Aufsätze

Überlegungen zur Preisstabilität

Gemäß Artikel 105 Absatz 1 Satz 1 des Vertrages über die Europäische Union1) ist es das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken, die Preisstabilität zu gewährleisten. Die Worte "stabilitas" und "stabilis" sind lateinisch. Letzteres bedeutet "fest(stehend)". Unter Preisstabilität sind also dem Wortsinn nach feststehende beziehungsweise unveränderliche Preise zu verstehen. Folgerichtig bezeichnet der Aufsatz zur stabilitätsorientierten geldpolitischen Strategie des Eurosystems2) die oben genannte Vorgabe als "klar definierten Auftrag".

Einfluss von Qualitätsverschlechterungen

Der Auftrag ist freilich einem Verbund von Währungsbehörden erteilt, welcher die Preise der einzelnen Güter (Waren und Dienste beziehungsweise Dienstleistungen)3) gar nicht festsetzen kann. Überdies können festgesetzte Preise zum Beispiel durch Qualitätsverschlechterungen der Güter unterlaufen werden, sodass ihre Festsetzung nur in Notfällen sinnvoll erscheint. Weil diese Lage ein wenig an die im Bürgerlichen Gesetzbuch behandelte Unmöglichkeit einer Leistung erinnert, stellt sich die Frage, ob sich der Auftrag wenigstens näherungsweise erfüllen lässt.

Ein Näherungswert unterscheidet sich nur wenig von dem wahren beziehungsweise richtigen Wert. Dieser Wert ist im vorliegenden Falle bekannt, nämlich der Preis zum Beginn der Einheitswährung. Da sich jedoch auch eine solche Näherung bei den gegebenen Rahmenbedingungen nicht durchsetzen lässt, wollen wir etwas suchen, das sich erstens durchsetzen lässt und dem zweitens ein Bezug zu stabilen Preisen nicht völlig abgesprochen werden kann. So kommen wir zu einem Preisniveau, einem Mittelwert. Außerdem kann man von vielen Mittelwerten nochmals einen Mittelwert bilden. Aber wenn wenigstens etwas stabil sein soll, dann sollte der Mittelwert der Mittelwerte der Anker sein.

Abstriche an der Preisstabilität

Hier sollen drei Stufen von Abstrichen an der Preisstabilität betrachtet werden:

Erste Stufe: Es wird anstelle der Preise der einzelnen Güter nur der Mittelwert der Preise aller Güter festgesetzt und festgehalten - wobei dahingestellt bleiben mag, wie sich der Mittelwert bestimmen lässt. Das würde zulassen, dass eine gleiche standardisierte Ware - zum Beispiel ein bestimmtes Arzneimittel - bei verschiedenen Händlern unterschiedlich viel kostet. Es herrscht Wettbewerb, der Kunde kann das günstigste Angebot wählen.

Zweite Stufe: Der Mittelwert der Preise aller Güter darf sich verändern, aber unter der Bedingung, dass die Summe (numerische Integration) der in konstanten Zeitabständen (Schrittweite) unter Berücksichtigung des jeweiligen Vorzeichens gemessenen Abweichungen (Ordinaten) vom festgehaltenen Mittelwert gemäß Stufe eins (Staffelfläche) nach einer größeren Anzahl von Zeitabständen, die nicht konstant zu sein braucht, immer wieder Null wird beziehungsweise durch Null geht (siehe Abbildung).

Dritte Stufe: Auch die Bedingung der zweiten Stufe wird entgegen dem EU- Vertrag aufgegeben. Dazu fehlt dem Verbund von Währungsbehörden die Befugnis.

