Aufsätze

Qualitative inverse Stresstests mit Fehlerbäumen?

Die Durchführung inverser Stresstests ist eine der wesentlichen Neuerungen der novellierten Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) vom 15. Dezember 2010.1) Im zugehörigen Begleitschreiben der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) zu den novellierten MaRisk wird festgehalten, dass es, aufgrund bislang fehlender Praxiserfahrungen mit diesem neuen Instrument, ausreichend sei, inverse Stresstests „schwerpunktmäßig qualitativ […] durchzuführen“. Nur bei größeren Instituten werden „gleichzeitig auch ergänzende quantitative Analysen“ erwartet.
Geschäftsmodell tragbar?

Bei inversen Stresstests soll untersucht werden, "welche Ereignisse das Institut in seiner Überlebensfähigkeit gefährden könnten".2) Die Überlebensfähigkeit ist dann gefährdet, wenn das ursprüngliche Geschäftsmodell sich als "nicht mehr durchführbar beziehungsweise tragbar erweist".3) Operationalisiert bedeutet dies, dass nach denjenigen Ereignissen und Szenarien (das heißt insbesondere Kombinationen an Risikofaktor- und Risikoparameterausprägungen) gesucht wird, die dazu führen, dass ein Institut die regulatorischen oder ökonomischen Kapitalanforderungen nicht mehr erfüllt oder zahlungsunfähig wird.

Anders als bei "normalen" Stresstests, bei denen die Auswirkungen von vorgegebenen außergewöhnlichen, aber plausiblen Ereignissen auf die Kapital- und Liquiditätssituation eines Instituts untersucht wird, bestehen die Ergebnisse eines inversen Stresstests gerade in denjenigen Ereignissen und Szenarien, die die Existenz eines Instituts gefährden. Diese Szenarien können als inverse Stresstestereignisse/ -szenarien bezeichnet werden.

Nach wie vor ist jedoch die Unsicherheit groß, wie derartige Tests in der Praxis umgesetzt werden können. Während bei quantitativen inversen Stresstests unklar ist, wie die hiermit verbundene Komplexität bewältigt werden soll, ist bei qualitativen inversen Stresstests nicht offensichtlich, was hierunter überhaupt genau zu verstehen ist.

Nachdem nachfolgend zunächst die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an inverse Stresstests sowie die hiermit verfolgten Ziele zusammengetragen werden, wird die Eignung eines Instruments aus dem Bereich der Entscheidungstheorie, sogenannter Fehlerbäume, zur Durchführung qualitativer inverser Stresstests diskutiert.

Aufsichtsrechtliche Ziele und Anforderungen

Die erstaunlich wenigen Ziele und Anforderungen von inversen Stresstests, die von der BaFin im Begleitschreiben zu den novellierten MaRisk vom 15. Dezember 2010, den MaRisk selbst sowie in den Erläuterungen zu den MaRisk formuliert werden, sind in der Tabelle aufgeführt.

Im Gegensatz zu den Formulierungen in den Dokumenten von internationalen Aufsichtsbehörden4) wird in den MaRisk nicht explizit die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der existenzgefährdenden Ereignisse und Szenarien gefordert. Da es jedoch zahlreiche Ereignisse und Szenarien geben kann, die die Existenz einer Bank gefährden können, ist die Erstellung einer Rangliste anhand der Eintrittswahrscheinlichkeiten durchaus sinnvoll.

Des Weiteren wird aus den Formulierungen der BaFin nicht deutlich, ob alle Ereignisse und Szenarien, die das Institut in seiner Existenz gefährden (also beispielsweise auch solche, die zu einer erheblichen Verletzung der regulatorischen und ökonomischen Kapitalanforderungen oder der Liquiditätsbedingung führen) gesucht werden sollen, oder nur die Ereignisse und Szenarien, die die Bank an seine Grenze zur Überlebensfähigkeit führen (also nur solche, die zu einer minimalen Verletzung der regulatorischen oder ökonomischen Kapitalanforderungen oder der Liquiditätsbedingung führen).

