Leitartikel

Vom Sinn der Bilanzierung

Während die Japaner das gleiche Schriftzeichen für Chance und Risiko verwenden und auch in manchen Abendländern Chance und Risiko zusammengehörend als die beiden Seiten einer Medaille dargestellt werden, sehen die Deutschen das Risiko weniger als Chance, als vielmehr als drohendes Unglück oder eine Gefahr, stets verbunden mit Verlustängsten. "Für den Deutschen gibt es kein größeres Verbrechen als kein Geld zu haben und Schulden machen zu müssen", so schrieb 1871 Fjodor Dostojewski an seine Frau, nachdem er in der Wiesbadener Spielbank all sein Geld verloren hatte.

Banken schmeckt eine solche Risikoaversion seitens ihrer Kunden genauso wenig wie eine risikolose Geschäftspolitik: Bankgeschäft ohne Risiko kann und wird es nicht geben, denn Bankgeschäft ist das Geschäft mit dem Risiko. Das soll nicht heißen, dass Bankgeschäft per se ein Risiko darstellt jedenfalls nicht immer. Mancher Bankvorstand muss sich dieser Tage allerdings deutlicher Kritik und heftiger Schelte seiner Eigentümer stellen. Charles Prince zum Beispiel, der ehedem so strahlende Citigroup-Chef muss im dritten Quartal einen Gewinnrückgang von 60 (! ) Prozent erklären.

Merrill Lynch wird erstmals seit vielen Jahren für die Monate Juli bis September einen Verlust verdauen. So schlimm trifft es die Deutsche Bank nicht, allerdings vernebeln auch hier Wertberichtigungen von 1,4 Milliarden Euro die in jüngerer Vergangenheit so schöne Bilanz. Und auch die Commerzbank muss bei der Bereinigung ihrer Subprime-Experimente noch einmal kräftig nachbessern.

"Das Risiko wurde falsch eingeschätzt", heißt es bei allen Instituten immer wieder lapidar. Das Schlimme ist, dass keiner weiß - die Bankvorstände auch nicht -, ob damit nun endlich, endlich das Ende erreicht ist oder wie viel Fehleinschätzung noch kommen mag. Der deutsche Finanzminister Steinbrück ist nach dem jüngsten Treffen der G7-Finanzminister in Washington jedenfalls eher skeptisch: "Die Lage an den internationalen Geld- und Kapitalmärkten entspannt sich, aber wir sind noch nicht durch, das wird uns noch mehrere Quartale beschäftigen."

Ist die Waage - bilancia ist italienisch für Waage - zwischen Bilanz und Risiko also aus dem Gleichgewicht geraten? In einer global vernetzten Wirtschaftswelt bleiben Gefahren nicht isoliert, sondern breiten sich wie eine Seuche rasend schnell aus - jeder, der damit in Kontakt steht, wird infiziert. Da ist der Wunsch nach Vergleichbarkeit der Zahlenwerke, nach ein bisschen oberflächlicher Sicherheit nur allzu verständlich. Im Wettbewerb um internationales Kapital hat daher die Informationspflicht der Geschäftsabschlüsse in den vergangenen Jahren eine immer größere Bedeutung erlangt. Der angelsächsischen Rechnungslegungs-Philosophie zufolge ist der Zweck von Jahresabschlüssen allein der, Kapitalanlegern bei ihrer Entscheidung zum Kauf oder Verkauf von Unternehmensanteilen sowie zur Gewährung von Fremdkapital in Form von (altmodischen) Krediten oder in anderen (neumodischeren) Formen und bei der Kontrolle des Managements zu helfen. Dadurch versucht der Abschluss nach IFRS oder US-GAAP möglichst viele entscheidungsrelevante, vergleichbare, verlässliche und auch nachprüfbare Information zur Verfügung zu stellen.

