Privatkundengeschäft

"Schnelldreher" bestimmen den Markt

Als vor Jahren der Begriff "Retailbanking" zum Synonym für das Privatkundengeschäft der Kreditwirtschaft wurde, war man - zumindest aus der Sicht des Verfassers - geneigt, diesen Begriff als einen weiteren Beleg für das in allen Lebensbereichen offenbar wachsende Bedürfnis nach modischen Anglizismen zu werten. "Retail" bedeutet wörtlich "Detailverkauf" und bezieht sich auf Produktkategorien mit hoher Kauffrequenz, die weitgehend über die SB-Schiene angeboten werden.

Noch in den neunziger Jahren war der Angebotscharakter im Privatkundengeschäft geprägt durch den wohlklingenden Dreiklang "Service, Beratung und Kompetenz", also in seinem Wesen nicht ver gleichbar mit den Regalverkäufen der Verkaufsmaschinen von Discountern, Supermärkten oder SB-Warenhäusern, bei denen der Normalpreis die Ausnahme und der Supersonderpreis die Regel ist. Aber in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts hat sich auch im Privatkundengeschäft eine Menge getan. Vier markante Entwicklungen sind herauszustellen.

1. Das private Geldvermögen hat sich seit 1970 verzwanzigfacht, aktuell flachen die Zuwachsraten deutlich ab. Skeptiker sind der Meinung, dass wir in absehbarer Zeit von einem sinkenden privaten Geldvermögen ausgehen müssen.

2. Das Kundenpotenzial war nicht zuletzt aufgrund der Wiedervereinigung stark gestiegen. Ab 2006 ist es zumindest für viele Regionen rückläufig. Der Wettbewerb um weniger Kunden wird größer.

3. Die Technik sorgt für immer mehr Standardisierung im Umgang mit dem Kunden und damit auch für eine zunehmende "Entpersonifizierung" des Kontaktes. Die Erledigung der Finanzgeschäfte wird vom Kunden weitgehend im SB-Verfahren vollzogen. Ist aber damit der Begriff "Kunde" heute überhaupt noch angebracht? Sollte man nicht eher von einem Finanzkäufer reden? "Kunde" kommt aus dem Mitteldeutschen und bedeutet "Guter Freund" oder "Bekannter". Den Kunden als guten Bekannten gab es aber bestenfalls in einer Zeit, in der er noch unmittelbar physisch personifizierbar war. In dem Augenblick, in dem seine Vielfalt, seine Differenziertheit über onlinestandardisierte Abwicklung konformiert und begradigt wird, baut sich zwangsläufig eine Distanz zu ihm auf, die sich nicht mehr über die konventionellen Kommunikationswege überbrücken lässt.

Man kann hier bewusst polemisieren und zum Widerspruch reizen, aber SB ist eigentlich eine Diskriminierung des Kunden - es sei denn, er will es ausdrücklich. Die schöne Formel "Der Kunde ist König" wird karikiert. Welcher echte König muss sich eigentlich selbst bedienen? Die so schön klingende Self-Service-Ideologie oktroyiert dem Kunden einen Kostendruck auf, den er gar nicht zu verantworten hat. Die Konsequenz ist klar: Das Persönliche im Kundenkontakt gerät immer mehr in den Hintergrund. Der Kunde hat über das Internet selbst alle Möglichkeiten in der Hand, wie und in welcher Form er mit seinem Geldinstitut kommunizieren will. Das Privatkundengeschäft ist zu einem echten

Käufermarkt geworden. Der Kunde wird sich weiter den Banken und Sparkassen gegenüber emanzipieren. Damit wird auch die Bindungsbereitschaft weiter sinken und das vagabundierende Finanzverhalten zunehmen -, alles Entwicklungen, die wir seit Jahren beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel beobachten können.

4. Katalysator dieser Entwicklung ist auch die wachsende Tendenz zu einem immer ausgeprägteren Discounting im Privatkundengeschäft. Standardisierung und Discounting sind gewissermaßen Zwillinge. Ein kurzes Schlaglicht auf die Kommunikationsbemühungen der Banken möge dies illustrieren. Aktuell stehen vor allen Dingen zwei Produktkategorien im Angebotsfokus des Privatkundengeschäfts: Das (kostenlose) Girokonto und das Tagesgeld. Der Anspruch der Werbebemühungen ist dabei weitgehend austauschbar, während der attraktive Preis als einzige zentrale Botschaft im Vordergrund steht. Mit dem Angebot des kostenlosen Girokontos ist es aber nicht getan. Startguthaben und attraktive Incentives bei der Eröffnung eines Girokontos kommen noch oben drauf.

