Redaktionsgespräch mit Hendrik Janssen

"Ich persönlich sehe großes Potenzial für die Digitalisierung fast aller Assetklassen"

Hendrik Janssen, Foto: BÖAG Börsen AG

Nicht nur in der Bankenlandschaft, auch bei den Börsen ist Deutschland ein dezentral organisiertes Land. Mehrere Börsenplätze existieren hier nebeneinander und arbeiten mit eigenen Geschäftsmodellen, um sich voneinander abzugrenzen. Die Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen widmet den Regionalbörsen eine Interviewserie, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Chancen und Herausforderungen für die unterschiedlichen Marktplätze zu ergründen. Unter dem Dach der Börsen AG finden sich drei verschiedene Standorte: die Börsen Hamburg, Hannover sowie nach einem Zukauf im Jahr 2017 die Börse Düsseldorf. Hendrik Janssen erklärt im Gespräch die Vorteile und Spezialitäten der einzelnen Häuser und welche Synergien sich durch die Zusammenarbeit im Verbund ergeben. Außerdem geht er auf die Zukunftsthemen Kryptowährungen, digitale Assets sowie Nachhaltigkeit ein, wobei die Börse Hannover bereits seit 2007 bei letztgenanntem Thema mit einem der frühesten nachhaltigen Aktienindizes Pionierarbeit leistet. (Red.)

Auch die BÖAG Börsen AG (BÖAG) hat an ihren Handelsplätzen in Hamburg, Hannover und Düsseldorf wie nahezu alle Handelsplätze durch die Corona-Pandemie neuen Schwung bekommen. Im vergangenen Jahr stieg das kumulierte Handelsvolumen um 56 Prozent auf 50 Milliarden Euro. Welche Segmente liefen besonders gut?

Insgesamt konnten alle Handelsplätze ein deutliches Wachstum verzeichnen, besonders stark zeigte sich dies jedoch bei unseren elektronischen Handelssystemen Quotrix der Börse Düsseldorf und LS Exchange der Börse Hamburg. Dies ist vor allem dem neuen Brokerage-Boom zuzurechnen, der die Corona-Pandemie begleitet. Insbesondere der Aktienhandel profitierte von deutlich höheren Handelsumsätzen und Geschäftsabschlüssen.

Hält der Schwung auch in diesem Jahr an oder ist die Volatilitätsspitze schon wieder komplett abgeflacht?

Auch im Jahr 2021 hat sich diese positive Entwicklung fast nahtlos fortgesetzt, wobei sich die Wachstumsraten nachvollziehbar etwas abschwächen. Nach einem fulminanten Jahr 2020 geht die Entwicklung bei Handelsumsätzen und Anzahl der Trades zurzeit noch weiter aufwärts, wobei wir erst fünf von zwölf Monaten hinter uns haben. Das Jahr kann durchaus noch Überraschungen bringen, zum Beispiel in Form einer Kurskorrektur. Die Volatilität hat sich 2021 im Vergleich zum Vorjahr deutlich abgeschwächt, lediglich Ende Januar und Ende Februar war sie kurzzeitig erhöht.

Die BÖAG hat vor fast vier Jahren noch die Börse Düsseldorf an Bord geholt. Wie hat sich die Integration einer dritten Börse auf das Geschäft der Börsen AG ausgewirkt? Wurden alle Erwartungen erfüllt?

Durch den Zusammenschluss unter dem gemeinsamen Dach der BÖAG Börsen AG profitieren die drei Handelsplätze von Synergien, gebündelten Ressourcen und Spezialisierungsvorteilen, die den Weg für weitere Innovationen ebnen.

Das Produktangebot der drei Börsenplätze hat sich erweitert und ergänzt sich gut. Hamburg steht zum Beispiel für das Thema Fonds und die LS Exchange, Hannover für Nachhaltigkeit und Indizes, Düsseldorf hat beim Listing von Wertpapieren kleinerer und mittlerer Unternehmen und dem Market-Maker-Handelssystem Quotrix seine Stärken. Zudem ist mit der Börse Düsseldorf auch ein erfahrenes Mitarbeiterteam zur BÖAG gestoßen, was sich unter anderem bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Produkte und Strategien positiv auswirkt.

Im vergangenen Jahr kam dann noch die Mehrheit an der Frankfurter ICF Bank hinzu. Welche strategische Idee steckt dahinter?

Wertpapierhandelsbanken gehören zu den wichtigsten Geschäftspartnern einer Börse. Als Skontroführer an unseren Maklerbörsen Düsseldorf, Hamburg und Hannover und als Market Maker für unsere elektronischen Handelssysteme Quotrix und LS Exchange sind sie für uns von entscheidender Bedeutung. Unser Erfolg hängt auch davon ab, wie erfolgreich unsere Skontroführer beziehungsweise Market Maker agieren. Außerdem tragen sie entscheidend dazu bei, das Angebot an Wertpapieren an unseren Handelsplätzen ständig zu erweitern.

