Marketing

Marketing im Kontext von Abrufrisiken: Placebo oder Antidot?

In den achtziger Jahren fand das Konzept der marketinggeführten Organisation (Marketing led organisation) auch in der bankbetrieblichen Literatur schnell Verbreitung. In der Bankpraxis führt die Marketingabteilung heute nicht selten ein Schattendasein. Besonders im Kontext der Reduzierung von Abrufrisiken wird Marketing allenfalls als Placebo angesehen. Doch trifft diese Einschätzung zu oder kann das Marketing die Anfälligkeit von Banken gegenüber Abrufrisiken reduzieren?

Die Antwort der betriebswirtschaftlichen Literatur auf diese Frage steht im Wesentlichen noch aus. Dort, wo sie die Bedeutung des Marketings hervorhebt, geschieht dies in der Regel im Kontext gesättigter Märkte in normalen Marktphasen. Krisen wie die Finanzkrise und damit einhergehende Abrufrisiken, bis hin zum Bank Run, werden kaum erörtert. Beispielsweise stellt die Dienstleistungsmarketing-Literatur fast ausnahmslos auf Krisen in der Beziehung zwischen Bank und Kunde ab (etwa aufgrund von Unzufriedenheit mit einer Leistung), nicht aber auf existenzielle Krisen wie einen Bank Run. In der Krisenmanagement-Literatur finden sich zwar Aussagen zu Liquiditätskrisen und einzelnen Marketingmaßnahmen (insbesondere zur Kommunikationspolitik), allerdings fokussieren diese nahezu nie auf Banken und speziell auf Abrufrisiken. Die bankbetriebliche Risikomanagement-Literatur greift Abrufrisiken zwar umfangreich auf, geht dabei aber kaum auf das Marketing ein.

Auch in Krisen treffen Banken Marketingentscheidungen

Um sich der obigen Frage dennoch anzunähern, scheint es in mehrfacher Hinsicht notwendig zu differenzieren. Zunächst ist zwischen Marketing als Abteilung und Marketing als Funktion zu unterscheiden. Selbst dort, wo sich die Marketingabteilung hinsichtlich des Status gemessen an der eingangs postulierten Führungsrolle selbst in der Krise befindet, werden auch in einer für die Bank existenziellen Krise Marketingentscheidungen getroffen.

Vergleichbar Watzlawicks Aussage, dass es nicht möglich wäre, nicht zu kommunizieren, treffen Banken, bewusst oder unbewusst, auch in Krisen Entscheidungen zur Produkt-, Preis-, Vertriebsund Kommunikationspolitik. Im Zweifel entscheiden die Verantwortlichen, nichts zu ändern.

In der Praxis treffen nahezu alle Banken auch in der Krise aktiv Marketingentscheidungen, jedoch nicht zwingend unter Einbeziehung der Marketingabteilung, sondern zum Beispiel im Treasury, Asset Liability Committee oder anderen mit Executives besetzten (Notfall-)Committees.

Weiterhin ist nach dem Banksegment zu differenzieren. Marketingbefunde legen nahe, dass bereits in normalen Phasen die Antezedenzien der Kundenbindung in B2C- und B2B-Märkten unterschiedlich ausgeprägt sein können und Kauf- und Verkaufsentscheidungen unterschiedlich ablaufen.

Bezogen auf bankbetriebliche Liquiditätskrisen ist aus Sicht von Treasury-Experten weitgehend unstrittig, dass Abrufrisiken meist von Retail-, zu Wealth-, Corporate- und Interbank-Kunden zunehmen.

Marketing in marktweiten Krisen wirksamer als in hausgemachten?

Schließlich ist zwischen der Art der Liquiditätskrise zu unterscheiden. Möglicherweise bleibt das Marketing in einer marktweiten Krise eher wirksam als in einer idiosynkratischen Krise, in der nur die eigene Bank mit Abrufen konfrontiert ist. Beispielsweise warben während der Finanzkrise weniger betroffene Banken teilweise gezielt neue Einlagen ein (deposit raising initiatives), um erlittene Abrufe auszugleichen. Diese Möglichkeit besteht im Fall einer schweren namensspezifischen Krise kaum.

Die wesentlichste Differenzierung ist aber wahrscheinlich die Phase der Krise. In einer akuten (namensspezifischen) Krise, in der es wie bei der Schmidt Bank oder Northern Rock zum massenhaften Abruf von Einlagen kommt, bleibt die Klinge des Marketing wahrscheinlich eher stumpf. Selbst wenn die Kommunikationspolitik aktiv auf die Sicherheit der Einlagen (etwa durch persönliche Gespräche zu Einlagensicherungsfonds) hinweist, wird dies viele Kunden vermutlich nicht davon abhalten, ihre Einlagen abzuziehen.