Nahe liegend wäre es zu vermuten, dass die minimal existenzbedrohenden Ereignisse und Szenarien wahrscheinlicher als die sonstigen existenzbedrohenden Ereignisse und Szenarien sind. Würde also eine Rangfolge der inversen Stresstestereignisse/ -szenarien anhand ihrer Eintrittswahrscheinlichkeiten aufgestellt, so würden in diesem Fall die minimal existenzbedrohenden Ereignisse und Szenarien ganz oben auf der Liste stehen und damit für die kritische Reflexion der Ergebnisse besonders relevant sein. Wenn jedoch beispielsweise aufgrund des Einsatzes von Derivaten die für die Risikotragfähigkeitsrechnung relevanten Risikomaßzahlen, wie der Value-at-Risk oder der Expected Shortfall, in nichtmonotoner Weise von der Ausprägung von Risikofaktoren oder-parametern abhängen, muss diese Vermutung nicht unbedingt zutreffen.

Hinreichend genaue Quantifizierung

Zum Auffinden von inversen Stresstest-ereignissen/-szenarien müssen die Auswirkungen von Ereignissen und Szenarien auf die Kapital- und Liquiditätssituation eines Instituts hinreichend genau quantifiziert werden. Auch die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung der ermittelten Ereignisse und Szenarien impliziert eine quantitative Komponente. Insofern bleibt unklar, wie die aus Sicht der BaFin zulässigen qualitativen inversen Stresstests genau aussehen könnten. Im Begleitschreiben der BaFin vom 15. Dezember 2010 wird davon gesprochen, dass qualitative inverse Stresstests beispielsweise "in Form einer qualitativen Analyse" durchgeführt werden können, wobei jedoch auch dieser Begriff nicht näher erläutert wird.

Fehlerbäume

Im Folgenden wird als Beitrag zur fortlaufenden Diskussion über eine geeignete Ausgestaltung von inversen Stresstests die Möglichkeit der Verwendung von so genannten Fehlerbäumen zur Durchführung qualitativer inverser Stresstests diskutiert.

Fehlerbäume (auch Ursachenbäume genannt) gehören zu den Instrumenten der Entscheidungstheorie zur Visualisierung von komplexen Entscheidungssituationen unter Unsicherheit. Beim Fehlerbaum wird von einem vordefinierten Endergebnis (Wirkung) ausgegangen und es wird analysiert, auf welche Art und Weise (Ursachen) dieses Ergebnis eintreten kann. Bei jeder gefundenen Ursache wird dann auf einer vorgelagerten Ebene gefragt, worauf diese Ursache ihrerseits zurückzuführen ist.6) Ursprünglich entwickelt wurde dieses Instrument zur Analyse von Störfällen, wie Reaktorunfällen oder Flugzeugabstürzen. Da die Nicht-Fortführbarkeit des Geschäftsmodells eines Instituts auch durchaus als "Störfall" interpretiert werden kann, scheint es nahe zu liegen, die Anwendbarkeit von Fehlerbäumen für inverse Stresstests zu untersuchen.

Anwendbarkeit für qualitative inverse Stresstests

In Fehlerbäumen werden sowohl "Und-Verknüpfungen", das heißt das gemeinsame Eintreffen mehrerer Ereignisse ist notwendig, damit eine Folgeursache eintritt, als auch "Oder-Verknüpfungen", also das Eintreffen eines oder mehrerer Ereignisse ist notwendig, damit eine Folgeursache eintritt, abgebildet.7) Die Art der Verknüpfung hat Einfluss darauf, wie die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines kritischen Pfades, also einer Abfolge von Ereignissen, die zum "Störfall" führen, zu berechnen ist.

Anhand eines sehr stark vereinfachten Beispiels soll im Folgenden die mögliche Anwendbarkeit von Fehlerbäumen für qualitative inverse Stresstests untersucht werden. Als "Störfall" wird die Nicht-Erfüllung der regulatorischen Eigenkapitalanforderungen nach der Solvabilitätsverordnung (SolvV) innerhalb des Planungshorizontes definiert (sowohl minimale als auch erhebliche Verletzung der regulatorischen Eigenkapitalanforderungen). Dies ist das sogenannte Top Event des Fehlerbaumes.

