Privatkundengeschäft

Segmentierungsansätze müssen flexibel bleiben

Die Notwendigkeit einer Marktsegmentierung im Retailbanking bestreitet schon seit vielen Jahren niemand mehr. Dafür wiegen die erzielbaren Vorteile einer geeigneten Marktsegmentierung auch viel zu schwer. Dazu zählen unter anderem1): Marktidentifizierung; Bessere Befriedigung der Kundenbedürfnisse durch eine zielgruppengerechte Ansprache und schnellere Reaktion auf Anforderungen; Identifikation von potenzialstarken Kunden zum Aufbau langfristiger Beziehungen; Vermeidung von Substitutionseffekten zwischen den Leistungen im eigenen Leistungsprogramm; Verbesserung von Prognosemöglichkeiten der segmentspezifischen Marktentwicklung; Erweiterung der Kenntnis von Marktreaktionsfunktionen; Steigerung der Effektivität sowie Effizienz des Marketing-Mix; Aufdeckung und Bearbeitung lukrativer Marktnischen.

Um die Vorteile der Marktsegmentierung auch tatsächlich realisieren zu können, müssen Marktsegmentierungsansätze einer Reihe von Qualitätsanforderungen genügen.2) Erstens sollten sie verhaltensrelevant sein, das heißt zwischen den Segmenten sollten hinsichtlich der relevanten Verhaltensgrößen (zum Beispiel Nachfragehäufigkeit, gewählte Leistungen) klare Unterschiede feststellbar sein. Zweitens sollte die wirtschaftliche Messbarkeit (Operationalität) der Segmentierungskriterien auf Ebene des einzelnen Kunden gegeben sein.

Drittens sollten die Segmentierungskriterien eine Erreichbarkeit der Kunden in den einzelnen Segmenten ermöglichen. Dies gilt in gleichem Maße für Bestandskunden als auch für potenzielle Neukunden (einschließlich einer Handlungsfähigkeit im Sinne der Auswahl geeigneter Medien zur Kommunikation). Viertens ist eine optimale Segmentierungsgranularität anzustreben. Banken bewegen sich hierbei im Spannungsfeld zwischen der sehr kleinteiligen Identifikation einer großen Segmentanzahl (hohe Kosten bei der Marktbearbeitung) und der Beschränkung auf sehr wenige globale Segmente (niedrige Kosten bei der Marktbearbeitung). Fünftens sollte die Segmentierung ein Mindestmaß zeitlicher Stabilität aufweisen, damit für die identifizierten Segmente auch die passenden Marktbearbeitungsmaßnahmen durchgeführt werden können, während die Segmentabgrenzungen noch Gültigkeit besitzen.

Kein idealer Ansatz

Um den genannten Qualitätsanforderungen gerecht werden zu können, sind in der Praxis eine Reihe verschiedener Segmentierungsansätze im Einsatz (teilweise auch in mehrstufiger Kombination): Hier sind grundsätzlich soziostrukturelle, verhaltensbasierte und psychografische Ansätze zu unterscheiden:3)

Soziostrukturelle Ansätze umfassen soziodemografische (zum Beispiel Alter, Geschlecht, Familienstand), sozioökonomische (zum Beispiel Einkommen, Vermögen, sozialer Status) und geografische Kriterien (Makro- versus Mikrogeografie). Lebenszyklusmodelle können hier ebenfalls eingeordnet werden, da sie typischerweise anhand der Merkmale Alter und Familienstand beschrieben werden. Aufgrund der einfachen Anwendbarkeit, guten Datenverfügbarkeit und intuitiven Eingängigkeit stellen sie die Grundlage der meisten im Re-tailbanking-Praxiseinsatz befindlichen Segmentierungsverfahren dar. Nichtsdestotrotz sehen sich die soziostrukturellen Kriterien der zentralen Kritik einer mangelnden Trennschärfe ausgesetzt.

Verhaltensbasierte Ansätze stellen dagegen auf das beobachtbare Kaufverhalten ab. Dazu zählen unter anderem Leistungsauswahl, Nutzungsintensität, Preisverhalten und Vertriebswegeauswahl. Insbesondere die Segmentierung anhand der Leistungsauswahl zur Identifikation der Adressaten von Vertriebsmailings hat dem verhaltensbasierten Ansatz zu einiger praktischer Bedeutung verholfen. Die strategische Nutzbarkeit der verhaltensbasierten Segmentierung ist jedoch eingeschränkt, da konsumentenseitige Reaktionen auf vergangene Marketingmaßnahmen erfasst werden.

