Leitartikel

Die Deutschen und der Euro

Was macht die bürgerliche Gesellschaft doch gemeinhin ein Aufheben davon, wenn ein Sprössling ihrer Zeit dem Kindergarten entwächst und sich ziemlich unwiderruflich auf erste ernsthaftere Prüfungen für den lebenslangen Erfolg vorzubereiten hat. Die Torte zum fünften Geburtstag pflegt prächtig zu sein, garniert mit allerlei Gewünschtem. Dem Euro jedoch, der soeben den fünften Jahrestag seiner Handgreiflichkeit begehen konnte, hat zumindest in Deutschland jetzt niemand besonders herzlich gratuliert und auch von größeren Backwerken zu seinem Fortschritt ist nichts bekannt geworden. Handelt es sich da etwa immer noch um ein ungeliebtes Kind, dessen nun doch schon recht ansehnliche Existenz dem Bundesbürger höchstens eine Art anerkennendes Nicken abnötigt?

Man weiß es seit Beginn, von vorneherein also, und man findet es bei den meisten Umfragen bis heute bestätigt:

Per Volksentscheid wäre die Gemeinschaftswährung Europas mitnichten einführbar gewesen. Der Euro ist ein Konstrukt europäischer Politiker nach Art von Sonnenkönigen - l'Etat, ce sont nous -, die dem Volk nicht zutrauten, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Dass vor allem Bundesbürger ihre Deutsche Mark lieber mochten und mitunter noch mögen als den "Brüsseler" Euro, ist bis heute überaus verständlich. Denn für das Deutschland der Bundesrepublik ist die Mark sehr viel mehr gewesen, als nur eine Währung, als ein alltägliches Austauschmedium: Die D-Mark war das wichtigste Staats- wie Statussymbol der stückchenweise in die Souveränität entlassenen neuen deutschen Republik.

Gerade weil der Bruch mit der deutschen Geschichte 1945 zunächst ein totaler gewesen ist, suchte die Bundesrepublik ziemlich mühsam nach der "richtigen" neuen Identität, fand dafür aber lange nichts Besseres als den Stolz auf die eigene Aufbauleistung, auf das "Wirtschaftswunder" eben. Und dass sich diese Leistung des neuen Deutschlands dann so wunderbar in der (relativen!) Stabilität seiner Deutschen Mark anfassen und ausdrücken ließ, hat der eigenen Währung "im Volk" zu einer emotionalen Wertschätzung verholfen, wie sie sonst nur noch das britische Pfund zu Hause empfängt. Eine tragende Rolle für die deutsche Liebe zur Mark hat gewiss auch gespielt, dass ihre Kaufkraft draußen auch denjenigen Respekt verschaffte, die sich sonst als Touristen wie Händler zwischen Nord- und Südkap spürbaren antideutschen Ressentiments ausgesetzt wussten.

Welches Gewicht die Attraktivität der Deutschen Mark West für die deutsche Wiedervereinigung gehabt hat, wird nicht zu überschätzen sein. Dem östlichen Brudervolk, das da skandiert hatte, man werde unverzüglich ins D-Mark-Land überlaufen, wenn man das monetäre Glückspfand nicht daheim haben könne, dann nur zehn Jahre später die große DM-Freiheit in eine noch größere des Euro umzuwechseln, muss Verlustgefühle provoziert haben. Bei den Älteren sind sie immer noch vorhanden.

Soviel des Ruhmes verdeckt aber auch im Falle der Deutschen Mark, dass sie in etwas weitgefasstem Sinn mit die Ursache für die deutsche Krankheit bis heute gewesen ist. Die Kraft der D-Mark hat zweifellos eine fatale nationale Überheblichkeit gestärkt: Jene Wohlstandsmentalität, die da glaubte, die Bundesrepublik könne sich abkoppeln von den gewaltigen Veränderungen der ökonomischen und sozialen Welt um sie herum, von jener immer grenzenloseren Austauschbarkeit aller Güter und Dienstleistungen, die unredliche Tribune als "Globalisierung durch Ausbeutung" beschimpfen. Die Strukturdefizite Deutschlands hätten möglicherweise unter der Käseglocke "D-Mark" noch etwas länger konserviert werden können, als ohne diesen schützenden Deckel. Aber gestunken hätten sie schließlich doch.

