XIX. Deutscher Bundestag

Lokalisierung statt Harmonisierung - Trendwende in der Finanzmarktregulierung?

Die Finanzmarktregulierung der letzten drei Jahre erzeugt gelegentlich das ambivalente Gefühl, das Interesse der nationalen Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden in den EU-Mitgliedstaaten an einer Harmonisierung des Binnenmarktes sei zurückgegangen. Dass in Brüssel und bei G20-Gipfeln immer wieder eine gemeinsame Bewältigung der Finanzkrise propagiert wurde, hat einige nationale Alleingänge nicht verhindert. Setzt sich diese Entwicklung fort, wäre dies eine Trendwende für den europäischen Finanzbinnenmarkt und mit nicht unerheblichen Folgen insbesondere für international agierende Institute verbunden, die von den Harmonisierungen in den letzten Jahrzehnten profitiert haben.

Regulierungsdivergenzen auf nationaler und europäischer Ebene

Die Erkenntnis, dass Banken für eine global vernetzte Wirtschaft essenziell und praktisch der Blutkreislauf der Realwirtschaft sind, führte schon 2008 zu raschen staatlichen Beteiligungen an Banken, Garantien und anderen Hilfsmaßnahmen, sodass die G20-Staaten angesichts der Belastungen ihrer Etats die Maßgabe ausgaben, dass sich Derartiges nicht wiederholen dürfe. Erreicht werden sollte dies global abgestimmt unter anderem einerseits über eine grundlegende Revision der Eigenkapitalanforderungen des Basel-II-Regimes, andererseits über eine Eindämmung unregulierter Bereiche im Finanzwesen.

Nicht zuletzt wegen des Wettbewerbs einzelner Finanzmärkte bröckelte die Einheit auf G20-Ebene allerdings schnell, und auch in Brüssel zeichnete sich zeitweilig ein gewisses Vakuum ab. Die Diskussionen auf der Arbeitsebene liefen zwar weiter, konkrete Regulierungsvorgaben waren jedoch eher selten. Grund hierfür war nicht zuletzt, dass der Beginn der Krise in das Ende der Legislaturperiode fiel; Parlament und Kommission waren neu zu wählen beziehungsweise zu besetzen. Dass das kraftvoll angestoßene Rad ein wenig außer Schwung gekommen war, zeigt sich deutlich an der schon länger avisierten Bankenabgabe, der Regulierung von Leerverkäufen und Derivaten, des "grauen Kapitalmarkts" unter der Alternative-In-vestment-Fund-Managers-Richtlinie, des OTC-Handels sowie den Vorschlägen zur Standardisierung von Informationspflichten für vergleichbare Produkte für Privatanleger (Packaged-Retail-Investment-Pro-ducts-Initiative).

Während erste Vorschläge oft schon 2008 oder 2009 vorlagen, wurden diese Initiativen erst im Jahresverlauf 2010 wieder aufgegriffen und konkretisiert. Wenigstens die Europäisierung der Aufsicht wurde weitergeführt, sodass nach vielen langen Diskussionen zwischen Kommission, Rat und Parlament dieses Jahr die drei EU-Behörden für die Banken-, Wertpapier- und Versicherungsaufsicht ihre Arbeit starten konnten und mit mehr Befugnissen ausgestattet sind, als dies einzelnen Mitgliedstaaten recht war. Hier haben die Erkenntnisse der Krise letztlich dann doch beschleunigend gewirkt.

Vakuum von einzelnen Mitgliedstaaten ausgefüllt

Das umrissene Vakuum mussten einzelne Mitgliedstaaten nicht zuletzt wegen des enormen nationalen politischen und öffentlichen Drucks jedoch ausfüllen. Dieser Druck lastete besonders schwer mit Blick auf den Umgang mit der globalen Vernetzung und Interdependenzen der Finanzmärkte, die während der Verwerfungen genauso offensichtlich geworden waren wie der Umstand, dass einzelne Institute in den letzten Jahren eine Größe erreicht haben, die mit der Gesamtleistung der jeweiligen Volkswirtschaft mindestens ebenbürtig ist. Da zudem teilweise Steuermittel in nicht unerheblicher Höhe eingesetzt wurden, um den Blutkreislauf der gesamten Wirtschaft zu erhalten, waren vielfach Insellösungen der "politische Preis".

