Aktienboom Ende der neunziger Jahre und der aktuellen Finanzkrise deutliche Unterschiede erkennbar. So stiegen die Kurse der 30 wichtigsten deutschen Aktien während der Entstehung der High-Tech-Blase deutlich stärker als die erwarteten Gewinne, und auch der anschließende Kursrutsch übertraf die Korrektur bei den erwarteten Gewinnen merklich. Dagegen verliefen sowohl der bis 2007 folgende Kursaufschwung als auch der nachfolgende kräftige Kurseinbruch weitgehend im Einklang mit den erwarteten Gewinnen. Diese unterschiedliche Entwicklung manifestiert sich in einer genaueren Untersuchung der Analystenrevisionen.

Während des Booms um die Jahrtausendwende überstieg bereits Anfang 1999 die Anzahl der nach unten revidierten Gewinnschätzungen die der Revisionen nach oben. Zu diesem vergleichsweise frühen Zeitpunkt überwog bei den zu den Dax-Unternehmen befragten Analysten also bereits die Skepsis, ob die bis dahin erwarteten Gewinne auch tatsächlich realisiert werden würden. Der sich trotzdem bis in das Jahr 2000 fortsetzende Kursanstieg führte somit zu einer zunehmenden Abkopplung der Kurse von den erwarteten Gewinnen. In dem der aktuellen Krise vorangehenden Aufschwung, der im Vergleich zum New-Economy-Boom sektoral wesentlich breiter fundiert war, übertraf die Anzahl der nach unten revidierten Gewinnschätzungen die der Revisionen nach oben erst im Oktober 2007 - und damit nach Überschreiten des Höhepunkts am Aktienmarkt. Offenbar wurden die Aktienanalysten von der Krise überrascht, zumal die realwirtschaftlichen Prognosen zu dem damaligen Zeitpunkt keinen abrupten konjunkturellen Einbruch signalisierten.

Der 2007 beobachtete Rückkopplungseffekt von den Aktienkursen auf die Gewinnschätzungen lässt sich mit Hilfe ökonometrischer Verfahren (Schätzung eines VAR-Modells und Durchführung von Granger-Kausalitäts-Tests) generell nachweisen. Analysten beziehen die vergangenen Kursbewegungen der Aktie des betrachteten Unternehmens durchaus in ihre Schätzung ein. Dieser empirische Befund legt eine vorsichtige Verwendung der Barwertmodelle nahe, da diese annehmen, dass die Gewinnprognosen unabhängig von den vergangenen Kursentwicklungen geschätzt werden. Als ein zweites Resultat ergibt sich aus den Impuls-Antwort-Folgen eine erwartete unmittelbare Reaktion der Aktienrenditen auf eine Veränderung der Gewinnerwartungen.

Kenngrößen auf der Grundlage von Analystenschätzungen

Der Zusammenhang von Aktienkursen und Gewinnerwartungen liegt auch anderen populären Bewertungsmaßstäben für den Aktienmarkt zugrunde.8) Die Analystenschätzungen bilden in der Praxis häufig die Grundlage für die Ermittlung von KGV, Dividendenrenditen oder Aktienrisikoprämien aus Dividendenbarwertmodellen. Zur Beurteilung des fundamental gerechtfertigten Bewertungsniveaus werden diese wie oben erläutert - mit ihrem langjährigen Durchschnitt verglichen.