Psychografische Ansätze umfassen Persönlichkeitsmerkmale (zum Beispiel soziale Orientierung und Risikoneigung), produkt- und leistungsspezifische Kriterien (beispielsweise Wahrnehmungen, Motive, Einstellungen und Kaufabsichten), sowie Lebensstiltypologien, die zum Beispiel Aktivitäten, Interessen und allgemeine Einstellungen der Segmentmitglieder zu beschreiben versuchen. Dabei nimmt der Einbezug von Einstellungen eine Klammerstellung ein, da sie zum einen von Persönlichkeitsmerkmalen abhängen und sowohl bei der Formulierung von Lebensstiltypologien als auch bei der Segmentierung nach produkt- und leistungsspezifischen Kriterien einbezogen werden.

Insgesamt muss festgestellt werden, dass traditionelle Segmentierungskriterien mit Restriktionen verbunden sind und ein idealer Marktsegmentierungsansatz nicht existiert.4) Eine Möglichkeit zur Steigerung der Güte der Marktsegmentierung kann dabei weniger in der Einführung zusätzlicher Kriterien als vielmehr in der Entwicklung von Segmentierungsansätzen gesehen werden, die das Verhalten und Einstellungen von Konsumenten umfassend abbilden. Seit Mitte der achtziger Jahre gewinnen die Lebensstiltypologien unter den psychografischen Verfahren an Bedeutung.5)

Breite Beachtung haben dabei die Sinus-Milieus von Sinus Sociovision in Heidelberg erfahren. Für das Retailbanking wur de sogar eine marktspezifische Erweiterung wie die ibi-Finanztypologie des Instituts für Bankinformatik an der Univer sität Regensburg entwickelt.6) Die Sinus-Milieus werden seit 1979 regelmäßig erhoben (die aktuelle Fassung stammt aus 2007) und nehmen eine Segmentierung der bundesdeutschen Bevölkerung in einer zweidimensionalen Darstellung aus Werte- und Sozialschichtgruppen (Milieus) vor. Dieser Ansatz verfolgt die Zielsetzung, die Lebenswelt gesellschaftlicher Gruppen unter Einbezug sich wandelnder Einstellungen und Wertorientierungen möglichst angemessen zu erfassen.

Acht Kriterienbündel zur Abgrenzung sozialer Milieus

Zur Lebenswelt werden dabei alle relevanten Erlebnisbereiche zusammengefasst, mit denen Individuen im täglichen Leben zu tun haben und die entscheidend zu Herausbildung und Wandel von Einstellungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen beitragen. Die Benennung und Beschreibung der Milieus wird ebenso wie deren Zusammensetzung regelmäßig an aktuelle Entwicklungen angepasst.

Es werden acht Kriterienbündel zur Abgrenzung sozialer Milieus herangezogen: Lebensziel, Soziale Lage, Arbeit/Leistung, Gesellschaftsbild, Familie/Partnerschaft, Freizeit, Lebensstil (hier als ästhetische Grundbedürfnisse und milieuspezifische Stilwelten verstanden) sowie Wunsch- und Leitbilder.7) Die heraus resultierende Milieueinteilung wird in der sogenannten Kartoffelgrafik (siehe Abbildung 1) zweidimensional dargestellt, wobei eine Achse die soziale Lage kennzeichnet (Obersicht, Mittelschicht, untere Mittelschicht/Unterschicht) und die andere die Grundorientierung darstellt (Traditionelle Werte, Modernisierung, Neuorientierung).

Die Vorzüge der Sinus-Milieus liegen unzweifelhaft in ihrer Eingängigkeit, jeder Anwender erkennt die dort beschriebenen Milieutypen unmittelbar wieder. Daher erscheinen sie intuitiv als sehr geeigneter Ansatz für eine Marktsegmentierung - und das insbesondere im Retailbanking, da die Kurzbeschreibungen der Milieus auch einiges über den Umgang der Milieuangehörigen mit Geld und ihre materielle Situation verraten. Hierzu nachfolgend einige Beispiele (siehe http://www.sinus-sociovision.de):

"Die Traditionsverwurzelten sind sehr zurückhaltende Konsumenten. Ein Leben lang haben sie gespart und nur , Sinnvolles, und Notwendiges angeschafft. Auch heute halten sie ihr Geld zusammen und sind für sich selbst sehr sparsam. Kinder und Enkelkinder unterstützen sie dagegen gerne. [...] Meist kleine bis mittlere Einkommen." (Sinus A23: Traditionsverwurzelte)

"Gerade wegen seiner sehr beschränkten finanziellen Mittel zeigt dieses Milieu einen ausgeprägten Konsum-Materialismus. Viele Milieuangehörige konzentrieren sich ganz auf das Hier und Jetzt, auf spontanen und prestigeträchtigen Konsum, um zu beweisen, dass sie mithalten können. [...] Untere Einkommensklassen." (Sinus B3: Konsum-Materialisten)