Ob die deutschen Banken mit die ersten gewesen sind, die den Verlust ihrer Vorzugsstellung als DM-Inhaber scheußlich zu spüren bekamen und deshalb saftig in die "Restrukturierung" gezwungen wurden, darf bezweifelt werden. Ganz überwiegend sind die schwankenden Gestalten der kreditwirtschaftlichen Szene durch Kreditausfälle in Schwierigkeiten gekommen, nicht durch Währungswirkungen. Immerhin mag es sein, dass der neue Euroraum für Kreditkunden mitunter verschärfte Bedingungen auf deren Absatzmärkten brachte. Für schlechte Immobilienforderungen galt dies aber bestimmt nicht. Auch kann, wer es denn will, die Fehleinschätzung der Chancen und Risiken des Investmentbanking durch eine sehr namhafte Reihe deutscher Institute in einen sanften Zusammenhang mit verlorenen DM-Usancen bringen. Aber mehr sicher nicht - die Bankenmalaise um die Jahrtausendwende ist hausgemacht - zu faul einfach sei die Branche in den Neunzigern geworden, sagen grimmige Kritiker.

Ausgerechnet mit der Einführung des Euros stürzte die deutsche Wirtschaft in das tiefste Konjunkturloch der gesamten Nachkriegszeit. Ausgerechnet mit der Einführung des Euros raste der nationale Aktienindex Dax von seinem Acht-tausender-Gipfel herunter auf ein Fünftel, durchaus ungewiss, ob dort selbst überhaupt noch ein Basislager zu finden sei. Es gibt nicht wenige Leute, die zwischen beiden Ereignissen, also der Euro-Umstellung und der deutschen Wirtschaftskrise, einen ursächlichen Zusammenhang behaupten. Das ist selbstverständlich Unsinn. Dennoch wäre gewiss eine Regieführung glücklicher angekommen, die die Duplizität des Geschehens hätte vermeiden können, also wenigstens das unvermeidbare deutsche Aufwachen im Wettbewerb der Löhne, Preise, Transfers, Arbeitszeit noch ein bisschen hätte aufschieben können. Aber ein solcher Regisseur ist leider bislang nie gefunden worden. Dennoch hat der Abschwung von 2002 bis 2006 dem populären Image des Euro in Deutschland geschadet, und dieses umso mehr, als typische Alltagswaren die faszinierende Tendenz aufweisen, heute soviele Euros zu kosten wie einstmals D-Mark. Der Euro als Teuro ist im Volksempfinden tief und fest verankert, da kann das Statistische Bundesamt den Warenkorb erklären, wie es will.

Die offiziell berechnete Inflationsrate des Euros bewegt sich für die gesamte bisherige Lebenszeit der Gemeinschaftswährung um die zwei Prozent - und dieses im euroweiten Durchschnitt des Verbraucher-Preisindex. Die Kaufkraftstabilität des neuen Geldes entspricht damit bislang der des alten - aus deutscher Sicht. Trotz der immer noch großen Unterschiede in der Wirtschaftsverfassung der Mitgliedsländer, trotz der im Verhältnis zu hohen Staatsdefizite der Einzelhaushalte, trotz der vielen Verstöße gegen den gewollten Sinn der Maastrichtverträge ist der Inflationsdruck im Währungsraum auch bei explodierenden Energiepreisen noch derartig gering, dass die Euro-Zinsen denjenigen aus D-Mark-Glanzzeiten nicht nachstehen. Nur zur sanften Erinnerung: Die Ölkrise vor mehr als einer Generation hatte die Bundesbank gezwungen, die Kapitalmarktsätze in Deutschland zweistellig werden zu lassen. Für 2007 dagegen schreibt die Europäische Zentralbank soeben: "Die Prognosen rechnen mit einer durchschnittlichen jährlichen Preissteigerungsrate von 1,9 bis 2,4 Prozent - und für 2008 werden 1,8 bis 2,1 Prozent projiziert." Die Steuererhöhungen, auch die deutschen, sind dabei bereits eingerechnet.