Die zwei vor dem Komma langt aktuell beim Tagesgeld auch nicht mehr. Die ersten "Vier-Prozenter" tauchen schon im Markt auf. Der Kunde registriert das mit Freude und startet über das Internet seinen Suchlauf nach den günstigsten Angeboten. Das "rotierende Potenzial" von Kunden, die sich ständig woanders orientieren, wird größer. Wo bleibt dann die persönliche, emotional begründete längerfristige Bindung?

Immer seltener in die Filiale

Von diesen Entwicklungen sind in erster Linie die großen Filialisten, also die Sparkassen und Genossenschaftsbanken tangiert, deren zentrale Anlaufstelle, die Geschäftsstelle, zunehmend an Bedeutung verliert. Ende 2010 nutzten 44 Prozent der Privatkunden im Alter zwischen 18 und 70 Jahren in Deutschland das Onlinebanking. Seriöse Prognosen gehen davon aus, dass sich bis zum Ende dieser Dekade der Wert auf 70 bis 80 Prozent erhöhen wird.

In einer offenbar irreversiblen Zwangsläufigkeit nehmen die Geschäftsstellenbesuche dagegen deutlich ab. Insbesondere die wechselbereiten und Direktbankingaffinen Kundengruppen, die jungen Erwachsenen, sozialen Aufsteiger und vermögenden Privaten, entziehen sich immer mehr der Mühe eine Geschäftsstelle aufzusuchen. Es geht ja auch über das Internet (siehe Abbildung 1).

Sind die hier aufgezeigten Entwicklungen, die bemerkenswerte Parallelen zum klassischen Einzelhandel aufzeigen, möglicherweise überzeichnet? Spekulationen helfen nicht weiter, sie verunsichern nur. Wichtig ist, mit neuen Analysemethoden zu operieren, die den Stand dieser Entwicklungen und vor allen Dingen auch ihre Auswirkungen valide aufzeigen. Hier sollte man sich in der Marktforschung zunehmend von den klassischen Methoden der bevölkerungsrepräsentativen Umfragen, die entweder persönlich oder telefonisch durchgeführt werden, lösen. Wenn das Banking immer mehr online geht, kann man auch immer häufiger Kundenbefragungen online durchführen.

Durchaus hilfreich ist es dabei, sich nicht nur auf die Befragung des üblichen repräsentativen Querschnitts der 16- bis 70-jährigen Bevölkerung einzulassen, sondern sich auf das Kundenpotenzial zu konzentrieren, das heißt im Wesentlichen die Kundengruppe der 20- bis 50-Jährigen.

"Schnelldreher" im Fokus

So wurde auch im vorliegenden Fall verfahren. Die nachfolgenden Ergebnisse stammen aus einer Onlinebefragung von repräsentativ ausgewählten Personen im Alter von 20 bis 50 Jahren, die zu ihrem Informations- und Abschlussverhalten im Neugeschäft ausgewählter Bank- und Versicherungsprodukte gefragt wurden. Die Studie wurde im Februar 2011 mit der F+i Marktforschung, Nürnberg, einer Tochtergesellschaft von Icon Added Value, durchgeführt. Bei der Bewertung dieser Ergebnisse fällt auf, dass das Nachfrageverhalten im Privatkundengeschäft eine "Reproduktion" des Angebotsdrucks der Kreditinstitute ist: "Angebot schafft Nachfrage".

So sind die "Schnelldreher" (ein Begriff aus dem Handel), also die Finanzprodukte, die aktuell im Nachfragefokus stehen und die in relativ kurzfristigen Frequenzen gekauft werden, eindeutig die, die in der Preiswerbung der Kreditinstitute stark präsent sind: Das Girokonto und das Tagesgeld (Abbildung 2). Immerhin jeder vierte Kunde hat in den letzten Monaten zu diesen Finanzprodukten Informationen eingeholt. Beim Girokonto ist es in der Gruppe der unter 30-Jährigen bereits jeder Dritte.

Die strategische Dimension beim Kampf um das Girokonto ist dabei offensichtlich. Wer das Girokonto hat, hat den besseren Zugriff auf das Neugeschäftspotenzial des Kunden, und das ist vielen Banken allemal die Investition in das Angebot eines kostenfreien Girokontos wert. Und speziell die jungen Kunden legen zunehmend die Scheu vor den Unannehmlichkeiten eines Institutswechsels ab, zumal immer mehr Banken anbieten, ihnen den "bürokratischen Kram" eines Institutswechsels abzunehmen. Es wird spannend sein zu beobachten, wie lange und mit welchen Maßnahmen die großen Filialisten, die Sparkassen und Kreditgenossenschaften, in der Lage sein werden, diesem zielgerichteten Konkurrenzdruck auf ihre wechselbereiten Kundenpotenziale Stand zu halten.