Dieser Trend war überall in der EU zu beobachten. Mit Blick auf den hiesigen Finanzplatz, sind beispielhaft das Verbot ungedeckter und die Meldung gedeckter Leerverkäufe oder auch die in Kürze in Kraft tretenden Vorgaben zur Finanzierung des Restrukturierungsfonds für systemrelevante Kreditinstitute zu nennen: In beiden Bereichen hat Deutschland einerseits durch das Gesetz zur Vorbeugung gegen missbräuchliche Wertpapier- und Derivategeschäfte vom Juni und andererseits mit dem Restrukturierungsgesetz vom Dezember letzten Jahres eine Vorreiterrolle in Europa eingenommen.

Entsprechende EU-Initiativen sind zwar schon vor Monaten angelaufen; dies hatte aber aus den eben beschriebenen Gründen nur sekundäre Bedeutung. Auch konnte man sich gelegentlich nicht des Eindrucks erwehren, dass man mit der Schaffung legislativer Fakten einen Verhandlungsvorteil auf Gemeinschaftsebene erreichen wollte. Unabhängig davon, wie man die Lenkungswirkung dieser Maßnahmen im Einzelnen bewertet, gerieten die Belange der grenzüberschreitend tätigen Institute sowie die früher verfolgten Prinzipien aus dem Blick, Doppelbelastungen, Wettbewerbsverzerrungen und Arbitragemöglichkeiten zu vermeiden.

Beispiele Bankenabgabe und Leerverkäufe

Augenfällig wird dies etwa beim Thema Bankenabgabe, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen EU-Mitgliedstaaten: Während die kürzlich konsultierten Vorschläge der Europäischen Kommission unter anderem eine international abgestimmte Lösung unter Einbeziehung von Mitglied- und Drittstaaten in sogenannten "Resolution Colleges" vorsehen, belegen die parallelen Initiativen innerhalb der EU, wie unterschiedlich die Vorstellungen zum Anwendungsbereich, zur Abgabenhöhe und Mittelverwendung sind: EU-Zweigniederlassungen sind beispielsweise nur in einigen Staaten Abgabenschuldner (begrüßenswerterweise nicht in Deutschland); die Einbeziehung von Zweigstellen aus Drittstaaten ist hingegen oftmals unklar. Mal fließt die Abgabe in den Staatshaushalt, mal - wie in Deutschland - in einen Fonds. Die Folge ist, dass es in Europa keine Grundlage für adäquate Beitragssätze bei grenzüberschreitend tätigen Institutsgruppen gibt, wohingegen Doppelbelastungen und Wettbewerbsverzerrungen - Effekte, die einem wettbewerbsfähigen und funktionierenden Finanzbinnenmarkt zuwider laufen - nicht auszuschließen sind. Ähnlich problematisch stellte sich die Situation bei der Regulierung von Leerverkäufen dar: Während sich international vergleichbare Ansätze durchgesetzt hatten und bereits seit 2008 eine Koordination national erlassener Leerverkaufsverbote in Finanztiteln auf europäischer Ebene durch das Committee of European Securities Regulators (CESR, seit 1. Januar 2011 European Securities and Markets Authority, ESMA) stattfand, wurden in Deutschland im Mai 2010 überraschend die Vorgaben verschärft. Dieses per verwaltungsrechtlicher Allgemeinverfügung erlassene und schließlich in das Wertpapierhandelsgesetz überführte Verbot ungedeckter Leerverkäufe warf viele Fragen auf, da etwa die territoriale Reichweite und die damit verbundenen Implikationen nicht nur für die Händler in Deutschland, sondern auch in ganz Europa und in Übersee nicht eindeutig zu bestimmen waren.

Die gleichfalls eingeführte Pflicht zur Meldung gedeckter Leerverkäufe ist noch immer Gegenstand von Auslegungsdiskussionen zwischen BaFin und Marktteilnehmern. Abzuwarten ist nun, ob die aktuell diskutierten europäischen Vorgaben die deutschen Regelungen 1:1 wiedergeben werden. Nach den Erfahrungen aus der Vergangenheit ist hiermit jedoch nicht zu rechnen, sodass neuerliche Anpassungen erforderlich sein dürften.