Milton Friedman, der kürzlich verstorbene und hochgeehrte US-amerikanische Ökonomieprofessor, hat dennoch die kleinen bis großen Assetgeber der Welt davor gewarnt, ihr Geld in Euro statt in Dollar (!) anzulegen: Es könne schlicht nicht sein, dass eine Währung ohne eine regierende Schutzmacht auskomme. Nicht allein die vom Markt gemachten Wechselkurse, sondern auch die bisherige Euro-Wirklichkeit geben solchem Nationalstaatsdenken keine Grundlage. Etabliert hat sich im Euro-Raum dagegen eine neue Form von Autorität: Die Mitgliedsländer bezeugen in ihrem Maastrichtbezogenen Tun oder Lassen eine spürbare Scheu davor, für ihre Verstöße gegen die von ihnen mitunterschriebene Währungsverfassung getadelt werden zu können. Sich gegenüber der wachhabenden Europäischen Kommission vor allem für Überschreitungen der Schuldengrenze rechtfertigen zu müssen, von der EZB in schlichter Berichtsform getadelt zu werden, gar einen supranationalen Sanktionsmechanismus auszulösen, gilt inzwischen eindeutig als unangenehm. Die nationale Opposition wirft der betreffenden Regierung schwerwiegende Unfähigkeit vor. Unschuldige Nachbarländer neigen bei allerlei Gemeinschaftsprojekten kaum verhohlen zur Häme. Der schuldige Finanzminister steht andauernd in der öffentlichen, der Medienkritik. Das alles heißt: In Euro-Europa hat sich wie nirgendwo sonst eine supranationale Verantwortung entwickelt. Es gibt eine akzeptierte "höhere Instanz".

Wer nicht vor Übertreibungen zurückschreckt, kann den an der Stabilität des Euro messbaren Erfolg der Europäischen Zentralbank auf die weitgehende Übernahme des erprobten Modells "Deutsche Bundesbank" durch die Euro-Europäer zurückführen. Dies ist im Grundsätzlichen unterschreibbar, wenn man vor allem auf zwei wohlbekannte Kernelemente abstellt - auf die Unabhängigkeit der Zentralnotenbank von den nationalen Regierungen inklusive der Europäischen Kommission, und auf die absolute Dominanz von Preisstabilität im Zielbündel der EZB. In geradezu faszinierender Weise geraten jedoch diese beiden Zentralbankerrungenschaften wirklich punktgenau wie einst beim Modell Bundesbank immer wieder in die politische Kritik.

Schuld an solchen Verständnisproblemen sind heute wie einst die gleichen Phänomene. Zum einen werden Regierungen von ihrer aufgeschreckten Öffentlichkeit in zunehmendem Maße daran gemessen, wie schnell und wie (vermeintlich) wirksam sie auf aktuelle Problem- und Notlagen reagieren. Langfristige Strategien sind medial sehr uninteressant. "Abhilfe sofort" dagegen gilt als das einzig Angemessene, und wenn es nur ein Bundeskanzler in Gummistiefeln beim Sandsackstapeln ist. Die vernetzte Welt will den täglichen Zwischenbericht wahrnehmen, bei Wirtschaftsunternehmen wie bei Politikern. Eine Notenbank, die ein Konjunktur- respektive Arbeitsmarktprogramm der Regierung nicht sofort durch eine Zinssenkung unterstützt (!), erscheint deshalb (ungeachtet der etwas zweifelhaften Wirkung von Zinspolitik überhaupt) als untätig, unverständlich und allgemein ungut. Glücklicherweise haben aber bislang sowohl die Präsidenten der Europäischen Zentralbank als auch die Gouverneure aus den Mitgliedsbanken die Kultur der Stetigkeit im Eurosystem über den ad hoc-Drang ihrer Entsender zu stellen gewusst. Sie riskieren damit wie einst die Bundesbank den Unwillen ihrer kurzfristig erfolgsabhängigen Regierungen, die am liebsten vor jeder Zinserhöhung konsultiert werden möchten. Und erstaunlicherweise erfasst diese integrative Kraft des Systems stets auch die neuen Ratsmitglieder - alsbald. Auch der Euro ist auf gutem Wege, mehr als eine Währung zu sein. K.O.

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