Dahinter steht die Annahme, dass die Gewinnschätzungen repräsentativ für die zukünftige Entwicklung der Gewinne beziehungsweise Dividenden sind und der historische Durchschnitt der Kennzahlen einem Gleichgewichtswert ähnelt, von dem die laufenden Werte nur vorübergehend zum Beispiel wenn nicht-fundamentale Einflüsse die Kursentwicklung temporär dominieren - abweichen, zu dem sie aber langfristig zurückkehren ("mean reversion"). Im Fall des KGV erscheint dies plausibel und lässt sich auch empirisch anhand von einschlägigen ökonometrischen Tests (Einheitswurzeltests) bestätigen. Beim KGV zeigt sich allerdings auch, dass der über den gesamten Beobachtungszeitraum ex post ermittelte Durchschnitt von zu früheren Zeitpunkten ermittelten Durchschnitten erheblich abweichen kann und der "Gleichgewichtswert" daher mit Unsicherheit behaftet ist. Zudem weisen die Zeitintervalle zwischen zwei Schnittpunkten des KGV mit seinem Durchschnitt sehr unterschiedliche Längen auf, die zwischen einem Monat (im Jahr 2001) bis knapp sieben Jahren betragen.

Unterschiedliche Kennzahlenentwicklung in Krisenphasen

Die Entwicklung der Kennzahlen KGV, Dividendenrendite und Aktienrisikoprämie unterstreicht die erwähnten Unterschiede zwischen der New-Economy-Blase und der Finanzkrise (Abbildung 2). Um die Jahrtausendwende erreichte das KGV mit 30 seinen Spitzenwert im Beobachtungszeitraum, und zugleich lagen die Dividendenrendite und Aktienrisikoprämie (mit jeweils 1,6 Prozent) auf ihrem niedrigsten Stand seit 1991. Dies spiegelt die damals offensichtlich besonders ausgeprägte Bereitschaft der Anleger wider, trotz relativ geringer erwarteter Gewinne und Dividenden in Aktien zu investieren, und deutet damit auf eine Abkopplung des Aktienmarkts von den Fundamentaldaten hin.

Im Gegensatz dazu lagen die Kennzahlen bei Ausbruch der Finanzkrise Mitte 2007 näher bei ihren langjährigen Durchschnitten. Nachdem das KGV nach kräftigen Kursverlusten am Aktienmarkt zum Jahreswechsel 2008/2009 einen Tiefstand (Dividendenrendite und Aktienrisikoprämie: Höchststand) erreicht hat, ist in den letzten Monaten bei allen Messgrößen aufgrund steigender Kurse und nach unten revidierter Gewinnschätzungen eine gewisse Normalisierung zu beobachten.

Für das KGV bedeutet die Tendenz, zu einem Gleichgewichtswert zurückzukehren, dass es mindestens einen treibenden Faktor gibt, der das Verhältnismaß wieder zu seinem langfristigen Durchschnitt zurückführt. Diese Anpassung kann grundsätzlich von den Aktienkursen (Zähler), von den Gewinnen (Nenner) oder von beiden Größen getrieben werden. So sollte zum Beispiel ein überdurchschnittlich hohes KGV entweder einen Gewinnanstieg, rückläufige Aktienkurse oder beides nach sich ziehen. Ökonomisch lassen sich diese Anpassungen zum einen damit begründen, dass ein vergleichsweise hohes KGV Anleger von einem Engagement am Aktienmarkt zurückhalten dürfte, da sie - bei den unterstellten Gewinnerwartungen - nicht mit der üblichen Rendite rechnen können.

Zum anderen könnten die Gewinnerwartungen der Investoren - beispielsweise aufgrund besserer oder aktuellerer Informationen - auch günstiger sein als diejenigen der Analysten. Damit nimmt der beobachtete Kursanstieg die Gewinnrevisionen der Analysten bereits vorweg. Dies würde auch den empirischen Befund erklären können, dass vergangene Kursbewegungen einen eigenständigen Informationsgehalt für die Gewinnschätzungen der Analysten aufweisen. Ökonometrische Untersuchungen zeigen, dass über einen längeren Zeitraum (vier Jahre) sowohl die Aktienkurse als auch die erwarteten Gewinne einen Impuls für die Rückkehr des KGV zum langfristigen Mittelwert geben.9)