Die aufgezeigten Divergenzen zwischen der nationalen Regulierung und der laufenden europäischen Diskussionen sind für den Finanzplatz Deutschland und die hier ansässige ausländische Finanzindustrie wie erwähnt von erheblicher Bedeutung. Nicht nur die starke, exportorientierte deutsche Volkswirtschaft ist nämlich ein Grund für die Attraktivität des Finanzplatzes aus der Sicht eines ausländischen Instituts, sondern auch die rechtlichen Rahmenbedingungen. Neben den EU-Pässen sind gegenseitige Anerkennung, vergleichbare Aufsichtsstandards und harmonisierte Regeln äußerst hilfreich für international tätige Institute, die auf einheitliche Gruppenstandards angewiesen sind. Kann dies gewährleistet werden, fällt die Entscheidung über eine Ansiedlung in einem anderen Land leichter als wenn zahlreiche Besonderheiten zu beachten sind.

Harmonisierung unabdingbar für einen attraktiven Finanzplatz

Die Entwicklung des deutschen Finanzplatzes in den letzten Jahrzehnten ist durchaus ein Beleg für eine erfolgreiche Harmonisierung, da die Anzahl der aus dem Ausland nach Deutschland kommenden Institute über Jahre hinweg zugenommen hat und auch während der Krise stabil blieb (Abbildung 1). So hat sich - sicherlich auch begünstigt durch die Einführung des EU-Passes - die Anzahl der Niederlassungen ausländischer Institute seit 1996 von 114 auf 210 im Jahre 2010 fast verdoppelt und auch die Bilanzkennzahlen der Auslandsbanken zeigen stetiges Wachstum (Abbildung 2).

Ähnliches gilt im Fondsbereich, der den EU-Pass schon seit 1985 kennt. Auch hier hat die europäische Harmonisierung viel bewirkt, wie allein die Gesamtzahl der Fonds in Deutschland und der Anteil der Auslandfonds zeigt (Abbildung 3).

Diese Entwicklung war nicht nur der Struktur des deutschen Marktes mit seiner im internationalen Vergleich immer noch geringen Konsolidierung des Finanzsektors, sondern vor allem der umfassenden Harmonisierung der letzten Jahrzehnte zu verdanken. Dass dieser Weg nun wieder beschritten wird, zeigen die zahlreichen derzeit in Brüssel diskutierten Regulierungsprojekte. Die EU-Agenda ist voll: Neben den Revisionen der zahlreichen Kapitalmarktrichtlinien (Prospekte, Marktmissbrauch, MiFID, Transparenz), stehen die Regulierung des OTC-Handels, die Einführung zentraler Gegenparteien im Derivatebereich, die umfassende Reform der Einlagen- und Anlegerentschädigung, strengere Anforderungen für Depotbanken und die Harmonisierung der Regeln zur Verwahrung von Wertpapieren an, um nur einen Ausschnitt zu nennen. Und nicht zu vergessen ist die Umsetzung von Basel III durch die CRD-IV-Richtlinie, mit der strengere Eigenkapitalanforderungen für Banken umgesetzt werden.

Keine Trendwende zur Lokalisierung

Von einer Trendwende hin zu einer Lokalisierung der Rechtsetzung kann daher nicht gesprochen werden. Brüssel bemüht sich erkennbar, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu nehmen, und auch die Mitgliedstaaten bringen sich wieder konstruktiv ein. Allerdings ein Trend ist zu beobachten, der durchaus lokalen Charakter hat: Bei der Beaufsichtigung auf Einzelebene von Töchter-Instituten internationaler Konzerne ohne EU-Pass kommt diesen bei aufsichtlichen Organisationsvorgaben, beispielsweise im Liquiditäts- und Risikomanagement, mittlerweile mehr Verantwortung auf nationaler Ebene zu. Die Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) sind hier ein Beispiel. Diese Entwicklung gilt es nun in den nächsten Monaten zu beobachten; insbesondere muss sie aber im Einklang stehen mit der weiteren Europäisierung der Aufsicht hin zu einer europäischen Aufsichtsstruktur mit entsprechenden Befugnissen.