Alternativ könnten auch die fehlende Risikotragfähigkeit oder die Zahlungsunfähigkeit als Top Event festgelegt werden. Hierfür wäre jeweils ein separater Fehlerbaum zu erstellen. Betrachtet wird eine Kreditbank, die als Tochterunternehmen eines Automobilherstellers im Wesentlichen Kredite zur Finanzierung von Autokäufen von Privatpersonen und kleinen bis mittleren Unternehmen vergibt. Zur Berechnung der regulatorischen Eigenkapitalanforderungen für ihr Retail-Portfolio verwendet das Institut den auf internen Ratings basierenden Ansatz (IRBA). Dies bedeutet, dass das Institut eigene Schätzungen für die Ausfallwahrscheinlichkeiten der Kunden und für die Verlustquoten bei einem Ausfall benötigt und diese Werte dann in die Berechnung des Anrechnungsbetrages für Adressrisiken eingehen.

Das Institut unterstellt im Rahmen seines qualitativen inversen Stresstests, dass das Ereignis "Nicht-Erfüllung der regulatorischen Eigenkapitalanforderungen nach IRBA" nur dann eintreten kann, wenn innerhalb des Planungszeitraumes drei Ereignisse gemeinsam auftreten ("Und-Verknüpfung"):

- Ereignis E[1]: Hohe Abschreibungen und damit Reduzierung des zur Verfügung stehenden haftenden Eigenkapitals durch Ausfälle im Kreditgeschäft in Höhe von x Prozent des Nominalwertes.

- Ereignis E[2]: Hohe Eigenkapitalanforderungen durch einen starken Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeiten um y Prozentpunkte.

- Ereignis E[3]: Hohe Eigenkapitalanforderungen durch einen starken Anstieg der Verlustquoten bei einem Ausfall um z Prozentpunkte. Das Ereignis 1 führt das Institut auf den Eintritt eines der beiden folgenden Ereignisse zurück ("Oder-Verknüpfung"):

- Ereignis E[11]: Das Institut arbeitet mit einem mangelhaften internen Ratingsystem, das nur unzureichend zwischen finanzstarken und weniger finanzstarken Kreditnehmern differenzieren kann.

- Ereignis E[12]: Starker Anstieg der Arbeitslosenquote um u Prozentpunkte und der Insolvenzquote bei kleinen und mittleren Unternehmen um v Prozentpunkte mit der Konsequenz, dass zahlreiche Kreditnehmer ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können. Eine Ursache hierfür könnte ein schwerer konjunktureller Abschwung sein.

Ein schwerer konjunktureller Abschwung wird auch als Ursache für das Ereignis E[2] angesehen. Das Ereignis E[3] wird auf eines der beiden folgenden Ereignisse zurückgeführt ("Oder-Verknüpfung"):

- Ereignis E[31]: Um w Prozentpunkte sinkende Marktpreise für die als Sicherheiten verwendeten Kraftfahrzeuge, zum Beispiel aufgrund einer erhöhten Anzahl an Sicherheitenverwertungen infolge eines schweren konjunkturellen Abschwungs oder aufgrund einer geringeren Nachfrage nach Gebrauchtfahrzeugen infolge verschärfter staatlicher Vorschriften, beispielsweise in Bezug auf Umweltschutzauflagen.

- Ereignis E[32]: Eine stark sinkende Sachkompetenz bei der Verwertung von Sicherheiten, zum Beispiel aufgrund einer hohen Personalfluktuation im Institut.

Das Institut schätzt auf Basis von Expertenbefragungen die Eintrittswahrscheinlichkeiten für die Ereignisse E[11] und E[32]auf P(E[11])=P(E[32])=0,05 und für die Ereignisse E[2], E[12] und E[31] auf P(E[2])=P(E[12])=P(E[31])=0,1. Damit ergibt sich die Eintrittswahrscheinlichkeit für das Ereignis E[1] wie folgt:

P(E[1]) =P(E[11]UE[12]) = P(E[11]) + P(E[12]) - P(E[11] E[12])

Das Risikomanagement des Instituts geht davon aus, dass die Ereignisse E[11] und E12 unabhängig voneinander sind, sodass für die gemeinsame Eintrittswahrscheinlichkeit P(E[11] E[12])=P(E[11]) P(E[12]) gilt. Somit folgt für die Wahrscheinlichkeit P(E[1]):

