Aufsätze

Human after all - Gemeinsamkeiten zwischen Gregor Gysi und Larry Summers?

Der deutsche "Unternehmertag 2014" fand Ende März wie jedes Jahr seit 2008 in Rottach-Egern statt. Eine Reihe Vorträge bekannter, erfolgreicher Unternehmer wechselten wie gewohnt ab mit auflockernd eingestreuter Unterhaltung - dieses Mal mit dem Magician und Mentalist Nicolai Friedrich. Aber das Motto der Tagung: "Digital Revolution - the winner takes all?" klang ganz ungewohnt sozial besorgt. Hierzu durchaus passend, aber dann doch reichlich bizarr für einen Unternehmertag, kam eine Ansprache von Gregor Gysi, dem Vorsitzenden von Die Linke.

War der schlagfertige Gysi, dessen Ausführungen wiederholt durch Beifall und zustimmendes Lachen unterbrochen wurden, vielleicht auch nur als Unterhaltungseinlage, sozusagen als inzwischen durch den Verlauf der Geschichte obsolet gewordener Bürgerschreck, eingeladen worden? Nein, ganz und gar nicht! Er sprach über das Thema "Digitale Revolution - Was passiert in der Mitte der Gesellschaft?" und sprach mit seinen mittelstandsfreundlichen Ausführungen dem einen oder anderen anwesenden Unternehmer offensichtlich ganz aus dem Herzen.

Eine parallele Öffentlichkeit

Dazu hatten die Veranstalter aus den Reihen der Großen Koalition anscheinend keinen geeigneten Politiker finden können. Der einzige sonst noch die Unternehmerrunde adressierende Politiker, wenn man ihn nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen Bundestag per 22. Oktober 2013 überhaupt noch so bezeichnen darf, war Guido Westerwelle. Und auch der machte seine Sache gut, so jedenfalls nach dem Beifall der Teilnehmer und seines Nachredners, des für seine Kritikfreudigkeit ja nicht unbekannten Professors Hans-Werner Sinn.

1) Anscheinend etabliert sich hier wie ungezielt und von selbst eine parallele Öffentlichkeit zu Themen, die im herrschenden Diskurs nicht aufgegriffen werden - nicht in der Politik, nicht in den Medien, nicht in der Wissenschaft. Die nicht oder falsch oder verzerrt aufgegriffenen Sachverhalte scheinen aber gleichwohl so kritisch und wichtig zu sein, dass sie Formen von Gegendarstellungen zu aktuellen Diskussionen hervorbringen, Gegenöffentlichkeit oder gar Protest, wie über Nacht und aus dem nichts gezaubert. Das neue Thema, welches Gregor Gysi die überraschende Einladung zum Unternehmertag verschaffte, heißt zunehmende Ungleichheit der Entwicklung.

War aber "Ungleichheit als Problem" eigentlich nicht schon längst abgehakt? Spätestens seit dem Zusammenbruch der Planwirtschaften des real existierenden Sozialismus ab 1989/90? Das seither nicht nur im Westen, sondern in allen maßgeblichen internationalen Gremien wie IWF, Weltbank, WHO, OECD oder G20 triumphierende Paradigma ist die Marktwirtschaft im neoliberalen oder allenfalls keynesianischen Verständnis, also die Überzeugung von der Effizienz und Rationalität der Ressourcenallokation durch den Marktmechanismus, feingesteuert durch antizyklische Fiskal- und makroprudentielle Geldpolitik. Die im Sommer 2007 einsetzende internationale Finanzkrise hat allerdings inzwischen, jedenfalls in Bezug auf die Finanzmärkte, die Überzeugung von deren inhärentem Streben zu einem Zustand des Gleichgewichtes, der nur durch externe Schocks gelegentlich gestört werde, zutiefst erschüttert und Ansätzen für ein radikales, auch in der Finanzpolitik sich ausbreitendes Umdenken Platz gemacht.

