Aufsätze

Der deutsche Verbraucherpreisindex ein geeigneter Maßstab für die Inflationsmessung?

Der deutsche Verbraucherpreisindex ist nur ein wichtiger Teil der Preisstatistik in der Bundesrepublik Deutschland.1) Daneben werden Erzeugerpreisindizes, Großhandelspreisindizes, Einzelhandelspreisindizes und Preisindizes für den Außenhandel ermittelt. Ein Verbraucherpreisindex beschränkt sich damit bereits von seinem Auftrag her auf den Endverbrauch der privaten Haushalte und stellt damit nur einen, allerdings sehr wichtigen, Teilaspekt der Inflation dar.

Der Verbraucherpreisindex und der Harmonisierte Verbraucherpreisindex

Neben dem nationalen deutschen Verbraucherpreisindex (VPI) wird vom Statistischen Bundesamt, ausgehend von den gleichen Einzeldaten, im Auftrag der Europäischen Union ein Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI) für Deutschland ermittelt.

Beide Indizes sollen dem zentralen Ziel der Inflationsmessung folgen, allerdings müssen bei beiden Indizes dabei Kompromisse eingegangen werden.

Der Verbraucherpreisindex wird als Inflationsmaßstab verwendet, ist aber auch Grundlage für viele Wertsicherungsklauseln in privatrechtlichen Verträgen (Kompensationsmaßstab), seine einzelnen Elemente dienen - neben anderen Preisindizes außerdem der Berechnung realer Wertgrößen, zum Beispiel in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (Deflationierung).

Die zentrale Aufgabe des Harmonisierten Verbraucherpreisindexes ist die Inflationsmessung. Eine wichtige Nebenbedingung ist seine internationale Vergleichbarkeit, insbesondere innerhalb der Europäischen Union und seine Aggregierbarkeit zu europäischen Verbraucherpreisindizes, zum Beispiel für die Währungsunion und die EU insgesamt.

Unterschiede im Erfassungsbereich

Aktuell liegen die wichtigsten Unterschiede zwischen diesen beiden Verbraucherpreisindizes in ihrem Erfassungsbereich bezüglich der einbezogenen Waren und Dienstleistungen. Der nationale Verbraucherpreisindex ist dabei aus verschiedenen Gründen umfassender:

Aufwendungen für selbstgenutztes Wohneigentum: Dieses wird im VPI nach dem Mietäquivalenzansatz erfasst, das heißt für von den Eigentümern selbst genutzte Wohnungen wird eine vergleichbare Marktmiete unterstellt. Für den HVPI wird ein Nettoerwerbskonzept angestrebt, das heißt der Kaufpreis für neues Wohneigentum soll berücksichtigt werden. Die Umsetzung in die Praxis und damit die Einbeziehung in den HVPI dürfte wohl noch einige Jahre dauern.

Aufwendungen für Glücksspiele: Im HVPI muss darauf wegen der großen Erhebungsprobleme in einigen Mitgliedstaaten derzeit noch verzichtet werden, obwohl aus konzeptionellen Gründen eine Einbeziehung anzustreben wäre.

Aufwendungen für die Kraftfahrzeugsteuer: Die Kfz-Steuer wird in den deutschen VPI einbezogen. Der HVPI hält sich hier strikt an die Abgrenzungen der VGR: Die Kfz-Steuer ist nicht Bestandteil der privaten Verbrauchsausgaben und gehört damit nicht zum Erfassungsbereich des HVPI.

Für das Ergebnis von größerer Bedeutung ist von den genannten Unterschieden allein die Einbeziehung des selbstgenutzten Wohneigentums in den VPI. Die Kfz-Steuer kann ausnahmsweise zum Zeitpunkt einer Änderung zur Erklärung der Unterschiede in den Ergebnissen herangezogen werden.

Entwicklung von Kerninflationsmaßen

Die Beurteilung der Inflation aufgrund der Ergebnisse eines Verbraucherpreisindexes wird durch Preisentwicklungen gestört, die nach überwiegender Auffassung nicht auf inflationäre Prozesse zurückzuführen sind. Oft genannt werden in diesem Zusammenhang die saisonalen und witterungsabhängigen Preise für unverarbeitete Lebensmittel, die volatilen und weltmarktabhängigen Preise für Mineralölprodukte und die Preise für Waren und Dienstleistungen, die durch administrative Maßnahmen des Staates (zum Beispiel durch direkte Preisregulierung, Besteuerung oder Subventionierung) dominiert werden.

Das Statistische Bundesamt unterstützt entsprechende Auswertungen durch die Bereitstellung von Teilindizes des VPI ohne saisonale Güter (in unterschiedlicher Abgrenzung), ohne administrierte Preise (in der Abgrenzung des Sachverständigenrates für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung), sowie ohne Heizöl und Kraftstoffe und andere Energien. Durch die Veröffentlichung tief disaggregierter Daten für rund 680 Waren und Dienstleistungen und die Bereitstellung entsprechender (über fünf Jahre stabiler) Gewichte kann darüber hinaus jeder Nutzer die für seinen Zweck "richtige Kerninflationsrate" selbst ermitteln.