P(E[1]) = P(E[11]) + P(E[12]) - P(E[11]) P(E[12]) = 0,05 + 0,1 - 0,05 0,1 = 0,145

Aufgrund analoger Überlegungen ergibt sich für das Ereignis E[3] dieselbe Eintrittswahrscheinlichkeit P(E[3])=0,145. Die Eintrittswahrscheinlichkeit des Top Events, also die Nicht-Erfüllung der regulatorischen Eigenkapitalanforderungen nach IRBA, berechnet sich dann zu:

P(Top Event)=P(E[1] E[2] E[3]) =P(E[1]) P(E[2]|E[1]) P(E[3]|E[1] E[2])

Hierbei bezeichnen P(E[2]|E[1]) und P(E[3]|E[1] E[2]) jeweils sogenannte bedingte Wahrscheinlichkeiten für den Eintritt der Ereignisse E2 und E[3]. Da die Ereignisse E[1], E[2] und E[3] teilweise eine gemeinsame Ursache haben, nämlich ein schwerer konjunktureller Abschwung, sind diese Ereignisse nicht stochastisch unabhängig, sodass sich die bedingten und unbedingten Eintrittswahrscheinlichkeiten voneinander unterscheiden. Das Institut geht, erneut aufgrund von Expertenmeinungen, von den bedingten Wahrscheinlichkeiten P(E[2]|E[1])=0,13 und P(E[3]|E[1] E[2])=0,2 aus. Damit ergibt sich insgesamt folgende Eintrittswahrscheinlichkeit für das Top Event:

P(Top Event)=0,145 0,13 0,2 =0,00377

Gemäß des Fehlerbaumes (siehe Abbildung) und der unterstellten Eintrittswahrscheinlichkeiten wird das Institut also die regulatorischen Eigenkapitalanforderungen nach IRBA innerhalb des Planungshorizontes mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,377 Prozent nicht erfüllen. Aufgrund der "Und-Verknüpfung" der Ereignisse auf der Ebene direkt unterhalb des Top Events existiert in diesem Beispiel nur ein einziges inverses Stresstestszenario, sodass die Erstellung einer Rangliste auf Basis der Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht notwendig ist.

In der Praxis unübersichtlich

Auf den ersten Blick scheint die Verwendung von Fehlerbäumen für die Durchführung qualitativer inverser Stresstests nahe liegend zu sein. Sie bieten insbesondere die Möglichkeit, in strukturierter Form Szenarien zu ermitteln, in denen die Überlebensfähigkeit des Instituts gefährdet ist (vergleiche Ziel 1 in der Tabelle). Die von der Bankenaufsicht geforderte "kritische Reflexion", insbesondere die Erlangung von Kenntnissen über maßgebliche, möglicherweise verkettete Risikotreiber, wird grundsätzlich ebenfalls unterstützt (vergleiche Ziel 2 in der Tabelle).

Schnell werden jedoch auch die Grenzen von Fehlerbäumen bei ihrer Anwendung für inverse Stresstests deutlich. Wenn nicht mehr - so wie hier - stark vereinfachte Beispiele, sondern reale Institute betrachtet werden, so werden Fehlerbäume sehr komplex und unübersichtlich, was die kritische Reflexion der Ergebnisse erschwert. In der Praxis werden daher Fehlerbäume nur mittels geeigneter Software implementierbar sein. Darüber hinaus müssten noch Reaktionen des Instituts auf bestimmte Ereignisse und die Auswirkungen dieser Reaktionen auf Folgeereignisse in Fehlerbäumen abgebildet werden.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass zwischen einem Ereignis und einem Folgeereignis auf einer nachgelagerten (höheren) Stufe nicht notwendigerweise ein deterministischer Zusammenhang bestehen muss. Während beispielsweise bei der Analyse von Reaktorstörfällen genau, das heißt mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit, spezifiziert werden kann, welche Konsequenz der Ausfall eines bestimmten Schalters hat, besteht zum Beispiel zwischen dem Anstieg der Insolvenzquote für kleine und mittlere Unternehmen und den Abschreibungen im Kreditgeschäft des Instituts lediglich ein (zum Beispiel mittels Regressionsanalysen ermittelter) statistischer Zusammenhang. Dies kann in Fehlerbäumen, wenn überhaupt, nur unter Inkaufnahme einer erhöhten Komplexität und zusätzlich erforderlicher Informationen erfasst werden.

