Leitartikel

Derivate - es kommt darauf an, was man daraus macht

In den Kommentaren zum Geschäft mit derivativen Produkten - die Diskussionen haben an Deutlichkeit und Intensität zugenommen - wird gerne schwarz/weiß gemalt. Befürworter wie Gegner können dabei, fast wie im Religionsstreit, viele Argumente für sich reklamieren. Für die einen ist das Geschäft "unterm Strich" nicht mehr aus dem modernen Banking wegzudenken. Die anderen fragen sich, ob die neue Verpackung im bankgeschäftlichen Tun nicht eine gefährliche Verlagerung alter Risiken (und Chancen) aus der Bilanz (aber nicht aus dem Obligo) darstellt, für die am Ende wegen der gewaltigen Volumen nicht genügend Eigenkapital vorgehalten wird. Von Kritikern werden dabei latent-dumpfe Erinnerungen geweckt an die Terminspekulation mit Tulpenzwiebeln oder an die Südsee-Spekulation im 17./18. Jahrhundert, die als South-Sea-Bubble in die Geschichte einging.

Dabei sind aus der "Mikro-Perspektive" Derivate (und Derivate auf Derivate) in hundertfacher Ausformung weder gut noch schlecht. Auch in der Betrachtung "moderner Instrumente" aus der Sicht der meisten Häuser und Kunden trifft diese Beurteilung zu. In der Summe für das Finanzsystem quasi aus der Makro-Sicht - und für einzelne Mitglieder der Handelswelt kann ihr Einsatz jedoch gefährliche Ausmaße annehmen, denn sie (die Derivate) stellen im weltweiten Hedge-Spekulations- und Market-Making-Spiel keine neue Goldader dar, aus der alle ausschließlich und stetig Gewinne erzielen. Doch auch das ist eine Feststellung, die, möglicherweise in anderer Verpackung, auch für die konventionellen Marktaktivitäten zutrifft.

Wie bei den verschiedenen Kassamärkten handelt es sich bei den vielfältigen Formen der Terminmärkte, die sich in den achtziger Jahren nicht zuletzt durch die neuen technischen Hilfsmittel gebildet haben, zunächst einmal um ein gewaltiges Nullsummenspiel. Die Risiken werden eben nicht vernichtet, sondern, hoffentlich, auf tragfähigere Schultern verlagert.

Daraus erwächst der positive gesamtwirtschaftliche Effekt der Unterstützung einer effizienten Allokation von Kapitalressourcen. Die Wertung einzelner Exemplare in der bunten Welt der "Financial Derivatives" schwankt zwischen wertvoll, zweckdienlich und wettähnlich. In Verbindung mit menschlichen Schwächen - auch die gibt es, wie aktuelle Beispiele zeigen - können einige Ausformungen aber eben auch gefährlich werden.

Das überproportionale Volumenwachstum und die wie bei Zellteilungen täglich größere Anzahl der Produkte und Kombinationen lässt hier und da schwer greifbare Ängste entstehen. Dabei ist der Hinweis auf ein schon immer vorhandenes Absicherungsbedürfnis (zum Beispiel Landwirtschaft) im Zeitalter der Großrechner, der Elektroniknetze und weltweiter Sekundeninformation - die ihrerseits wiederum den Handels- und Hedgebedarf erhöhen -, zumindest im Finanzwesen kein ausreichendes Argument.

Allerdings darf man auch nicht alle Termingeschäfte in einen Topf werfen. Es gilt sehr wohl zu unterscheiden, zwischen transparenten (vertretbaren) börslichen und nicht transparenten, individuell gestalteten außerbörslichen Geschäften, zwischen zertifizierten Inhaber- und vertragsgebundenen Namenskontrakten, zwischen sofort einen Zahlungsvorgang auslösenden und am Ende per Differenz auszugleichenden Transaktionen, Profi/Profi- und Profi/Kunden-Geschäften, zwischen kurzen und langen Fristen. Die Aufzählung ließe sich fast beliebig verlängern.

Wenn Derivate per se und für den Einzelfall weder gut noch schlecht sind, kommt es am Ende auf ihren Einsatz - auf den Menschen - an. Der handelnde, disponierende, kontrollierende, rechnende, steuernde und Endverantwortung tragende Mensch im System steht dabei auf dem Prüfstand und mit ihm die entsprechenden Steuer- und Kontrollsysteme der Marktteilnehmer.

Bei den Akteuren sind ganz entscheidend Eigenschaften wie: Risikobereitschaft, Standhaftigkeit, Fachwissen, Kreativität, finanzielle Leistungsfähigkeit auch per Termin, Handlungsmuster in auswegloser Situation. Dass diese "Qualitäten" rund um den Erdball und rund um die Uhr unterschiedlich ausgeprägt sind, liegt auf der Hand. Ob die Bereitschaft zu gesamtverantwortlichem Handeln weltweit im Einklang mit der Explosion der technischen Möglichkeiten gewachsen ist, darf gewiss bezweifelt werden. Hinzu kommt: Der Kreis der Involvierten reicht weit über das Banking hinaus.

Die bildschirm- und computerdominierte Welt der Akteure in den Handelssälen lebt von schnellsten Rechenvorgängen bei komplexen Fragestellungen und einer bisher kaum gekannten Ergebnisgenauigkeit weit hinter dem Komma. Die Visualisierung über bunte Charts vermittelt zusätzlich den Eindruck von Präzision und abschließender Sicherheit, die es an erwartungsbestimmten Märkten jedoch nicht geben kann. Ob dieser Eindruck - das gilt auch für die Kette weltweiter Partner - im Grenzfall nicht nur eine oberflächliche Suggestion ist, bleibt offen. Den vorsichtigen Betrachter der Szene macht es darüber hinaus nicht sicherer, dass die Front-Office-Perfektion bei dem einen oder anderen "Mitspieler" nur schwer mit dem konventionellen Rechnungswesen in Einklang zu bringen ist.

Die den meisten derivativen Produkten von Geburt an eigene Trennung von Preisfixierung und Zahlung eröffnet die Möglichkeit mannigfacher Schachzüge. In rudimentärer Form gab es das zwar schon immer (Devisen-, Renten-, Prämiengeschäft), auch im Nichtbanken-Bereich. Einige größere Unternehmens-(Bank-)Probleme in den letzten 30 Jahren wären ohne Termingeschäfte nicht entstanden. Aber auch und im gleichen Ausmaß bleibt festzuhalten, dass ohne die konventionellen Terminmärkte viele wirtschaftlich sinnvolle Geschäfte unmöglich gewesen wären.

Die von Computern und elektronischer Vernetzung geprägte neue Dimension verlangt aber eine um ein Vielfaches erhöhte Aufmerksamkeit aller Verantwortlichen. Wo auch immer bereits existente Risiken sichtbar und handelbar gemacht werden, ist auf den ersten Blick nur Zustimmung zu verzeichnen.

Dennoch kann das Aufdecken und Atomisieren von Risiken (das sind genauso oft Chancen und im Zeitablauf bei konservativer Bilanzierungspraxis auch Reserven) über bestimmte neue Instrumente auch zur Schwächung des Unternehmens führen. Wo vorhandene Risiken/Reserven zum Beispiel bei der Eigenkapitalnutzung, bei aufsichtsrechtlichen Spielräumen, bei steuerlichen Gestaltungsrahmen, bei bilanzkosmetischer Steuerung oder auch schlicht bei Renten-, Schuldschein-, Aktien- oder Devisenbeständen verselbstständigt werden, entwickeln sich neue Handlungszwänge.

Unter der Überschrift "Optimieren und Verstetigen" wird dann leicht Gewinn oder Verlust vorgezogen oder herausgeschoben, gelegentlich möglicherweise auch mehr Ertrag gezeigt, als es bei konventioneller Betrachtung (Niederst-wert-/Imparitätsprinzip) möglich wäre. Daher wird ein Teil des Disputes auch festgemacht am Unterschied zwischen den Bilanzierungsregeln einzelner Länder.

In der Tendenz wird durch die derzeitige Entwicklung das dem deutschen Bilanzierungsdenken eigene Vorsichtsprinzip vom anglo-amerikanischen Prinzip des aktuellen Wertes (Mark-to-Market) verdrängt. Ob Unternehmen mit einer Universalbank-Tradition davon stärker werden, sei dahingestellt; in Einzelfällen werden sicherlich bei der künftigen Fahrt durch unwegsames Gelände die Stoßdämpfer bislang nicht erkannter/erkennbarer - vor allem aber nicht handelbarer - Reserven fehlen.

In der Welt des derivativen Geschäfts gibt es ohne Zweifel sehr gute, solide Partner mit durchgängig professionellen Konzepten. Es gibt aber auch vermeintlich gute Mitspieler sowie mehr oder weniger perfekte Gelegenheits- und Nischenakteure. Sie treten auf entweder als Absicherer, als Spekulanten oder als Marktmacher, manchmal auch in Mischform. Ihre Stimmung, Unsicherheit, Zweifel oder ihr Selbstbewusstsein sind im Zeitalter des Computers schwer erkennbar, da das Gros der

Geschäfte in einer gewissen Anonymität am Bildschirm oder Telefon abgeschlossen wird. Alle partizipieren in der einen oder anderen Form an einem Global Match, das den derzeit expansivsten Markt der Finanzwelt als Spielfeld hat und alle sind, bei weitgehend offenen Grenzen und liberalisierten Märkten, über mannigfache Beziehungen und Abhängigkeiten miteinander verbunden. Die Notenbanken als Lender of Last Resort, aber auch die Politik als ordnungspolitischer Rahmengeber werden diese neue Dimension im Auge behalten müssen.

Klugheit und klare - am Ende auch politische - Signale der diese Entwicklung verantwortlich begleitenden Aufsichtsbehörden werden unausweichlich sein. Auf weltweite Aufsichtsnormen werden wir realistischerweise noch lange warten müssen, da nat ionale Interessen und global tätige Interessentengruppen offenkundig ganz und gar unterschiedliche Ziele im Visier haben.

Wo die disziplinierende Wirkung der sofortigen Bezahlung eines Kassageschäftes aber entfällt - das war der Kern der Revolution der achtziger Jahre -, müssen adäquate Diszipli-nierungs-Regeln als "Leitplanken auf die Rennbahn". Dafür ist in erster Linie jeder Geschäftsleiter im Obligo, das gilt für Banker wie für Nichtbanker - auch in über 100 Jahre alten Unternehmen. Vor Auffahrunfällen, Massenkarambolagen und Schlimmerem schützen aber auch Leitplanken bei menschlichem Versagen nicht. Hier liegt das Hauptrisiko bei Geschäften mit Derivaten. Manfred Zaß

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