Prognosegüte von Gewinnerwartungen

Abweichungen des KGV von seinem langjährigen Durchschnitt können mit einem fundamental gerechtfertigten Aktienkursniveau im Einklang stehen, wenn die Anleger - wie erwähnt - die kurzfristigen Gewinnerwartungen der Analysten als nicht repräsentativ für die Zukunft ansehen. Eine Voraussetzung für eine sinnvolle Verwendung der Analystenschätzungen ist daher, dass sie in einem engen Zusammenhang mit den später tatsächlich realisierten Gewinnen stehen. Bei der Beurteilung der Qualität der Analystenschätzungen gilt der Vorhersagefehler als entscheidendes Kriterium. Dabei wird die Prognoseabweichung des einzelnen Analysten vom tatsächlichen Wert gemessen. Es steht also nicht unmittelbar die Qualität der von den Analysten benutzten Prognosemodelle und den darin eingeflossenen Informationen auf dem Prüfstand, sondern allein die Genauigkeit des Ergebnisses. Naturgemäß handelt es sich dabei um eine Ex-post-Bewertung.

Der aggregierte Vorhersagefehler berechnet sich als prozentuale Abweichung der realisierten Gewinne der vergangenen zwölf Monate von den vor zwölf Monaten erwarteten Gewinnen für die nächsten zwölf Monate (Abbildung 3). Im Durchschnitt der betrachteten fast 20 Jahre erwarteten die Analysten einen Gewinnanstieg auf Jahresfrist von 21 Prozent; tatsächlich lag dieser jedoch nur bei zehn Prozent. Der Vorhersagefehler ist also signifikant nach oben verzerrt, was auf einen Überoptimismus der Analysten hinweist.

Im Beobachtungszeitraum fällt überdies auf, dass in Phasen stark sinkender Aktienkurse die durchschnittliche Gewinnerwartung systematisch stärker von den tatsächlichen Werten abweicht, als in vergleichbaren Aufwärtsbewegungen. Die Vorhersagefehler der Analystenschätzungen betrugen in den drei nach 1990 beobachteten konjunkturellen Einbrüchen und den damit einhergehenden starken Aktienkursrückgängen mehr als 50 Prozent.10) Dagegen nahm der Vorhersagefehler in den Kursaufschwungphasen deutlich geringere und oft sogar negative Werte an.

Interessenkonflikt

Ein Grund für die Abweichungen könnte in einer gewissen Trägheit der Schätzungen liegen. Da die Analysten nicht jeden Monat für die von ihnen beobachteten Unternehmen eine neue Gewinnprognose abgeben, stammt ein Großteil der in die Konsensschätzung einfließenden Einzelwerte von früheren Zeitpunkten. Dies erklärt lediglich ein gewisses "Nachlaufen" der Gewinne, aber noch keine Asymmetrie. Als Begründung für die deutlich stärkeren Abweichungen in Abschwungphasen beruft sich die Forschungsliteratur auf einen möglichen Interessenkonflikt. Danach versuchen einige Analysten bewusst, negative Gewinnprognosen zu vermeiden, um bestehende gute Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen nicht zu gefährden.11)

Bei der Interpretation des Vorhersagefehlers gilt es zu beachten, dass bei dieser Messgröße positive und negative Abweichungen vom tatsächlichen Wert saldiert werden. Für eine genauere Prüfung der Prognosequalität müssen daher weitere Indikatoren, die die Streuung der Schätzungen berücksichtigen, analysiert werden. Eine solche Messgröße ist der Variationskoeffizient, der die Standardabweichung der Analystenprognosen in Relation zum erwarteten Gewinn abbildet. Im Beobachtungszeitraum nimmt die Streuung der Analystenschätzungen ähnlich wie der Vorhersagefehler vor allem in den Abschwungphasen am Aktienmarkt zu (Abbildung 4). Eine größere Streuung an Analystenschätzungen geht mit einem größeren absoluten Vorhersagefehler einher. So liegt die Korrelation zwischen beiden Maßen bei über 0,8. Dies legt nahe, die Schätzungen umso vorsichtiger zu interpretieren, je höher die Streuung der Prognosen ausfällt.