Vielzahl möglicher Ausprägungen

Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass, erneut anders als das Schalter-Beispiel beim Reaktorstörfall, die im Rahmen von inversen Stresstests erfassten Ereignisse in der Regel keine Null-Eins-Ereignisse sind, sondern oftmals ein Kontinuum an möglichen Ausprägungen existiert.

In dem obigen Beispiel (siehe Abbildung) können beispielsweise die Abschreibungsquote im Kreditgeschäft, die Ausfallwahrscheinlichkeiten und die Verlustquoten bei einem Ausfall beliebige Werte zwischen null und 100 Prozent annehmen. Durch geeignete Diskretisierung stetiger Zufallsvariablen könnte dieses Merkmal zwar grundsätzlich in Fehlerbäumen berücksichtigt werden, jedoch erneut nur unter Inkaufnahme einer erhöhten Komplexität.

Außerdem besteht die Möglichkeit zur Substitution in den Schweregraden von Ereignissen: Beispielsweise könnten auch Abschreibungen in Höhe von x-10 Prozent des Nominalwertes in Kombination mit einem Anstieg der Ausfallwahrscheinlichkeiten oder der Verlustquoten um y+5 Prozentpunkte beziehungsweise z+10 Prozentpunkte ein inverses Stresstestszenario darstellen, also zu einer Nicht-Erfüllung der regulatorischen Eigenkapitalanforderungen nach IRBA führen. Es gibt also letztlich zahlreiche inverse Stresstestszenarien, von denen das Wahrscheinlichste identifiziert werden müsste. Dieser Substitutionseffekt ist in Fehlerbäumen jedoch ebenfalls nur unter Inkaufnahme zusätzlicher Komplexität darstellbar.

Erheblicher Forschungsbedarf

Grundsätzlich stellt sich auch die Frage, woher zum einen die Einschätzungen für die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Ereignisse und zum anderen die Kenntnis der Wirkung eines Ereignisses auf das Ausmaß eines Folgeereignisses kommen sollen (zum Beispiel Wirkung eines Anstiegs der Arbeitslosen- und Insolvenzquote auf die Höhe der Abschreibungen im Kreditgeschäft des Instituts).

Spätestens hier wird deutlich, dass rein qualitative inverse Stresstests kein gangbarer Weg sind, sondern dass diese zumindest ergänzt werden müssen ummathematische Modelle, mit denen valide quantitative Aussagen getroffen werden können.

Ohne quantitatives Element nur bedingt hilfreich

Aufgrund der hohen Komplexität ist jedoch sowohl praxisorientierte als auch wissenschaftliche Literatur zu quantitativen inversen Stresstests bislang Mangelware.8) Hier besteht zukünftig noch ein erheblicher Forschungsbedarf. Die Identifikation und die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit existenzbedrohender Risikofaktor- beziehungsweise Risikoparameterkombinationen, wie sie bei quantitativen inversen Stresstests notwendig ist, ist eine mathematisch anspruchsvolle Aufgabe. Deren Lösung ist umso schwieriger, je mehr wesentliche, möglicherweise stochastisch abhängige Risikofaktoren beziehungsweise-parameter existieren und je komplexer das Gesamtportfolio strukturiert ist.

Die Implementierung inverser Stresstests ist eine nach wie vor nicht zufriedenstellend gelöste Aufgabe, vor die die Institute von der Bankenaufsicht durch die Novellierung der MaRisk im Dezember 2010 gestellt wurden. Das Instrument der Fehlerbäume, deren Einsatz insbesondere für qualitative inverse Stresstests intuitiv nahe zu liegen scheint, ist nur bedingt hilfreich. In jedem Fall wird zumindest eine Mischung aus qualitativem und quantitativem inversen Stresstest notwendig sein. Eine rein qualitative Analyse ohne jegliche quantitative Elemente (im Sinne eines mathematischen Kalküls) scheint mit der Definition und dem Anliegen inverser Stresstests nicht vereinbar zu sein.

Literatur:

Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht: Mindestanforderungen an das Risikomanagement - MaRisk, Rundschreiben 11/2010 (BA) vom 15. Dezember 2010.

Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht: Erläuterungen zu den MaRisk in der Fassung vom 15. Dezember 2010, Anlage 1 zu den MaRisk.

Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht: Begleitschreiben an alle Verbände der Kreditwirtschaft zur Veröffentlichung der Endfassung der MaRisk vom 15. Dezember 2010.

Committee of European Banking Supervision (CEBS): Guidelines on Stress Testing (CP32), 2009. Drüen, J./Florin, S.: Reverse Stresstests, Risiko Manager 10 (2010), S. 1 und 6-9.

Eisenführ, F./Weber, M./Langer, T.: Rationales Entscheiden, 5. Aufl., Berlin 2010.

Grundke, P.: Reverse Stress Tests with Bottom-Up Approaches, Journal of Risk Model Validation 5 (2011a), S. 71-90.

Grundke, P.: Further recipes for reverse stress testing, Working Paper, University of Osnabrück (2011b).

Liermann, V./Klauck, K.-O.: Banken im Stresstest, Die Bank 5 (2009), S. 53-55.

Skoglund, J./Chen, W.: Risk contributions, information and reverse stress testing, Journal of Risk Model Validation 2 (2009), S. 61-77.

Deutscher Sparkassen- und Giroverband: Mindestanforderungen an das Risikomanagement, Interpretationsleitfaden, Version 4.0, 2011.

Fußnoten

1) Vgl. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht: Mindestanforderungen an das Risikomanagement - MaRisk, Rundschreiben 11/2010 (BA) vom 15. Dezember 2010.

2)MaRisk AT 4.3.3, Tz. 3 Erläuterungen.

3)MaRisk AT 4.3.3, Tz. 3 Erläuterungen.

4) Vergleiche beispielsweise die Definition von inversen Stresstests des Committee of European Banking Supervision (CEBS) (seit 2011: European Banking Authority): "Reverse stress testing consists of identifying a scenario or combination of scenarios that lead to an outcome in which the institution's business plan becomes unviable and the institution insolvent, i.e. stress events which threaten the viability of the whole institution, as well as assessing the probability of realisation of such scenarios." (CEBS, 2009, S. 14).

5) Eine Definition von "kleinen" und "großen" Instituten erfolgt in den MaRisk beziehungsweise den Erläuterungen nicht. In der Begründung zur Insti-tuts-Vergütungsverordnung vom 6. Oktober 2010 werden dagegen unter "kleinen Instituten" explizit solche mit einer Bilanzsumme von weniger als zehn Mrd. Euro verstanden. Ob diese Grenze auch in Bezug auf die Art des durchzuführenden inversen Stresstests relevant ist, ist nicht klar. In den MaRisk (AT 4.3.3, Tz. 3) wird lediglich auch im Zusammenhang mit inversen Stresstests auf den Grundsatz der Proportionalität hingewiesen (vergleiche auch Deutscher Sparkassen- und Giroverband: Mindestanforderungen an das Risikomanagement, Interpretationsleitfaden, Version 4.0, 2011, S. 247).

6) Vgl. Eisenführ, F./Weber, M./Langer, T.: Rationales Entscheiden, 5. Aufl., Berlin 2010, S. 31ff. Die Fehlerbaumanalyse wird auch in der DIN 25424 beschrieben.

7) Vgl. Eisenführ, F./Weber, M./Langer, T.: Rationales Entscheiden, 5. Aufl., Berlin 2010, S. 31ff.

8) Zu den wenigen Literaturbeiträgen zu quantitativen inversen Stresstests gehören: Liermann, V./ Klauck, K.-O.: Banken im Stresstest, Die Bank 5 (2009), S. 53-55; Skoglund, J./Chen, W.: Risk contributions, information and reverse stress testing, Journal of Risk Model Validation 2 (2009), S. 61-77; Drüen, J./Florin, S.: Reverse Stresstests, Risiko Manager 10 (2010), S. 1 und 6-9; Grundke, P.: Reverse Stress Tests with Bottom-Up Approaches, Journal of Risk Model Validation 5 (2011a), S. 71-90; Grundke, P.: Further recipes for reverse stress testing, Working Paper, University of Osnabrück (2011b).

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