Aufsätze

Fair Value aus Investorensicht

Im Zuge der andauernden Finanzkrise sind bestimmte Aspekte der Rechnungslegung ungewohnt kritisch hinterfragt worden. Die Unsicherheit über die Entwicklung der Finanzinstitute, die aufgrund der systemischen Risiken im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen, herrscht weiter vor. Daher haben die komplizierten Bilanzierungsmethoden der Finanzinstrumente und insbesondere die Bilanzierung dieser Posten zum Zeitwert (Fair Value) beziehungsweise zum aktuellen Marktwert (Mark-to-Market-Bilanzierung) eine große öffentliche Diskussion ausgelöst. In diesem Beitrag werden drei Hauptaspekte des Fair Value aus Investorensicht beleuchtet:

- die Verringerung der Komplexität und die Steigerung der Vergleichbarkeit von Abschlüssen,

- der Informationsgehalt insbesondere zu Risiken einzelner Bilanzposten und

- die Annahme, dass die Fair-Value-Bilanzierung prozyklischen Charakter hat und damit ein Systemrisiko darstellt.

Reduzierte Komplexität durch Fair Value

In ihrem Artikel "Lehrjahre mit IAS/IFRS - Erfahrungen aus der Bankenperspektive"1) argumentieren die Autoren Strutz und Schieber, dass Reformen in der Rechnungslegung oft nicht mit dem Tempo der Finanzinnovationen Schritt halten konnten

- eine Ansicht, der sich das CFA Institute anschließt. Die Hauptursache liegt in der fragmentarischen Entstehung der Standards: Die Herausgeber beschäftigten sich bei der Erarbeitung ihrer Reformen vorrangig mit Einzelaspekten, sodass sich in den Standards zahllose konzeptionell inkonsistente Methoden widerspiegeln, welche die Komplexität unnötig erhöhen. Diese Komplexität könnte durch eine erweiterte Anwendung des Fair Value auf Finanzinstrumente erheblich gesenkt werden. Die Bilanzierung zum Zeitwert steigert die Objektivität der Bewertung, indem sie dem Management weniger Ermessensspielraum im Wertansatz der Finanzinstrumente lässt. Dies würde zu einer konsistenten Behandlung ähnlicher Sachverhalte führen und damit zu einer besseren Vergleichbarkeit der Jahresabschlüsse, wie sie von Anlegern für die Unternehmensanalyse dringend gewünscht wird.

Vergleichbarkeit versus Managementabsichten

Oft wird behauptet, dass es für Investoren informativ sei, wenn Unternehmen "aus Sicht des Managements" berichten, also mit einer unternehmensspezifischen Sichtweise Informationen zum gesamten Portfoliomanagement der Vermögenswerte und Schulden liefern. Die Sichtweise des Managements mag zwar akzeptabel sein, was die Darstellung und Offenlegung von Informationen angeht. Doch besteht erhebliches Risiko, dass die wirtschaftliche Entwicklung verzerrt dargestellt wird, sobald man diese Methode auf den Ansatz und die Bewertung von Vermögenswerten und Schulden ausweitet.

Wie die Geschäftsleitung die finanzielle Entwicklung und Lage präsentiert, kann durch Anreizsystem, vertragliche und ordnungspolitische Aspekte beeinflusst werden. Selbst bei besten Absichten kann eine Bewertung aus Sicht des Managements dazu führen, dass sich Verzerrungen ergeben und sich dadurch der Informationsgehalt hinsichtlich der Beträge, des Zeitpunkts und der Unsicherheit zukünftiger Cash-Flows der gehaltenen Finanzinstrumente verringert. So können Unternehmen beispielsweise ihre Gewinne steuern, indem sie selektiv nicht realisierte Gewinne und Verluste erfolgswirksam realisieren (Gains Trading).

Verbesserter Informationsgehalt und Frühwarnsystem

Wer Ansatz- und Bewertungsmethoden fordert, die auf den Ansichten des Managements basieren, unterschätzt die Tatsache, dass es immer wieder Unterschiede zwischen den Ankündigungen und den Taten von Managern gibt. Die Möglichkeit, Finanzinstrumente zu halten, wird oft von den Marktgegebenheiten diktiert. In vergleichsweise inaktiven Märkten können Manager beispielsweise verbriefte Finanzinstrumente länger als beabsichtigt halten. Relativ liquide Posten mit längerer Laufzeit könnten andererseits frühzeitig abgestoßen werden, um Liquiditätsvorgaben zu erfüllen. Somit trägt die Unsicherheit über zukünftige Managementabsichten erheblich zur Komplexität und schlechten Vergleichbarkeit der Bilanzierung von Finanzinstrumenten bei.