Mehr Infotainment im Internet

Dass das Internet den Kunden zunehmend die Möglichkeit gibt, sich anonym in den verschiedensten Quellen zu informieren, wird klar, wenn man die Ergebnisse dieser aktuellen Studie differenziert betrachtet. Um sich vor dem Kauf eines Finanzprodukts zu informieren, nutzen die Kunden, die online sind, schon heute im Durchschnitt den Angebotsvergleich mit drei Instituten. Dies betrifft beileibe nicht nur die aktuellen Schnelldreher Girokonto und Tagesgeld, sondern bezieht sich immer mehr auf fast das gesamte Sortimentsspektrum der Kreditinstitute (Abbildung 3).

Lediglich beim Bausparvertrag ist der Anteil derjenigen, die sich vor dem Abschluss nicht im Internet informierten, mit 59 Prozent ausgesprochen hoch. Bei allen anderen abgefragten Produktkategorien ist entweder die ausschließliche Informationssuche über das Internet oder die kombinierte Informationssuche mit Hilfe des Internets und anderen Quellen die Regel.

Befragt man die Kunden, welche Quellen im Internet genutzt werden, wird deutlich, dass die Homepage des Anbieters zu einer zentralen Anlaufstelle für die Kunden geworden ist. Das hat aber zur Konsequenz, dass sich die formale und inhaltliche Aufmachung der in der Regel relativ statisch gestalteten Websites der Kreditwirtschaft den veränderten Informationsbedürfnissen eines agilen Kundentypus anpassen muss.

Mit mehr Infotainment, mehr animierenden Funktionen, mehr attraktiven Verkaufsimpulsen und mehr Tipps und Hinweisen über Veranstaltungen, Fördermaßnahmen und Unterstützungsaktionen kann die Verweildauer auf der Website erhöht werden. Je länger die Verweildauer ist, umso größer die Chance, dass sich der Kunde nicht auf eine ausgiebige "Website-Wander schaft" begibt. Welche Rolle ein optimiertes Suchmaschinen-Marketing spielen muss, wird aus den erhobenen Daten ebenso deutlich.

Onlineabschlüsse nehmen zu

Erstaunlich ist auch, dass sich bereits jeder dritte Kunde unter 30 Jahren in sozialen Netzwerken informiert beziehungsweise sich über die Leistungen und Angebote von Banken und Sparkassen im Netz austauscht. Erkennbar wird bei der Bewertung dieser Daten, dass sich der Kunde zunehmend bei neutralen und scheinbar objektiven Informationenquellen orientiert, bevor er sich entscheidet.

Im Herbst des vergangenen Jahres bescherte der Branche eine Studie der Deutschen Bank, die gemeinsam mit Google und der GfK geführt wurde, eine neue Begrifflichkeit: den sogenannten ROPO-Effekt. Dieser ist dann gegeben, wenn ein Kunde den Research, das heißt die Informationssuche online und den Purchase, also den Kauf offline tätigt.

Nach der damaligen Studie fällt fast die Hälfte des Neugeschäfts bei Bankprodukten auf diese Verhaltenskategorie, während nur noch 38 Prozent der Kunden sowohl die Informationssuche als auch den Abschluss ohne das Internet durchführen.1)

Der Anteil der Kunden, die sich in ihrem Informations- und Nachfrageverhalten bei Bankprodukten ausschließlich im Internet bedienten, erreichte schon damals einen bemerkenswerten Anteil von elf Prozent. Wenn man nun die Ergebnisse der Studie vom Februar dieses Jahres betrachtet, verstärkt sich der Eindruck, dass dieser Anteil in dem halben Jahr, das zwischen diesen beiden Studien liegt, noch gewachsen ist. Einfache standardisierte Produkte mit geringem Erklärungsbedarf werden offenbar zunehmend online abgeschlossen. Das betrifft insbesondere die Kategorien einfache Sparprodukte, Tagesgeld und das Girokonto (Abbildung 4). Von dieser Entwicklung ausgenommen sind zumindest zum aktuellen Zeitpunkt die Klassiker, wie der Abschluss eines Bausparvertrages oder einer Baufinanzierung. Speziell bei der Baufinanzierung deutet sich aber auch hier eine Veränderung in Richtung Zunahme der Onlineabschlüsse ab.

Spagat zwischen stationär und online

Wo liegen die Herausforderungen für die Banken und Sparkassen? Die Antwort ist kurz, lapidar und gleichsam anspruchsvoll: Man muss beim Kunden sein, bevor er sich für ein anderes Institut entschieden hat. Speziell für die großen Filialisten bedeutet dies, dass sie den Spagat zwischen stationär und online beherrschen müssen.