Durch Beteiligungen an diesen Geschäftspartnern verlängern wir als Börsenbetreiber unsere eigene Wertschöpfungskette und haben die Möglichkeit, Entscheidungen und Prozesse bereits im Vorfeld mitzugestalten. Ferner hat die BÖAG die Möglichkeit, die Zusammenarbeit zu intensivieren und gemeinsam Innovationen auf den Weg zu bringen. Und wenn wir unser Angebot erweitern und verbessern können, dann werden davon selbstverständlich auch unsere Kunden profitieren. Nach der Übernahme der Börse Düsseldorf 2017 ist die Beteiligung an der ICF Bank ein weiterer Meilenstein der BÖAG, das Leistungsangebot und die Positionierung im Markt zu stärken.

Wird noch eine Komplettübernahme der ICF Bank folgen?

Wir verfügen bereits über eine qualifizierte Mehrheit an der ICF Bank AG, von daher gibt es zurzeit keine Pläne für eine vollständige Übernahme.

Sind weitere M&A-Transaktionen in der nächsten Zeit angedacht? Wenn ja, in welchem Bereich?

Wenn sich interessante Möglichkeiten für eine Übernahme oder Beteiligung ergeben, dann sind wir dafür aufgeschlossen. Aktuell gibt es aber keine Projekte in diesem Bereich.

Könnte sich die BÖAG grundsätzlich auch vorstellen, grenzüberschreitende Deals zu tätigen?

Wir stehen generell auch für grenzüberschreitende Projekte und Partnerschaften zur Verfügung. Diese müssten aber einen klaren, strategischen Mehrwert für uns bringen.

Kommen wir zum Thema Digitalisierung, das ja gerade auch für Börsen schon immer ein Thema ist. Was halten Sie vom Thema Blockchain-basierte Wertpapierabwicklung? Hype oder wird sich die Distributed-Ledger-Technologie an den Kapitalmärkten durchsetzen?

Selbstverständlich beschäftigen wir uns auch mit diesem Thema. Wir sehen hier großes Potenzial, nicht nur für unser Haus, sondern für den gesamten Markt der Finanzdienstleistungen. Allerdings ist dieses Thema alles andere als trivial, nicht nur von der technischen Seite betrachtet, sondern auch im Hinblick auf Sicherheit und Regulatorik.

Glauben Sie, das digitale Assets klassische Wertpapiere komplett verdrängen werden, oder wird es nur eine Ergänzung bleiben?

Das ist eine gute Frage, die sich Stand heute noch nicht beantworten lässt. Ich persönlich sehe großes Potenzial für die Digitalisierung fast aller Assetklassen, nicht nur auf Wertpapiere beschränkt. Ich glaube jedoch nicht, dass die klassische Verbriefung beziehungsweise Hinterlegung komplett verschwinden wird. Das hat auch etwas mit der Mentalität beziehungsweise dem Sicherheitsdenken von Anlegern zu tun. Hier gibt es große Vorbehalte, die sich nicht in wenigen Jahren ausräumen lassen. Und wiederkehrende Cyberattacken, Hackerangriffe, Phishing-Aktivitäten erhöhen nicht unbedingt das Vertrauen in die moderne digitale Welt.

Der Bitcoin ist ja ein großes Hype-Thema und feiert einen Rekord nach dem anderen. Selbst der Doge-Coin, der ursprünglich als Parodie auf Kryptowährungen gedacht war, hat sich vervielfacht und war zumindest zeitweise 50 Milliarden US-Dollar "wert". Der Bitcoin hatte schon kurzzeitig die Billionen-Dollar-Grenze überschritten. Das klingt doch alles schon sehr verdächtig nach gigantischer Blase. Ist das Thema Kryptowährungen dennoch eines, das die BÖAG in Zukunft abdecken möchte?

Selbstverständlich ist der Handel von Kryptowährungen ein Börsenthema. Wir würden uns dabei jedoch voraussichtlich auf die Organisation und Überwachung des Handels konzentrieren, nicht mehr und nicht weniger.

Fürchten Sie Schaden für die sich doch langsam verbessernde Wertpapierkultur in Deutschland, wenn diese Blase platzen sollte?

Jeder Crash, oder sagen wir lieber Marktbereinigung, führt natürlich bei vielen Investoren und Anlegern zu heftigen Schmerzen. In der Regel können einige wenige Anleger Gewinne davontragen aber der überwiegende Teil des Publikums würde vermutlich Verluste erleiden. Erfahrungsgemäß führt das dann bei Anlegern zu mehr Zurückhaltung, allerdings nur für einen gewissen Zeitraum. Bestes Beispiel ist der Niedergang des Neuen Marktes nach der Jahrtausendwende. Davon spricht heute kaum noch jemand.

Kommen wir zum nächsten Mega-Thema. Die Börse Hannover hatte bereits 2007 mit dem Global Challenges Index einen Aktienindex mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit aufgesetzt und damit ein Zukunftsthema früher als andere bespielt. Der Index hat sich seit Auflage mehr als verdreifacht, während der DAX sich im gleichen Zeitraum knapp verdoppelt hat. