Leitartikel

Dokumente der verlorenen Scham

KO - Es sei da, so bemerkte die Beste aller Ehefrauen (frei nach Kishon), eine Euro-card-Abbuchung auf dem Girokonto. Und, so fuhr dieselbe mit leicht erhobener Telefonstimme fort, es handele sich dabei um eine Rechnung eines Etablissements "Osiris" in X-Stadt. Ob man dort vielleicht mit einem wichtigen Informanten gespeist (!) habe obwohl im Kalender ja ein Termin bei der Landesbank in München stünde. Man sei, so lautete die selbstverständliche Antwort, unbedingt in München gewesen, werde sich aber um Aufklärung bemühen. Die Nachfrage bei der GZS, damals noch, stieß auf eine Mitarbeiterin, die der Meinung war, die Belegsuche mache Mühe. Man ersuchte um diese Mühe. Der Beleg kam an die Beste aller (siehe oben), die mit neuerlich gesteigerter Stimme die Korrektheit der Unterschrift bestätigte. Man erbat daraufhin die Dokumentation des Gesamtvorgangs, was bei der GZS als sehr mühsam bezeichnet wurde. Der Hinweis auf den Vorstandsvorsitzenden machte es dennoch möglich. Die Beste aller (siehe oben) erkannte an, dass die Summe der Abbuchung einem gewöhnlichen Gasthaus an der Isar zugute gekommen war, nicht "Osiris". Eine Fehleingabe. Na ja - man kenne sich ja schließlich auch gut ...

Was für eine schlichte, weil authentische Geschichte. Alles wie im wirklichen Leben, wie ein erfahrener Aufsichtsrat zu sagen pflegt. Das derzeitige Erstaunen von manchen Kre-ditkarten-Inhabern, schuldigen wie unschuldigen, über lückenlose Kontorecherchen ist deshalb überaus erstaunlich. Denn eigentlich muss jeder anständige Mensch seit ewigen Zeiten schon wissen, dass es gelegentlich unbedingt der Barzahlung bedarf, um auch fürderhin als anständig zu gelten. Der Fortschritt der Kommunikationswege beruht schließlich auf nichts anderem als dem Fortschritt des Datenaustauschs. Und dass man Daten nicht nur in "Vorwärts"-Richtung bewegen kann, sondern die Wege auch rückwärts begehbar sind, sollte gewiss nicht allein für Finanzämter zum Alltagswissen gehören: Jede Überweisung und jede Wertpapiertransaktion, jede Mail, jeder Chat und jeder Telefonanruf sind bei Bedarf nicht nur für die Entwicklung jeder Kriminalität von Vorteil, sondern gottlob auch für die Verfolgung jedes Unrechts. Ob sich beides ausgleicht, darf leider mitunter bezweifelt werden.

Die Aufdeckung pornografischer Schweinereien mit Hilfe von Kreditkartendaten ist ein sehr lobenswerter Vorgang gewesen. Wenn es dennoch Kreditkartenunternehmungen geben sollte, die eine "Wahrung der Privatsphäre" auch bei strafwürdigem Verhalten als "unbedingt bezeichnen", sind sie im Unrecht - sogar im Rechtssinne, nicht allein moralisch. Aber das Kreditkartenmarketing und dabei insbesondere die Kreditkartenwerbung gaukeln ja immer vor, mit der Plastikverfügung gewinne der moderne Mensch die schier unbegrenzte Freiheit, zumindest über seine materiellen Ressourcen. Das stimmt so nicht. Denn jeder Karteneinsatz knüpft ein neues Glied in die Kette, die die Existenz des Kartenbesitzers umschlingt und seinen Handlungen ausgerechnet jene unbefangene Freiheit nimmt, die Karten-Akquisiteure versprechen. Der Karteneinsatz macht "alles" dokumentierbar.

Die Pornografie-Ermittlungen mit Hilfe der Kreditkartendaten werden zweifellos die Freude am Bargeld für mancherlei Zeitgenossen erhöhen. Es sind dies bestimmt nicht allein die Bösen, sondern dazu gehören auch die Vorsichtigen. Jeder Kartenbetrug und jeder Geldmaschinenfehler lässt sie ohnehin eine Zeitlang lieber zur Kasse als zum Automaten gehen. Aber das ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt im Datennetz: Es gibt der persönlichen Geheimnisse immer weniger, und das Bankgeheimnis überhaupt noch als ein solches zu bezeichnen, ist schlicht Irreführung. Bemerkenswerterweise wird die Welt aber nicht moralischer, wenn nichts mehr geheim bleibt. Eher nur noch schamloser. -

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