Der theoretisch zu erwartende langfristige Zusammenhang zwischen Unternehmensgewinnen und Aktienkursen kann anhand der Dax-Unternehmen für Deutschland auch empirisch nachgewiesen werden. So lässt sich für das KGV eine "mean reversion"-Eigenschaft zeigen, die besagt, dass das KGV bei entsprechend langfristiger Betrachtung immer wieder zu seinem "Gleichgewichtswert" zurückkehrt. Um das KGV als eine Kenngröße für die Beurteilung eines "angemessenen" Bewertungsniveaus am Aktienmarkt anwenden zu können, sind allerdings verlässliche Gewinnvorhersagen erforderlich. Diese basieren in der Regel auf Analystenschätzungen, die mit einem gewissen Prognosefehler behaftet sind. Es ergibt sich für die 30 Dax-Unternehmen, dass auch bei einer durchschnittlichen Betrachtung aller Analystenschätzungen eine systematische Abweichung vom realisierten Wert zu beobachten ist. So sind die Schätzungen insbesondere in Abschwungphasen einseitig nach oben verzerrt, was bei der Interpretation einschlägiger Kenngrößen entsprechend berücksichtigt werden muss. Daher ist es empfehlenswert, sich insbesondere in Abschwungphasen nicht nur auf die aggregierte Gewinnschätzung zu verlassen, sondern beispielsweise auch das Verhältnis der positiven zu den negativen Revisionen sowie die Streuung der Analystenschätzungen in die Analyse einzubeziehen.

Fußnoten

1) Bei dem Beitrag handelt es sich um eine Aktualisierung des im Juli 2009 unter gleichem Titel erschienenen Sonderaufsatzes im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank.

2) Dabei sind die Dividendenzahlungen eingerechnet (Performanceindex). Legt man die reinen Kurssteigerungen zugrunde, so beträgt der Anstieg des Dax seit 1991 knapp 160 Prozent.

3) Die hier verwendeten Gewinne und Dividenden beziehen sich jeweils auf den Dax-Performanceindex.

4) Zu Einzelheiten vgl.: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2003, Seiten 36ff.

5) Zum Vergleich: Beim breiter gefassten Dow Jones Euro-Stoxx entfallen seit seiner Auflegung im Jahr 1999 im Monatsdurchschnitt knapp 18 Analystenprognosen auf ein Unternehmen. Quelle: I/B/E/S, eigene Berechnungen.

6) Vgl. zum Besipiel R. Frankel, S. P. Kothari und J. Weber (2006), Determinants of the Informativeness of Analyst Research, in: Journal of Accounting and Economics 41, Seiten 29 bis 54.

7) Im Falle unveränderter Schätzungen liegen keine Informationen vor, inwieweit sie aktualisiert worden sind.

8) Vgl.: J. Y. Campbell und R. J. Shiller (2001), Valuation Ratios and the Long-run Stock Market Outlook: An Update, NBER Working Paper 8221.

9) Vgl. auch die Argumentation von J. Y. Campbell und R. J. Shiller (2001), a.a. O., die eine ähnliche Untersuchung für die USA durchführen.

10) Dabei handelte es sich um die Rezession in der ersten Hälfte der neunziger Jahre nach dem Wiedervereinigungsboom, den Abschwung nach dem Platzen der New-Economy-Blase um die Jahrtausendwende und um die aktuelle Finanzkrise.

11) Vgl. zum Beispiel L. K. C. Chan, J. Karceski und J. Lakonishok (2003), Analysts' Conflict of Interest and Biases in Earnings Forecasts, NBER Working Paper 9544, sowie A. R. Jackson (2005), Trade Generation, Reputation, and Sell-Side Analysts, in: Journal of Finance 60 (2), Seiten 673 bis 717.

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