Vor der Krise Vorkehrungen treffen

Wirksamer können Marketingmaßnahmen - innerhalb gewisser Grenzen - wahrscheinlich vor dieser akuten Krisenphase sein. Beispielhaft sei auf Wechselbarrieren verwiesen, etwa lange Vertragslaufzeiten oder Kündigungsfristen für den Abruf von Einlagen (zum Beispiel 90 Tage). In der Preispolitik versuchen Banken wie die Netbank seit langem, über attraktive (Treue-)Zinsen in normalen Phasen bestehende Einlagen zu schützen. Im Jahr 2012 verbesserte Santander UK kurzzeitig die Zinsen auf Einlagen, da sie aufgrund von Spekulationen zur Instabilität des spanischen Bankensystems (Verstaatlichung Bankia Group, Verschlechterung des eigenen und Sovereign Ratings) vermehrte Abrufe fürchtete.

Auch in der Vertriebspolitik besteht Gestaltungsraum, etwa in der Wahl des Vertriebskanals. So ist bekannt, dass netzaffine Kunden höhere Abrufrisiken als andere Retail-Kunden aufweisen. Santander UK versucht aktuell mit Hilfe von Preisdifferenzierungen lang- statt kurzfristig orientierte Sparer anzuziehen.

Selbst in der Kommunikationspolitik - in der akuten Phase der Krise wahrscheinlich die wichtigste Komponente des Marketingmix - können bereits vor der Krise Vorkehrungen getroffen werden, etwa durch die Festlegung von Kommunikationsregeln mit Kunden, regelmäßige Tests zur Aufrechterhaltung aller Kommunikationskanäle oder die Konzentration der Werbemittel auf abrufarme Produkte.

Ebenso denkbar ist es, bei der Wahl des Imageprofils bereits in normalen Phasen Attribute wie Sicherheit und Beständigkeit erkennbar zu kommunizieren. So ist aus Studien im Retailbanking bekannt, dass sich die Bedeutung von Imageattributen für die Kundenbindung in der Finanzkrise veränderte. Insbesondere wurde Sicherheit stärker gewichtet. Genau hier wiesen Sparkassen und Volksbanken bereits vor der Krise Stärken auf. Während der Finanzkrise verschlechterten sich die Imageprofile von Banken zwar generell, Sparkassen und Volksbanken waren hiervon - wahrscheinlich aber auch aus weiteren Gründen (zum Beispiel geringe Kapitalmarktnähe des Geschäftsmodells) - deutlich weniger betroffen.

Wird insbesondere diese präventive, tendenziell längerfristige Perspektive anerkannt, so ist das Marketing zwar allein kein ausreichendes Antidot, aber mehr als ein Placebo. Es kann eine Unterstützungsrolle spielen, um die Anfälligkeit einer Bank gegenüber Abrufrisiken zu reduzieren. Entscheidungsträger im Vorstand, Risikomanagement und Treasury sollten die Marketingabteilung daher stärker in die Erarbeitung von Geschäftsmodellen einbeziehen - nicht zuletzt, um über bestehende Vorkehrungen (wie Liquiditätspuffer oder Notfallpläne) hinaus die Bank bereits in normalen Phasen weniger krisenanfällig zu machen. Aufgrund der eingangs angesprochenen Defizite scheint es auch in der Literatur lohnenswert, an bankspezifischen Krisenmarketingkonzepten zu arbeiten.

Am Ende des Tages ist das Bankgeschäft nach den Worten des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden einer systemrelevanten Bank im Wesenskern einfach: Es gehe erstens darum, den Kunden zu binden, zweitens dies profitabel zu tun und drittens dabei die Existenz der Bank nicht zu riskieren, letzteres insbesondere durch die Sicherstellung angemessener Solvenz und Liquidität. Die Bedeutung der Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitik ist in diesem Zusammenhang unmittelbar einsichtig. Es scheint an der Zeit, die Rolle des Marketings in Banken erneut und auch im Kontext von Existenzkrisen zu durchdenken.

Für Rückfragen (zum Beispiel Hinweise zu berücksichtigten Quellen) stehen die Autoren unter meichhorn[at]hs-harz[dot]de gern zur Verfügung.

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