Für den HVPI wurde zusätzlich konzeptionell ein Teilindex "HVPI zu konstanten Steuersätzen" entwickelt. Hierfür werden aus der gemessenen Preisentwicklung jeweils die durch Änderungen der wichtigsten Verbrauchssteuern verursachten Preisveränderungen herausgerechnet. Ein solcher Maßstab ist aber für die ungeschulte Öffentlichkeit weniger geeignet, so würde zum Beispiel die nicht vollständige Überwälzung der Belastungen aus der letzten Mehrwertsteuererhöhung dabei als Preisrückgang ausgewiesen. Die Veröffentlichung eines solchen analytischen Ergebnisses könnte erhebliches Misstrauen gegenüber den amtlichen Ergebnissen schaffen.

Konzeptionelle Grundlagen des deutschen Verbraucherpreisindexes

In der Folge sollen einige grundlegende Konzepte des deutschen Verbraucherpreisindexes auf ihre Eignung für die Inflationsmessung begutachtet werden. Die zugrunde liegenden Indexformeln (Laspey-res-Preisindex beziehungsweise Dutot- Formel für Elementaraggregate) sind praktikabel und widersprechen dem Ziel der Inflationsmessung nicht. International strittig diskutiert wird vor allem die Frage, wie oft die Wägungsbasis umgestellt werden muss, um hinreichend repräsentative Ergebnisse zu ermitteln.

Die Aufsätze des Statistischen Bundesamtes anlässlich der Indexreformen enthalten regelmäßig eine nach Ursachen differenzierte Auswertung der Revisionsdifferenzen.2) Ergebnis ist, dass die Anpassung der Gewichte in fünfjährlichem Abstand die Ergebnisse nur um durchschnittlich etwa 0,1 Prozentpunkt verändert. Dies erscheint akzeptabel, insbesondere weil durch ein solches Vorgehen wesentliche Nachteile einer jährlichen Umstellung der Gewichte vermieden werden.3)

Die Abgrenzung des Erfassungsbereichs des VPI nach dem Inlandskonzept, also die Einbeziehung von Käufen gebietsfremder Haushalte im Wirtschaftsgebiet und die Nichteinbeziehung von Käufen gebietsansässiger Haushalte in der übrigen Welt (meist Touristenausgaben) entspricht wohl auch den meisten Inflationstheorien. Der Einfluss der Auswahl dieses Konzepts auf die Ergebnisse ist für den deutschen VPI darüber hinaus zu vernachlässigen.4)

Der Verbraucherpreisindex beschränkt sich weitestgehend auf die Einbeziehung der Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte. Dieses Konzept erscheint für einen Inflationsmaßstab angemessen, insbesondere wenn der Nutzer die Ergebnisse des VPI mit anderen für die Inflationsmessung relevanten Daten, zum Beispiel der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, kombinieren will. In einem solchen Fall ist die enge Bindung an ein übergeordnetes und international vereinbartes Raster, wie es die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen bieten, von großer Bedeutung. Für einen Kompensationsmaßstab ist das nicht notwendig. Für einen Haushalt ist es von untergeordneter Bedeutung, ob zum Beispiel Beiträge zu einer privaten Krankenversicherung Teil der Verbrauchsausgaben oder Beiträge zu einer gesetzlichen Krankenversicherung Teil der Sozialbeiträge darstellen. Beides sind für ihn Belastungen, die - zumindest aus seiner Sicht - in einen Kompensationsmaßstab gleichermaßen eingehen sollten.

Ähnlich verhält es sich mit den Finanzierungskosten der privaten Haushalte. Konsumentenzinsen gehören zum Beispiel nicht zu den Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte und gehen damit nicht in den VPI ein. Für einen Haushalt sind dies jedoch vielfach nicht ganz unbedeutende Belastungen, die aus seiner Sicht in einem Kompensationsmaßstab berücksichtigt werden sollten. Als einzige Position außerhalb der Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte wird derzeit die Kfz-Steuer in den VPI einbezogen. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass es sich dabei um eine Verbrauchssteuer handelt und dass andere Verbrauchssteuern als Bestandteile des Verkaufspreises in den VPI eingehen. Für den Konsumenten ist der Weg der Steuereintreibung aber unerheblich, er muss sie bezahlen. Insofern folgt die VPI-Berechnung in diesem einen Punkt eher dem Ziel eines Kompensationsmaßstabs.

Nichteinbeziehung innersektoraler Käufe

Die Nettodarstellung des Haushaltssektors, also die Nichteinbeziehung innersektoraler Käufe und Verkäufe entspricht ebenfalls den Konzepten eines Inflationsmaßstabs. Sie hat zur Folge, dass Käufe von Gebrauchtwaren (insbesondere Kraftfahrzeuge) nur dann in die Indexberechnung eingehen, wenn ein Unternehmen oder der Staat als Anbieter auftreten. Dieses Konzept stellt aber für das Ziel "Kompensationsmaßstab" ein Problem dar. Für den Käufer eines Gebrauchtwagens ist es in der Regel ohne Bedeutung, wer als Anbieter auftritt, sein Budget wird gleichermaßen belastet. Für einen Kompensationsmaßstab erscheint der Erfassungsbereich des VPI diesbezüglich zu eng.