Aber liefert dieser erzwungene Striptease die betroffenen Unternehmen nicht auch ein Stück weit dem in allererster Linie an eigener Renditemaximierung interessierten Kapitalmarkt aus und stellt somit selbst ein Risiko dar? Anhand transparenter Zahlenwerke können pfiffige (Groß-)Aktionäre heutzutage Einfluss auf Managemententscheidungen nehmen - die Deutsche Börse und auch die niederländische ABN Amro haben es schmerzhaft erfahren müssen. Auf der einen Seite war es die Fusion mit der Börse London, auf der anderen ein Zusammenschluss mit der britischen Barclays, die dem vermeintlichen Wohle des Aktionärs nicht genügten. Professionelle Kapitalverwalter sahen andere erhebliche Wertsteigerungspotenziale in den jeweiligen Unternehmen - das Ende ist bekannt. Hat es das unter der feinen HGB-Bilanzierung mit ihren Möglichkeiten der Saldierung von Gut und Böse und der Bildung stiller Reserven auch gegeben? War die Kontrolle des Managements ohne vollständige Information nicht ungleich schwerer? Es mag zumindest ein Grund sein, warum sich die internationalen Investoren mit dem HGB so schwer tun. Zwar fordert auch der deutsche Gesetzgeber, dass der Jahresabschluss ein "den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage widerzuspiegeln habe (Abs. 2 HGB)". Allerdings wird dem Gläubigerschutz und der Stabilität ein höherer Stellenwert als der nackten Informationspflicht eingeräumt. Es wird ganz bewusst in Kauf genommen, dass Kreditinstitute zur Vorsorge für allgemeine Bankrisiken stille Reserven ohne Kenntnis des Bilanzlesers bilden und auflösen können (§ 340f HGB). Ein Plus für das HGB ist ganz sicher, dass die deutschen Vorschriften relativ übersichtlich geblieben sind. Denn anders als diese prinzipienbasierte Rechnungslegung beruhen die angelsächsischen Pendants auf Einzelfallentscheidungen. "Damit haben wir es mit einer kaum überschaubaren Fülle an Detailregelungen zu tun, die sich zu meterhohen Papierbergen türmen. Die Rechnungslegung gerät somit in Gefahr, zu einem Suchen nach der jeweils passenden Regel zu degenerieren, " fürchtete der frühere LRP-Chef Klaus Adam schon im Jahre 2003 auf der 49. Kreditpolitischen Tagung. Und weiter: "Die hohe Regulierungsdichte lähmt jedoch die notwendige Kreativität; im Gegenteil, wir vergeuden zu viel Zeit mit der Klärung juristischer Sachverhalte und Problemstellung". Es müsse, bitte sehr! , so der Wirtschaftsprüfer und Bankvorstand Adam, stets aufs Neue abgewogen und bedacht werden, ob den entstehenden Kosten wirklich ein erkennbarer Nutzen, sprich besserer Einblick und höherer Informationswert gegenübersteht.

Allen unterschiedlichen Rechnungslegungsvorschriften zwischen IFRS/US-GAAP einerseits und HGB andererseits zum Trotz ist den bilanzierenden Unternehmen eins gemein. Sie wollen gar nicht alle Risiken offenlegen. Und wenn man in der Bilanz keine guten Verstecke mehr findet, so finden die Risiken eben in derselben nicht mehr statt. In den vergangenen Jahren ist eine ganz neue Branche aus Anwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und Investmentbankern entstanden, die bestens bezahlt, tagtäglich immer neue, höchst komplizierte Möglichkeiten ersinnen, möglichst viele Risiken außerhalb der Bilanz stattfinden zu lassen. Die Folge sind bis zu tausend Seiten starke Emissionsprospekte dieser oder jener Verbriefungsform, breit gestreute, damit aber keineswegs verschwundene Gefahren und letztlich Risikovolumina, die die tatsächliche Tragfähigkeit der Institute mitunter drastisch überschreiten können. Die Bilanz wird nicht mehr manipuliert - sie wird vielerorts schlicht und einfach ignoriert.

Angesichts so viel Verwirrendem für jeden außerhalb des engsten Zirkels der Bilanzgestalter und ihrer Verbündeten nimmt es nicht Wunder, in welchem Maße "der Markt" mittlerweile den Ratingagenturen vertraut - vielleicht sogar vertrauen muss. Ihr enormer Bedeutungszuwachs in den vergangenen Jahren entspricht zweifelsfrei dem Bedeutungsverlust der publizierten Rechnungslegung für die Investorenentscheidung.