Trotz solch offenkundiger Anknüpfungspunkte wird der praktische Nutzen inzwischen differenzierter beurteilt: So wird die Anwendbarkeit von Lebensstil-Segmentierungen in erster Linie in Produkt- und Leistungsbereichen gesehen, die sich durch ein hohes emotionales Involvement des Konsumenten auszeichnen, wie zum Beispiel bei Uhren, Schmuck und Autos.8) Generell handelt es sich bei Entscheidungen zu Retailbanking-Leistungen nicht um Lifestyle-Entscheidungen, die den Verbraucher im hohen Maße bewegen. Der Grund hierfür ist, dass bei vielen dieser Leistungen (von Kreditkarten abgesehen) ein demonstrativer Konsum nicht möglich ist. Tatsächlich ist bei ihnen von einem eher niedrigen Involvement auszugehen.

Anwendbarkeit der Sinus-Milieus hinterfragbar

Weiterhin ergibt sich neben der Aussagekraft auch ein ganz praktisches Problem hinsichtlich der Handhabung im Retailbanking: Im Konsumgüterbereich dient die Marktsegmentierung (mangels persönlicher Beziehung zum Endkunde) primär zur Entwicklung segmentspezifischer kommunikativer Maßnahmen und zur Auswahl geeigneter Medien zur Ausbringung der Kommunikation. Das ist anhand der Si-nus-Milieus und der verfügbaren Mediadaten meist problemlos möglich.

Dagegen bestehen bei Banken jeweils eine große Anzahl von Bestandskundenbeziehungen, die für segmentspezifische Kommunikations- und Vertriebsaktivitäten genutzt werden, um Cross-Selling-Potenziale auszuschöpfen. Diese gehören zu den wesentlichen Wachstumsmöglichkeiten im Retailbanking, da dieser Bereich in Deutschland einen hohen Sättigungsgrad aufweist und die Gewinnung von Neukunden entsprechend extrem schwierig ist.

Nun verfügen Banken zwar meist über umfangreiche Daten ihrer Retail-Bestandskunden, diese umfassen aber in aller Regel bei Weitem nicht alle Informationen, um sie einigermaßen zuverlässig einem Sinus-Milieu zuzuordnen. Eine vollumfängliche Befragung aller Retail-Bestandskunden mittels der Sinus-Items ist jedoch nicht praktikabel.

Auch methodisch wird eine Reihe von Problemen erkennbar, die allen Lebensstil-Typologien anhaften und die Anwendbarkeit der Sinus-Milieus zumindest hinterfragenswert erscheinen lassen. Im Hinblick auf die Marktsegmentierung im Retailbanking sind dies folgende Kernthemen: Zunächst müssen die Segmentierungsvariablen dem konkreten Anwendungszweck der Typologie angemessen sein.9) Da die Sinus-Milieus marktunabhängig entwickelt worden sind, können sie die spezifischen Variablen (also diejenigen, die Segmente im Retailbanking-Kontext scharf trennen) nicht beinhalten. Dazu kommt, dass die Zuordnung zu den einzelnen Sinus-Milieus auf Basis der einer Bank vorliegenden Kundendaten nicht möglich ist.

Weiterhin ist nicht klar, wie sich die einzelnen Sinus-Milieus hinsichtlich ihres Nachfrageverhaltens für Bankdienstleistungen unterscheiden und ob sich hieraus segmentspezifische Angebote oder sogar die Notwendigkeit für segmentspezifische Leistungsgestaltung ableitet. Zudem können ex ante zur institutsspezifischen Milieuverteilung der Retailkunden keine Aussagen getroffen werden: Möglicherweise führt das zur Fehlallokation von Ressourcen, da spezifische Kundenansprachen und Leistungsgestaltungen für zahlenmäßig extrem kleine Kundensegmente entwickelt werden.

Darüber hinaus basieren Lebensstil-Typlogien allgemein fast ausnahmslos auf Querschnittsdaten und sind somit statisch.10) Nun besitzen Sinus-Milieus aufgrund mehrfacher Erhebung die prinzipielle Möglichkeit zur Auswertung von Längsschnitten, die aber nicht wahrgenommen wird. Prognosen zur zukünftigen Entwicklung werden somit nicht ermöglicht, was aber gerade im Zusammenhang mit Kundenwertberechnungen im Retailbanking ungemein wichtig wäre.

Schließlich ist es möglich, dass die Beschäftigung mit den Sinus-Milieus Vertriebspotenziale aufzeigt, die aber wirtschaftlich nicht erreichbar sind. So könnten beispielsweise Konsum-Materialisten verstärkt Finanzierungen und Kreditkarten aufgrund ihrer Neigung zum prestigeträchtigen Konsum nachfragen. Gleichwohl dürften mit diesem Segment so erhebliche Adressausfallrisiken verbunden sein und somit unwirtschaftliche Risikokosten entstehen, die auch mit einer risikoadjustierten Bepreisung nicht mehr abgedeckt werden können.