Von den verbleibenden zwei Möglichkeiten müsste der Verbund von Währungsbehörden allerdings die zweite durchsetzen können. Dazu stehen ihm die erforderlichen Mittel zur Verfügung. Doch mit Blick auf die Praxis des Eurosystems und der EZB entsteht der Eindruck, dass die dritte Stufe bequemer erscheint. Darauf lassen jedenfalls Formulierungen wie künftige Preisentwicklung oder gemessene Inflationsrate beziehungsweise Future Price Developments oder Measured Inflation schließen.2)4)

Offensichtlich wegen dieses Eindruckes der genannten Verlautbarungen wird mit zwei Argumenten versucht, diesen Eindruck zu zerstreuen: Erstens: Lang anhaltende negative Abweichungen vom festgehaltenen Mittelwert gemäß Stufe eins sind schädlich. Das stimmt, doch diese Wahrheit reicht nicht aus, lang anhaltende positive Abweichungen vom festgehaltenen Mittelwert gemäß Stufe 1 zu rechtfertigen. Zweitens: Bei der Messung der Preise aller Güter treten Messfehler auf. Auch das ist wahr.

Blick in die Physik

Um Messfehler bei volkswirtschaftlichen Erhebungen besser zu verstehen, ist es hilfreich, vorübergehend das Fachgebiet zu wechseln: In der Physik gibt es zwei Arten von Messfehlern, nämlich zufällige Fehler und systematische Fehler. Beide Fehlerarten können zum Beispiel bei Messung der Zimmertemperatur mittels eines handelsüblichen Thermometers auftreten. Angenommen, die Zimmertemperatur beträgt 20 Grad Celsius. Ist das Thermometer richtig geeicht, würde man beobachten, dass die Quecksilbersäule ungefähr bei der 20-Grad-Celsius-Marke steht. Aber eine ganz genaue Angabe kann man oft nicht machen.

Deshalb pflegt man bei physikalischen Messungen ein Intervall anzugeben, in dem die tatsächliche Temperatur mit Sicherheit liegt. Das untere Ende des Intervalles gibt die untere Fehlergrenze und das obere Ende gibt die obere Fehlergrenze an (zufälliger Fehler). Wenn jedoch das Thermometer falsch geeicht ist, wenn es zum Beispiel 21 Grad Celsius anstelle von 20 Grad Celsius anzeigt, dann ist dieses eine Grad Celsius zu viel ein systematischer Fehler. Ein solcher lässt sich beseitigen, im vorliegenden Fall durch Verwendung eines richtig geeichten Thermometers, beziehungsweise herausrechnen.

Vertraute Gefilde

Nun zurück zur Volkswirtschaft: Zufällige Fehler zum Beispiel durch ein falsches Ablesen von Preisschildern werden wohl selten sein, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind, wie falsches Auszählen von Stimmzetteln bei Wahlen zeigt. Wichtiger erscheint jedoch, dass man sich in der Praxis bei Preisen, deren großer Anzahl wegen, im Allgemeinen mit einer Stichprobe begnügen muss. Bei einer anderen Stichprobe fände man möglicherweise andere Preise. Das deutet auf Zufälligkeit hin. Weitere Fehler entstehen dadurch, dass nicht alle Güter standardisiert, demnach nicht "geeicht" sind, was zum Beispiel im Falle einer Rechtsauskunft leicht einsichtig ist. Solche Fehler wird man wohl als systematische Fehler bezeichnen müssen. Zufällige Fehler räumen die genannten Verlautbarungen mittelbar durch Verwendung des Wortes "hauptsächlich" beziehungsweise "mainly" ein. In diesem Zusammenhang werden aber auch "andere Fehler" aufgezählt, die ihre Ursache in einem sich verändernden Ausgabeverhalten der Verbraucher oder in Qualitätsverbesserungen von Waren und Diensten haben. (Qualitätsverschlechterungen, die es auch gibt, werden übrigens nicht berücksichtigt).

Solche Fehler laufen aber darauf hinaus, dass der Güterkorb zumindest fiktiv (jährlich) neu zusammengestellt wird. Es handelt sich folglich um systematische Fehler, um Fehler, die sich aus einer Veränderung des "Zusammengestellten" ergeben. Diese müssten sich bei ausreichenden Kenntnissen herausrechnen lassen. Anscheinend sind die Kenntnisse nicht ausreichend, denn die Texte weisen darauf hin, "dass die VPIs die "tatsächliche" Inflationsrate leicht überzeichnen", also die jährliche Geldentwertungsrate in Wahrheit niedriger ist als ausgewiesen.