Ganz neue Themen

Die Gründung des Institute for New Economic Thinking (INET) durch den Währungsspekulant, Milliardär und Philanthrop George Soros im Jahr 2009 war zunächst vielleicht auch nur eine Folge dieses Umdenkens. Sehr rasch hat sich das INET seitdem aber zu dessen Mentor, Sponsor und Schrittmacher auf globaler Ebene entwickelt. Institutionelle Partnerschaften etwa mit der London School of Economics (LSE) oder dem kanadischen Center for International Governance Coordination (CIGI), ein hochkarätiger internationaler Beraterbeirat, dem fünf Nobelpreisträger in Ökonomie, Investoren, Klimaforscher, Regierungsvertreter, Philosophen angehören, sechs gut alimentierte wissenschaftliche Forschungsbereiche und die Durchführung jährlicher Plenarkonferenzen bislang in Cambridge, Bretton Woods, Berlin, Hongkong und zuletzt vom 10. bis 12. April 2014 in Toronto haben zu einer weltweiten Sichtbarkeit und Ausstrahlung geführt, welche durch die Abrufbarkeit aller Konferenzprogramme per Video2) wie durch die Propagierung einer grundlegenden Neubasierung der Vermittlung von mikro- und makroökonomischer Theorie im Volkswirtschaftsstudium an zahlreichen Universitäten3) nachhaltig befördert wird.

Natürlich standen in den Anfangsjahren des INET die Finanzkrise und deren Bewältigung im Vordergrund, also Fragen der Geldpolitik und Finanzmarktregulierung. Diese Fragen sind noch immer nicht gelöst und wurden daher auch in Toronto wieder aufgenommen, etwa in dem Panel "Have we repaired financial regulations since Lehman?"4) mit den Teilnehmern Anat Admati von der Stanford Universität,5) Andy Haldane von der Bank of England6) und Richard Bookstaber vom US Treasury Department7) unter der Moderation von Martin Wolf von der Financial Times.8) Dass dieses Panel zu einer einhelligen, überzeugend begründeten Verneinung der gestellten Frage gelangte, soll hier nicht vertieft und kann in der Videoaufzeichnung nachvollzogen werden. Denn ganz neue Themen haben sich nach dem Abklingen der Panikstimmung auf dem Höhepunkt der Finanzkrise9) ins Bewusstsein nicht nur der Ökonomen geschoben und machen deutlich, warum als Motto der diesjährigen INET-Konferenz in Toronto das menschelnde "Human after all" gewählt wurde.

Auch hierzu seien die zwei besonders relevanten Konferenzvideos aus Toronto zitiert und zwar, zum herkömmlich ökonomischen Einstieg, Larry Summers von der Harvard Universität mit seinem Beitrag "Secular stagnation? The future challenge for economic policy"10) und dazu der Harvard-Professor für Government, Michael Sandel, mit seiner Absage an ein bloß marktwirtschaftliches Gesellschafts- und Selbstverständnis in "What money can't buy".11)

Mittelstand unter Druck

Der frühere US-Schatzminister und Harvard-Präsident Summers ist nicht für Selbstzweifel oder akademische Bescheidenheit bekannt. Insofern ist nun sein offenes Eingeständnis zunehmender Zweifel besonders bemerkenswert. Ihn plagt verstärkt die Frage, ob die Rückkehr zum vollen Gleichgewichtswachstumspotenzial nicht nur in der US-Wirtschaft, sondern auch in den anderen Volkswirtschaften des Westens auf längere Dauer ausbleiben müsse: Die alten, allenfalls für relativ kurze Konjunkturzyklen konzipierten Modelle funktionierten in der derzeitigen Strukturkrise nicht. Eine Politik des leichten Geldes bei Niedrigstzinsen könne kein nachhaltiges Wachstum, sondern nur noch höhere Leverage, Vermögenswertblasen und weitere Überschuldungskrisen zulasten zukünftiger Generationen erzeugen. Technologischer Fortschritt könne per saldo mehr Arbeitsplätze vernichten als neue schaffen. Der Anteil des Kapitals am Sozialprodukt steige gegenüber dem von Arbeit immer stärker, was zu einem Spar überhang, Unterkonsum und Unterinvestitionen führe, in Europa zusätzlich verschärft durch die sich beschleunigende demografische Überalterung und Schrumpfung der Bevölkerung.