Besteuerung als Indikator der Wettbewerbsfähigkeit

Während die Harmonisierung des Aufsichtsrechts wieder Fahrt aufnimmt, findet sich diesbezüglich im Steuerbereich nur wenig Vergleichbares, wobei dies für einen wirklichen Binnenmarkt gerade außerordentlich wichtig wäre. Gegenwärtig bestehen immer noch gravierende Unterschiede innerhalb der Gemeinschaft. Allerdings darf dies auch nicht dazu führen, dass die Steuerlast gegenüber außereuropäischen Standorten nun noch drastisch angehoben wird, wie es durch die vom Europäischen Parlament kürzlich befürwortete Einführung einer Finanztransaktionssteuer zu befürchten ist. Oft sehr undifferenziert werden zahlreiche Modelle diskutiert, die die Kommission in einem Konsultationspapier von Anfang Februar aufgezeigt hat: eine Finanztransaktionssteuer auf Transaktionsvolumen von Aktien (inklusive Anteile an Fonds und Pensionsfonds) und Anleihen als enge Steuer oder zusätzlich auf Währungen, Derivate und andere Instrumente als weite Steuer, alternativ eine Aktivitätssteuer oder aber ein ganzes fiskalisches Bündel inklusive Bankenabgabe.

Unabhängig wofür man sich entscheidet: Eine solche Steuer wird zwar nicht unmittelbar zu einer breiten Abwanderung der Investoren aus Europa führen; entsprechende Tendenzen sind aber keinesfalls auszuschließen. Hinzu kommt, dass die Bedeutung neuer Märkte beispielsweise in Asien nicht nur für Anlageobjekte, sondern auch infrastrukturell seit Anfang des neuen Jahrtausends erheblich zugenommen hat. Derzeit debattieren viele, haben aber oft sehr unterschiedliche Konzepte vor Augen, was nicht immer deutlich wird. Hier müssen die Diskussionen deutlich sachlicher geführt und makro- und mikroökonomischen Folgen sorgfältig analysiert werden, bevor auf die Schnelle ein Konzept verabschiedet wird. Nationale Alleingänge oder auch nur die Beschränkung auf die Euro-Staaten bergen jedenfalls noch mehr als in den vorgenannten Bereichen die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen und Arbitrage.

Eher positive Erwartungen sind hingegen mit dem Vorschlag der Kommission für eine Gemeinsame konsolidierte Körper-sctheaufetr-Bemessungsgrundlage (GKKB) verbunden. Diese verfolgt den vielversprechenden Ansatz, eine einheitliche Bemessungsgrundlage für EU-Konzerne festzusetzen und nur noch eine zentrale Finanzbehörde als Ansprechpartner für die gesamte Gruppe zu haben. Auch wenn dies nicht nur für die Finanzindustrie, sondern für sämtliche EU-Körperschaften gelten würde, erhoffen sich gerade die EU-weit aufgestellten Institutsgruppen durch diese Reform erhebliche Vorteile, da dies beispielsweise die Verrechnungspreisprobleme innerhalb der EU erheblich verringern und einen grenzüberschreitenden Verlustausgleich ermöglichen würde.

Auch wenn nun einzelne Punkte wie die Zentralisierung auf eine zuständige Behörde im Europäischen Rat sicherlich kontrovers diskutieren werden, sollte der von den EU-Regierungschefs verabschiedete Pakt für den Euro einen ausreichenden Ansporn bieten, dieses Vorhaben zügig zu verabschieden, zumal keine Harmonisierung der Steuersätze, sondern vielmehr eine Aufteilung der konsolidierten Bemessungsgrundlage auf die Konzernunternehmen anhand einer Formelzerlegung und die Anwendung des nationalen Körperschaftsteuersatzes vorgesehen ist. An der europäischen Harmonisierung festhalten

Was kann man aus den Entwicklungen der letzten drei Jahre für Deutschland und Europa folgern? Deutschland mit seiner exportorientierten Volkswirtschaft hat von der europäischen Harmonisierung der vergangenen Jahrzehnte stark profitiert. Diesen Weg gilt es weiterzubeschreiten, denn langfristig wird sich dies für Europa und damit auch für Deutschland auszahlen. Damit verbunden ist ein Festhalten an einer weiteren europäischen Harmonisierung, vor allem im steuerlichen Bereich. Deutschland mit seiner exportorientierten Volkswirtschaft als einer der unbestrittenen Nutznießer des Binnenmarkts sollte hier gerne eine Vorbildfunktion einnehmen, aber maßvoll und nicht in der Rolle des berühmten Schulmeisters.

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