Die Kunst des Spagats ist dabei durchaus eine sportliche Herausforderung. Wenn der Kunde die Geschäftsstelle immer weniger aufsucht, muss man das Internet nutzen, um den Kunden wieder in die Geschäftsstelle zu bringen.

Die richtige Vorgehensweise kann durch neue Instrumente, die zunehmend in der Markenartikelindustrie eingesetzt werden, in Erfahrung gebracht werden. Onlinebasierte Kontaktpunktanalysen sind eine hervorragende Methode, schnell, präzise und kostengünstig zu eruieren, welche Präferenzen, welche Zielgruppen im Hinblick auf die Kontaktfrequenz, die Kontaktform und den Kontaktinhalt in der Kommunikation und Zusammenarbeit mit ihrer Bank und Sparkasse haben.

Marktstudien zeigen deutlich: Der Kunde will beides: Er will sich auf der einen Seite bequem online bedienen (lassen), auf der anderen Seite ist für ihn aber auch die Gewissheit einen festen, ihm persönlich vertrauten Ansprechpartner zu haben, gleichermaßen wichtig.

Onlinekontakt zum Kundenberater

Es ist erstaunlich, in welch geringem Maße diesem Wunsch der Kunden bisher von der Kreditwirtschaft entsprochen wird. Ein personifiziertes E-Mail-Marketing ist in der Vertriebspraxis der Kreditinstitute eher die Ausnahme. Dabei ist die persönliche E-Mail des Kundenberaters durchaus in der Lage, das durch die rückläufige Entwicklung der Geschäftsstellenbesuche entstandene Kontaktdefizit auszugleichen. Aller dings ist dafür die Installation eines professionellen E-Mail-Adressmanagements zwingend notwendig.

Der Kunde hat eine ausgeprägte Präferenz, über den Online-Kontakt mit seinem Kundenberater zu kommunizieren. In der Regel existiert aber eine gepflegte E-Mail-Adresskartei, die insbesondere erweitert werden muss, um die Erfassung der Mobilfunknummer des Kunden, nur in rudimentären Ansätzen.

Dabei praktizieren Handelsunternehmen, insbesondere die Internetanbieter wie Amazon und Ebay, aber auch große Markenartikler wie zum Beispiel Procter & Gamble (BeingGirl), Coca Cola (Coke fridge) oder auch Bosch (1-2-do), wie über Online-Brand-Communities der Aufbau von Datenbanken und damit auch P2P-Netzwerken (Peer-to-Peer) vorangetrieben wird.

Der Umverteilungsprozess beschleunigt sich

Zieht man ein knappes Fazit, gilt natürlich die Einschränkung, dass die Verwendung des FMCG-Labels (Fast-Moving-Consu-mer-Good) für das Retailbanking bewusst zur provozierenden Überzeichnung dient und natürlich nicht angebracht ist, die Zukunft des Retailbanking richtig zu charakterisieren.

Trotzdem zeigt die aktuelle Entwicklung auf, wie sich der Umverteilungsprozess im Privatkundengeschäft beschleunigt. Die Virulenz im Markt nimmt zu. Ausgehend von den "Stoßtrupp-Produkten" wie dem Tagesgeld und dem Girokonto versuchen die Direktbanken, Autobanken, aber auch Spezialinstitute im Aktivgeschäft in die Kundenpotenziale der Konkurrenz einzudringen, um sie dann über Cross- und Up-Selling stärker an sich zu binden.

Ein simples, bewährtes Prinzip -, das aber funktioniert. So klaffen auch bei vielen großen Filialisten Bestandsmarkt- und Neugeschäftsanteil deutlich auseinander. Diese Aussage gilt im Wesentlichen für die neuralgischen Zielgruppen wie junge Erwachsene und soziale Aufsteiger. Hier ist der Umverteilungsprozess im Markt besonders ausgeprägt. Allerdings bezieht sich das zunächst auf die Stückzahlbetrachtung.

Noch schlägt sich dies nicht so stark in der Bilanz oder den Provisionseinnahmen nieder, weil die wertmäßige Substanz der Zielgruppe der 20- bis 40-Jährigen noch nicht das Maß erreicht hat, wie die der über 50-Jährigen. Doch die eine Gruppe wächst in ein immer attraktiveres Potenzial hinein, während sich die andere Gruppe sukzessive aus ihm verabschiedet.

Schwere Zeiten für diejenigen, die auf diese Herausforderung keine schnelle, probate Antwort haben.

Anmerkung

Quelle: DB Research 2010.

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