Vom Eigentümer selbst genutzter Wohnraum (Wohnungen und Häuser) wird im VPI nach dem Mietäquivalenzansatz erfasst, das heißt für Wohnungen im Besitz des Nutzers werden vergleichbare Marktmieten angesetzt. Dieses Konzept entspricht eher der Zielsetzung eines Kompensationsmaßstabs. Für den HVPI wird deshalb (und weil die Umsetzung des Mietäquivalenzansatzes in einigen Mitgliedstaaten der EU ohne ausgeprägten freien Mietenmarkt in der Praxis schwer umzusetzen wäre) ein Nettoerwerbsansatz angestrebt, der einem Inflationsmaßstab eher entsprechen würde. Ein solches Konzept ist allerdings monatlich und zeitnah nur schwer umsetzbar, so dass im HVPI zurzeit komplett auf die Berücksichtigung des Wohneigentums verzichtet werden muss.5)

Beispiel Versicherungen

Die Nettodarstellung von Versicherungen im Verbraucherpreisindex bedeutet, dass als Versicherungsdienstleistung nur das darin enthaltene Dienstleistungsentgelt6) in die Indexberechnung eingeht. Im Gegenzug dazu werden alle von privaten Versicherungen finanzierten Leistungen im Schadensfall - unabhängig davon, ob eine finanzielle Erstattung an den betroffenen Haushalt oder eine direkte Abrechnung des Versicherungsunternehmens mit der regulierenden Stelle (zum Beispiel Werkstatt, aber auch Arzt oder Krankenhaus) erfolgt

- mit ihrem Marktpreis in die Indexberechnung einbezogen.7) Für einen Kompensationsmaßstab würde sich eine gegenteilige Vorgehensweise empfehlen. Der private Haushalt empfindet die Bruttoprämien als Belastung, die von einer Versicherung finanzierte Schadensbehebung dagegen nicht. Außerdem liegt das Augenmerk des einzelnen Haushaltes auf der eigenen, individuellen wirtschaftlichen Situation, eine Gesamtbetrachtung des Haushaltssektors interessiert nicht.

Preiserfassung im Gesundheitswesen

Die derzeit in der VPI-Berechnung praktizierte Preiserfassung im Gesundheitswesen könnte für das Ziel der Inflationsmessung ein Problem darstellen. Dies betrifft zwar nicht privat finanzierte oder von privaten Krankenversicherungen erstattete Leistungen des Gesundheitswesens, aber alle von gesetzlichen Krankenversicherten teilweise erstatteten Leistungen. Hier geht nämlich nicht ein Marktpreis in die Indexberechnung ein, sondern der Finanzierungsbeitrag der privaten Haushalte.

Damit hatte zum Beispiel die Gesundheitsreform des Jahres 2004 mit der deutlichen Ausweitung der Eigenbeteiligungsanteile der Patienten massiven Einfluss auf die ermittelte Teuerungsrate, obwohl die Leistungspreise im Gesundheitswesen stabil und zum Teil sogar rückläufig waren. Dieses Konzept entspricht wohl eher dem Ziel eines Kompensationsmaßstabs.8)

Auch die derzeitige Praxis der Qualitätsbereinigung entspricht primär der Zielsetzung der Inflationsmessung. Eine Qualitätsverbesserung bei unverändertem Preis wird zum Beispiel immer als Preisrückgang nachgewiesen, ob der private Haushalt daraus tatsächlich eine Einsparung realisieren kann, interessiert kaum.

Im Rahmen der Berechnung eines Inflationsmaßstabs wird der private Haushalt damit de facto zur Realisierung des allgemeinen technischen Fortschritts gezwungen, auch wenn er dafür mehr Geld einsetzen muss. Ein Kompensationsmaßstab sollte im Gegensatz dazu von unveränderten Konsumentenwünschen ausgehen und "erzwungene Qualitätsveränderungen" gegebenenfalls als anpassungsrelevante Preissteigerungen ausweisen.

Unterschiedliche Zielsetzungen

Der deutsche Verbraucherpreisindex orientiert sich in seiner Ausgestaltung sehr stark an der Zielsetzung der Inflationsmessung und ist daher als geeigneter Maßstab hierfür anzusehen. Da Ähnliches für den Harmonisierten Verbraucherpreisindex gilt, stellt sich die Frage, ob in Zukunft die beiden Indizes nicht stärker auf unterschiedliche Zielsetzungen ausgerichtet werden sollten. Damit könnte langfristig der HVPI in Deutschland den VPI als Inflationsmaßstab ersetzen, der VPI im Gegenzug besser auf die Ziele eines Kompensationsmaßstabs ausgerichtet werden.

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