Summers zieht daher eine deutlich höhere Besteuerung der immer stärker begünstigten oberen Einkommen und Vermögen in Erwägung. Das ist die explizite Absage an den insbesondere in den USA noch lebendigen Traum vom jedermann offenstehenden Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär oder Präsidenten als einer Illusion. Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung werden nicht mehr als unverzichtbarer Ansporn für den selbstverständlich möglichen wirtschaftlichen Aufstieg des Einzelnen gesehen, sondern als eine strukturell unüberwindliche Barriere, die auch und gerade bei allgemeinem Wirtschaftswachstum eine Umverteilung durch Besteuerung nötig macht. Zusätzlich erzeugt die zunehmende Konzentration von Wohlstand bei einer hauchdünnen Schicht von Superreichen im Wege der Vererbung unübersehbar dynastische Tendenzen, die sich selbst mit neoliberalen Vorstellungen zu Leistungsgesellschaft und Meritokratie nicht mehr vereinbaren lassen. Und hier schließt sich der Kreis zu Gregor Gysi. Denn der Mittelstand kommt schon jetzt nicht nur in den USA unter Druck.

Der eigentlich neoliberal denkende Summers plädiert natürlich weder für Enteignungen noch für den rundum sozialistischen Versorgungsstaat. Dagegen wird die historische Erfahrung, dass ein Zuviel an steuerlicher Umverteilung Leistungsanreize und damit Wirtschaftswachstum ersticken muss, von Thomas Piketty in den Schlussfolgerungen zu seinem neuen Bestseller "Capital in the Twenty-First Century"12) bei ansonsten soliden empirischen Befunden komplett ignoriert. Selbst der noch in der DDR sozialisierte Gysi ist nach dem Stahlbad der Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus nicht mehr ganz so wild.

Trotzdem fallen für Gysi und Summers die Antworten auf die Frage nach Leistung, Fairness und insgesamt gerechter, guter Gesellschaft noch immer sehr verschieden aus. Aber die Differenzen haben weniger fundamental-antagonis tischen als mehr modal-nuancierenden Charakter. Sonst hätten die deutschen Unternehmer Gysi erst gar nicht zu ihrer Veranstaltung eingeladen. Und in einem Punkt sind sich Summers und Gysi sogar vollkommen einig: beide wünschen sich verbindlichere internationale Governance. Ohne die wird es echte Fortschritte weder beim Umweltund Klimaschutz noch beim Kampf gegen Stabilitätsrisiken in den globalen Finanzmärkten noch bei dem gegen Steuerflucht geben können.

Plädoyer für einen permanenten, öffentlichen, gewaltlosen Diskurs

Auch der Harvard-Professor für Government, Michael Sandel, kann Differenzen zwischen Neoliberalen und Sozialisten weder entscheiden noch schlichten. Er insistiert allerdings, dass ein lediglich ökonomischer Ansatz hierzu auch nicht imstande ist. Zwischen den konkurrierenden gesellschaftlichen Zielgrößen Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit gibt es Antinomien, die deutlich machen, warum der Streit um den bestens kompatiblen gesellschaftlichen Kompromiss zwischen ihnen seit Menschengedenken unentschieden geblieben ist. Deswegen steht es auch mit den Aussichten auf verbindlichere internationale Governance nicht gut. Hinzu kommen politische und wirtschaftliche Interessen auf Machterhalt.

Dagegen propagiert Sandel den permanenten, öffentlichen, gewaltlosen Diskurs. Das hört sich zunächst lahm, zahnlos, geradezu lachhaft an. Aber im Zeitalter der digitalen Revolution fürchten korrupte, ihre Macht missbrauchende Politiker nichts mehr als die digitale Gegenöffentlichkeit. Das ist und bleibt die einzige Chance auf Fortsetzung und Fortschritt eines nicht ideologisch verzerrten und politisch nicht manipulierten Diskurses über Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit.

Die Enthüllungen von Edward Snowden über die exzessiv missbräuchlichen Abhörpraktiken der NSA haben mit Recht zu einer Riesenempörung weltweit geführt. Sie zeigen die negative Seite der digitalen Revolution. Die negativen Seiten der digitalen Revolution zeigen sich aber noch ungehemmter und freiheitsgefährdender in dem Bestreben der großen privaten Oligopolisten im digitalen Raum, Bürger auszuspähen, zu manipulieren, zu instrumentalisieren und abhängig zu machen. Darin sind diese privaten Akteure um Größenordnungen besser, schneller und innovativer als die Geheimdienste.