Die Bilanzierung zum Zeitwert stellt eine bessere Annäherung an den wirtschaftlichen Wert dar als die Bilanzierung zu fortgeführten Anschaffungskosten: Der Fair Value liefert eine aktualisierte Beurteilung der wirtschaftlichen Fundamentaldaten und berücksichtigt damit stets auch die Auswirkung von Risikofaktoren wie etwa Liquidität, Zinsen, Vorfälligkeit und Kreditrisiken auf den Wert von Finanzinstrumenten. Im Gegensatz zur Wertberichtigung bei fortgeführten Anschaffungskosten verbessert die Anpassung an den Zeitwert die Aussagefähigkeit der Berichtszahlen für die Kalkulation zukünftiger Werte. So ermöglicht etwa die Offenlegung des Effektivzinses in der Zeitwertbilanzierung eine Einschätzung der wahrscheinlichen Refinanzierungskosten am Abschlussstichtag und ist damit wesentlich aussagefähiger als vergleichbare Werte auf Basis fortgeführter Anschaffungskosten.

Prozyklizität tendenziell überbewertet

Ein weiterer Vorteil der Fair-Value-Bilanzierung besteht in der Funktion als Frühwarnsystem zur Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens. Manager erhalten damit rechtzeitig die Möglichkeit, ihre betrieblichen Entscheidungen anzupassen. Die Subprime-Kreditvergabe hätte ohne eine Bilanzierung zum Zeitwert wahrscheinlich noch länger angedauert. Auch lassen sich entsprechende Lehren aus dem "verlorenen Jahrzehnt" in Japan ziehen: Die dortige Rezession in den neunziger Jahren wurde dadurch ausgelöst, dass Verluste nicht rechtzeitig realisiert und die Unternehmensentscheidungen entsprechend langsam angepasst wurden.

Durch die kontinuierliche Aktualisierung des Zeitwerts schlägt sich das zugrunde liegende Risiko derivativer Instrumente bereits in der Bilanz nieder, was ansonsten außerhalb der Bilanz erfasst würde. Damit fungiert die Bilanzierung zum Fair Value als Frühwarnsystem und ermöglicht eine Korrektur aus eigener Kraft. Demgegenüber können historische Anschaffungskosten sowohl den Wert unterschätzen (das heißt das Engagement in Derivaten außer Acht lassen) als auch überschätzen (indem in Übertreibungsphasen gekaufte Vermögenswerte weiterhin zu überhöhten Preisen bilanziert werden).

Bedenken gegenüber der Bewertung zum Fair Value stammt vor allem von Abschlusserstellern. Sie wenden gegenüber dem Zeitwert ein, dass er die Volatilität von Finanzanlagen erhöhen kann, die bis zum Ende ihrer vertraglichen Laufzeit gehalten werden sollen. Dass diese Auswirkung der Fair-Value-Bilanzierung so überbetont wird, verwundert sehr; denn der beizulegende Zeitwert wird selbst in Finanzinstituten recht begrenzt angewendet. Ein IWF-Bericht2) ergab, dass im Dezember 2006 nur 36 Prozent der Finanzanlagen (davon 14,7 Prozent Derivate) und 28,1 Prozent der Finanzschulden (davon 15,3 Prozent Derivate) vollständig zum Zeitwert ausgewiesen wurden. Die prozyklische Natur des Zeitwerts wird also tendenziell überbewertet, während seine Vorteile für Investoren oft übersehen werden.

Häufig wird die unterjährige Volatilität von Skeptikern als bedeutungslose und hektische Neubewertung bezeichnet. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass eine solche Volatilität aus Investorensicht Informationen über die Opportunitätskosten der jeweiligen Vermögenswerte und Schulden für den Zeitraum bis zu ihrer Fälligkeit liefern kann. Eine etwaige Verwirrung der Anleger aufgrund solcher Neubewertungen lässt sich überdies durch eine verbesserte Darstellung des Jahresabschlusses vermeiden.

Antizyklisches Vorgehen bei der Kapitalausstattung

In ihrem Turner Review3) schlug die britische Financial Services Authority (FSA) kürzlich eine antizyklische Vorgehensweise bei den Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung vor. Danach soll die Ausfallwahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung des Konjunkturzyklus (through-the-cycle) und nicht stichtagsbezogen (point in time) berechnet werden. Die FSA brachte zudem eine Erweiterung der Bilanzierungsvorschriften um eine nicht-ausschüttbare Konjunkturzyklusreserve in der Gewinn- und Verlustrechnung in die Diskussion ein. Der Jahresüberschuss und der Gewinn pro Aktie ließen sich dann sowohl vor als auch nach Berücksichtigung dieser Reserve ausweisen und würden damit zwei Messgrößen für die Rentabilität liefern.