Weil Qualitätsverschlechterungen der Güter nicht erfasst werden, ist im Übrigen mit der alleinigen Berücksichtigung von Qualitätsverbesserungen der Güter bei der vorstehenden Überlegung ein bestimmter Richtungssinn festgelegt, sodass bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Qualitätsverschlechterungen - zum Beispiel Wasser in Wein schütten - sogar eine Unterzeichnung der VPIs für möglich gehalten werden kann, also die jährliche Geldentwertungsrate in Wahrheit höher ist als ausgewiesen. Ferner hat ein sich veränderndes Ausgabeverhalten der Verbraucher ebenfalls zwei verschiedene Richtungssinne, nämlich plus und minus.

Qualitätsverbesserungen der Güter?

Wenn allerdings nach einer doch gelungenen Herausrechnung einer etwaigen Über- beziehungsweise Unterzeichnung aus den zusammengefassten VPIs beziehungsweise des HVPIs die gemäß Stufe zwei geforderten Nullstellen nicht vorkommen, dann hätte der Verbund von Währungsbehörden den gestellten Auftrag nicht erfüllt.

Zweifel an der Erfüllung des Auftrages treten auch deswegen auf, weil die Begründung der Festlegung der Planzahl für die jährliche Wachstumsrate der Geldmenge M3 einen einseitigen Fehler der Statistiker benötigt. Der relative Betrag - "unter zwei Prozent" - ist jedenfalls ersichtlich unklar. Er kann zum Beispiel 0,5 Prozent oder 1,99999 Prozent sein.

Außerdem stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die für den benötigten Fehler der Statistiker gebrauchten Qualitätsverbesserungen der Güter nicht bereits in der in den Verlautbarungen ebenfalls verwendeten Position der jährlichen Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsproduktes berücksichtigt sind.

Falls die Qualitätsverbesserungen der Güter nicht in der jährlichen Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsproduktes berücksichtigt wären, würde die jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsproduktes angesichts der propagierten Verteidigungslinie des jährlichen Anstieges der VPIs leicht unterzeichnet. Der fehlende Hinweis darauf würde die Glaubwürdigkeit ("Die Geldpolitik ist am wirksamsten, wenn sie glaubwürdig ist")2), wie sie in den Papieren hervorgehoben wird, ebenfalls beeinträchtigen.

Inflationstreppe

Im Jahre 2003 hat der EZB-Rat klargestellt, dass er "im Rahmen der Definition darauf abziele, mittelfristig eine Preissteigerungsrate, unter, aber nahe der 2-Prozent-Marke beizubehalten".4) Man könnte das als Treppenpolitik bezeichnen. Stabilitas ade! Zur Erinnerung: "eine ... Inflationsrate ... von Null ... ist in einer auf Leistungsgerechtigkeit basierenden Wirtschaftsordnung ein Gebot für die Wirtschaftspolitik. Denn die durch die Inflation verursachten Umverteilungen haben nichts mit Leistung zu tun. Einige werden auf Kosten anderer real besser gestellt, ohne dafür etwas leisten zu müssen. Die Umverteilungswirkungen der Inflation sind mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nicht vereinbar."3) Eine der Ecken des Magischen Vierecks ist die Preisniveaustabilität.

Die liebe Verwandtschaft

In der Sprache der Regelungstechnik ist der EZB-Rat der Regler, sind die Geldmarktzinssätze - selbstverständlich im Euroraum - die Stellgrößen, ist das Preisniveau die Regelgröße, der Unterschied zwischen dem Preisniveau und der Preisniveaustabilität (Sollwert) die Regelabweichung, die der Regler "ausregeln" sollte (Reglergesetz), der Markt - letztlich für Waren und Dienstleistungen - das dynamische System beziehungsweise der dynamische Prozess und eine Erhöhung des Umsatzsteuersatzes eine Störgröße.

Literatur

1) BGBl. II, 1992, Seiten 1253 ff.

2) Die stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie des Eurosystems. EZB, Monatsbericht, Januar 1999. 3) Cezanne, W., Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage, R. Oldenbourg Verlag, München, Wien, 1994.

4) European Central Bank, The Monetary Policy of the ECB, 2001; Die Geldpolitik der EZB, deutsche Fassung 2004, zweite überarbeitete Ausgabe.

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