So waren die Geheimdienste trotz aller Abhörerei und Big Data anscheinend sogar zu dämlich, Tom Clancys im September 2013 veröffentlichten Politthriller "Command Authority" über einen drohenden Überfall Russlands auf die Ukraine als Risikoszenario ernst zu nehmen. Dagegen erfolgen die Freiheitsgefährdungen der Bürger durch private Akteure wie Google und Facebook überwiegend durch freiwillige Überantwortung noch sensibelster Daten aus reiner Gedankenlosigkeit, Faulheit und Bequemlichkeit. Auch das ist "human after all".

Aufmerksamkeit trotz Internetzensur

Der Schutz gegen Freiheitsgefährdungen des Bürgers durch Oligopolisten im Cyber Space allein durch mehr individuelle Achtsamkeit auf Diskretion, Beharrlichkeit bei der Überprüfung und dem Vergleich von digitaler Information und die Bereitschaft, sich quality content an Unterhaltung, Information oder wissenschaftlichen Neuentwicklungen auch etwas kosten zu lassen, anstatt immer nur "free" downloads zu erwarten und sich mit ihnen zu begnügen, sollte natürlich durch rechtlichen Schutz der Privatsphäre unterstützt und gegen Missbrauch abgesichert werden. Aber es ist gleichzeitig darauf zu achten, dass der artige staatliche Schutzmaßnahmen nicht zur Zerstörung des positiven, emanzipatorischen, freiheits- und innovationsbefördernden Potenzials der globalen digitalen Revolution missbraucht werden.

In China, wo man nichts von zivilgesellschaftlicher Gegenöffentlichkeit hält, wird von Internetzensur schon jetzt gezielt und systematisch Gebrauch gemacht. Michael Sandels frei zugänglicher Vorlesungszyklus "Justice"13) soll gleichwohl von bereits über 30 Millionen Chinesen14) im Internet besucht worden sein. Das hat vermutlich größere politische Langzeitwirkungen, als wenn Wirtschaftsminister Gabriel sich, wohl vorrangig zum Konsum durch das deutsche Tagesschaupublikum, bei einem Chinabesuch zur Ausweitung der deutschchinesischen Wirtschaftsbeziehungen am 22. April 2014 auch noch mit dem Bürgerrechtsanwalt Mo Shaoping zu verabreden versucht, was dann aber von der chinesischen Polizei vereitelt wird.

Fußnoten

1) Der Gesamtablauf des Unternehmertages 2014 kann per Video auf http://www.unternehmertag 2014.com/en/videos nachvollzogen werden.

2) Zur Toronto-Konferenz: http://ineteconomics.org/ conference/toronto

3) Vgl: http://core-econ.org/

4) https://www.youtube.com/watch?v=2E7qz-RWsv0 &list=PLmtuEaMvhDZbquMb8vHjTYd9h1J5kRl0R

5) Co-Autorin mit Martin Hellwig des Buches "Des Bankers neue Kleider: Was bei Banken wirklich schief läuft und was sich ändern muss".

6) Executive Director of Financial Stability.

7) Senior Policy Advisor des Financial Stability Oversight Council, spezialisiert auf agent-based modeling.

8) Mitherausgeber und Hauptkommentator zu ökonomischen Themen.

9) Vgl. zum Beispiel den Leitartikel von FAZ Herausgeber Frank Schirrmacher in der Ausgabe vom 10. Oktober 2008, in dem sich die beiden charakteristischen Sätze finden: "Unser Weltvertrauen ist erschüttert. Wie konnte zugelassen werden, was gerade geschieht?"

10) https://www.youtube.com/watch?list=PLmtuEaM vhDZb2VqPmK9WOrEhKgss5qnqS&v=WjyRNiwlJ_U #t=3168

11) https://www.youtube.com/watch?v=WEOQ66oLgGQ&list=PLmtuEaMvhDZZ1Okcc9AL8Fqzfstjzuva#t=319

12) Harvard University Press, März 2014.

13) https://www.youtube.com/watch?v=kBdfcR-8hEY

14) Laut Angabe von INET-Präsident Robert Johnson bei der Vorstellung von Sandel in Toronto vgl. Fußnote 11.

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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