Es wird deutlich, dass sich bei der Anwendung der Sinus-Milieus im Retailbanking eine Reihe von Problemen hinsichtlich Aussagegehalt, Handhabbarkeit, Wirtschaftlichkeit und Methodik erkennen lassen, die die Anwendbarkeit massiv einschränken. Wie kann dann aber eine geeignete Segmentierung im Retailbanking aussehen?

Institutsspezifische Systematik vielversprechend

Zunächst sollte eine angemessene Kundensegmentierung das Problem der Datenverfügbarkeit bei Bestandskunden in besonderem Maße berücksichtigen, da die Nutzung von Cross-Selling-Potenzialen eine wesentliche Wachstumsmöglichkeit von Banken im Retailsegment darstellt. Da die vorliegenden Bestandskundendaten sich aber von Institut zu Institut unterscheiden und neben den Kundenstammdaten auch oftmals Daten zur Leistungs- und Vertriebswegenutzung beinhalten, erscheint die Entwicklung institutsspezifischer Segmentierungsverfahren der viel versprechendste Ansatz.

Durch in vielen Banken im Einsatz befindliche Data-Warehouse-Systeme, sind sehr oft die kundenbezogenen Daten aus den meist heterogenen IT-Systemlandschaften zentral und damit gut auswertbar verfügbar. Somit können mittels Einsatz geeigneter statistischer Verfahren mehrere unterschiedliche Segmentabgrenzungen auf Basis einer Vielzahl von Variablen getestet und auch gleichzeitig auf ihre Trennschärfe hin untersucht werden.

Dieser individualisierte Ansatz ist nicht nur für große Banken möglich. Vielmehr ist das auch ein Weg für kleinere öffentlichrechtliche Sparkassen und für Genossenschaftsbanken, da durch die im jeweiligen Verbund erfolgte Schaffung zentraler IT-Infrastrukturen große Anzahlen uniformer Kundendatensätze existieren und somit Segmentierungen auf breiter Basis durch die IT-Dienstleister der Verbünde entwickelt werden können.

Beispielhaft könnte im Spannungsfeld zwischen Datenverfügbarkeit und Abgrenzungsschärfe der Segmente eine dreistufige Segmentierung zum Einsatz kommen. Hierbei wird für Neukunden zunächst eine soziodemografische/sozioökonomische Segmentierung zum Einsatz kommen (beispielhaft gliedern wir hier nach Alter und Einkommen), da diese Informationen schon mit dem ersten Vertragsabschluss vorliegen (siehe Abbildung 2).

Im Laufe der Zeit werden dann auch Daten zum Nutzungsverhalten verfügbar (transaktionsbezogene Daten). Diese erlauben eine Verfeinerung der Segmentierung. Es können hierfür zum Beispiel die Nutzungshäufigkeit (NH) und die durchschnittliche Transaktionshöhe (DTH) herangezogen werden. Mit Hilfe der NH und DTH können Retailbanken auch eine kontinuierliche Berechnung des Kundenwerts vornehmen. Weitere mögliche Daten zum Nutzungsverhalten umfassen die Anzahl der abgeschlossenen Leistungsangebote, die Nutzung von Aktiv- oder Passivgeschäft sowie die Nutzung von bilanzneutralen Dienstleistungen (zum Beispiel Brokerage).

Erweiterung auf psychografische Variablen bei Bestandskunden

Schließlich wird bei langjährigen Bestandskunden auch eine Erweiterung auf psychografische Variablen, wie zum Beispiel Einstellungen und Mediennutzung möglich. Diese sind beispielsweise im Rahmen von Preisausschreiben erhebbar. Natürlich ist ein großer Prozentsatz der Bestandskunden durch solche Befragungen nicht erreichbar. Diesem Problem kann auf zwei Arten begegnet werden: Entweder belässt man die Nichtteilnehmer in der zweistufigen Segmentierungslogik oder man nutzt die Befragungsergebnisse, um auch Nichtteilnehmer anhand ihrer bekannten Merkmalen bestimmten psychografischen Segmenten mit einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit zuzuordnen.

Wie die jeweilige institutsspezifische Segmentierung auch aussehen mag, den einheitlichen Segmentierungsansatz für alle Retailbanken kann es aus den oben geschilderten Gründen nicht geben. Das ist eine gute Nachricht für die Banken im Markt, haben sie hier doch durch die Entwicklung einer überlegenen Marktsegmentierung die Möglichkeit, bessere Vertriebserfolge als die Konkurrenz zu erzielen und somit ihre Wettbewerbsposition zu stärken.

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