Das CFA Institute begrüßt, dass Regulierungsbehörden die Diskussion mit Standardsetzern suchen, um Wege aus der aktuellen Krise zu finden. Allerdings werden Abschlüsse für die Investoren und nicht für die Aufsichtsbehörden erstellt. Zusätzliche Komplexität aus aufsichtsrechtlichen Gründen könnte zu einer noch komplexeren Darstellung und damit zu einer geringeren Transparenz für die Anleger führen.

Entkoppelung von Rechnungslegung und Eigenkapitalanforderungen

Investoren nutzen Bilanzen für ihre Kapitalallokation. Aufsichtsbehörden verwenden sie, um die Sicherheit und Bonität von Finanzinstituten einzuschätzen. Diese zwei Ziele müssen entflochten werden, da ein Spannungsverhältnis zwischen anlegerorientierten Informationen und Informationen über die Stabilität und Bonität besteht. Prozyklische Auswirkungen der Bilanzierung zum Zeitwert entstehen oft daraus, dass für allgemeine Transparenz benötigte Informationen nicht von Informationen zur Ermittlung einer angemessenen Kapitalausstattung getrennt werden können.

Um systemische Risiken zu verringern und Finanzinstituten zusätzliche Anreize zu einer laufzeitkongruenten Refinanzierung zu bieten, haben einige Interessengruppen4) eine neue Bewertungsregel "Mark to Funding" vorgeschlagen. Demnach sollen Banken zwei Bilanzen veröffentlichen: eine an Anleger gerichtete Bilanz zum Zeitwert und eine finanzierungsbezogene Bilanz für die Aufsichtsbehörden. Eine Bewertung nach dem "Mark to Funding"-Prinzip basiert auf der Idee, dass eine Bank, die zum Beispiel einen fünfjährigen Vermögenswert mit sechsmonatigen Schulden finanziert hat, diesen Vermögenswert zum erwarteten Preis in sechs Monaten bilanzieren sollte, weil Preisvolatilität innerhalb der sechs Monate keine Rolle spielt.

"Mark to Funding" ist ein interessanter Vorschlag zur Entflechtung der Finanzberichterstattung für Investoren von der Berichterstattung für die Regulierungsbehörden. Sofern Anleger beide Bilanzen erhalten würden, könnten sie durch den Vergleich zusätzliche Einblicke in Laufzeitinkongruenzen zwischen Vermögenswerten und Schulden erlangen. Doch sollte man auch hier die bereits genannten Probleme berücksichtigen, die ein Abschluss aus Managementperspektive mit sich bringt; denn die Refinanzierung wird in der Regel nicht für einzelne Vermögenswerte, sondern für das gesamte Institut oder den Konzern abgeschlossen und dann intern verteilt.

Ergebnisse von Anlegerumfragen

Investmentexperten befürworten die Verwendung der Fair-Value-Bilanzierung als angemessener Bewertungsmethode für Finanzinstrumente. In einer Umfrage unter Mitgliedern des CFA Institutes im März 2008 gaben 79 Prozent von 2 006 Teilnehmern an, dass Fair Value die Transparenz der Finanzinstitute und das Verständnis des Risikoprofils verbessert. 74 Prozent waren der Meinung, dass dies der Marktintegrität zugute kommt. Im September und Oktober 2008 wurden zwei weitere Umfragen durchgeführt, in denen die früheren Ergebnisse bestätigt wurden. In der EU-weiten Mitgliederbefragung sprachen sich 79 Prozent gegen eine Abschaffung der Bewertung zum Zeitwert aus, und 85 Prozent waren der Meinung, dass dadurch das Anlegervertrauen in das Bankensystem geschwächt werden würde.

Die derzeitige Wirtschaftskrise wurde nicht durch die Bilanzierung zum Fair Value verursacht. Als Auslöser sind vielmehr eine unzureichende Kreditvergabepraxis, ein unangemessenes Risikomanagement, Modellversagen, asymmetrische Vergütungspläne und eine schwache Unternehmensführung zu nennen. Allerdings wurde der Ernst der aktuellen Problematik durch die Nutzung des Zeitwerts nochmals unterstrichen, gleichzeitig wurden auch seine Vorteile deutlich.

Alle Marktteilnehmer führen Börsentransaktionen oder Investitionen unter Annahme des Zeitwerts aus. Ein vorsichtiger Investor wird ausschließlich den Fair Value heranziehen, um den Wert einer Bank oder ihrer einzelnen beziehungsweise gesamten Vermögenswerte einzuschätzen. Folglich kann Fair Value nur dazu beitragen, die Kreditverknappung zu beseitigen und das Vertrauen der Investoren in die Kapitalmärkte wiederherzustellen.

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