Dass dabei seitens der "Rater" mitunter nicht zwangsläufig ein viel tieferer Einblick in die Zahlen vorliegen und ein regelmäßigerer Kontakt zum Management bestehen muss, als bei gewöhnlichen Investoren, die Roadshow-Inflation macht's möglich - wen interessiert's. Zu praktisch sind die selbstverständlich laufend aktualisierten und täglich abrufbaren - kurzen Buchstaben, die Vergleichbarkeit suggerieren und somit zum natürlichen Alibi für jedermann geworden sind. Stimmt die vermeintliche Bonität plötzlich nicht mit der Realität überein, und verlieren die Anleger deswegen Geld, dann hat das nicht etwa handfeste Gründe im Unternehmen, sondern, ganz einfach, die Ratingagentur ist schuld.

Zu Recht? Die Analysten versuchen sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen ein - das HGB lässt grüßen - tatsächliches Bild der Lage zu erstellen. Dabei gilt es, so viele Eventualitäten so gut und gründlich wie möglich zu bedenken. Hier gibt es sicherlich noch Verbesserungsbedarf.

Aber: Dass Assets mitunter schneller wertlos werden, als sie wertberichtigt werden können - mancher hat es gerade wieder schmerzhaft lernen müssen. Jeder deutsche Bankvorstand hätte seinen Wirtschaftsprüfer augenblicklich vor die Tür gesetzt, wenn dieser Anfang des Jahres 2007 eingefordert hätte, auf sämtliche Forderungen im amerikanischen Subprime-Markt vorsorglich 25 Prozent pauschal wertzuberichtigen. Genauso hätte das die Bonitätsbewerter betroffen, hätten diese keineswegs sichere Zukunftserwartungen positiver wie negativer Art in ihre Beurteilungen einfließen lassen. Das zeigt, dass weder Wirtschaftsprüfer noch Analysten den entstandenen Schock hätten wirklich verhindern können.

Ratingagenturen können sich als Entschuldigung nun aber nicht darauf zurückziehen, dass vor allem die Bilanz analysiert wird und die teils nicht-konsolidierten, vielfältigen Unternehmungen nur schwer zu erfassen sind. Das kann nicht richtig sein, denn so wird eine falsche Risikotragfähigkeit vorgegaukelt. Ein Gesamtrating von beispielsweise "AA+" suggeriert ein grundsolides Unternehmen mit erstklassiger Bonität. Dass dieses Unternehmen allerdings sämtliche Risiken clever outgesourct hat, erfährt der Investor allenfalls in den Notes des Ratingurteils - allerdings auch nur dann, wenn die Rater alles erfahren, erfasst und bedacht haben. Die Bonitätsnote für die gesamte Firma muss aber unbedingt - bitte schön - all dies auch erfassen, sonst ist ihr nicht zu trauen. Wozu bräuchte man da noch Ratingagenturen?

Verdienen Bankbilanzen überhaupt noch Vertrauen? Man mag es bezweifeln. Entscheidend ist, dass alle Verantwortlichen sie wieder als das sehen, was sie im ursprünglichen Sinne sind - kein notwendiges Übel, sondern die detaillierte Auflistung der Geschäftsvorgänge in Zahlen. Die gegenwärtigen Diskussionen, von einer besseren Kontrolle der Investoren über die Ausweitung der Bankenaufsicht auf Spezialinstitute, beispielsweise die Finanzierer am amerikanischen Subprime-Markt, und das Versprechen der Ratingagenturen zu noch mehr Sorgfalt bis hin zu Selbstverpflichtungen der Branche, wie den Super-Conduit, mit dem eigentlich ausgelagerte Risiken nun doch von den Banken selbst bereinigt werden müssen, machen Hoffnung. Wird man wieder so ehrlich wie früher? Schließlich ließ schon Schiller den Landvogt Gessler zu Wilhelm Tell sagen:

"Gefährlich ist's ein Mordgewehr zu tragen, denn auf den Schützen fällt der Pfeil zurück! "

PS: Dies und vieles mehr wird auf der 53. Kreditpolitischen Tagung am 9. November 2007 in Frankfurt zu diskutieren sein, mit Experten aus Bank, Prüfung und Aufsicht. "Risiko, Rendite, Regulierung - das Triple R der Banken", das ist das Thema (siehe Umschlagseite 2). P. O.

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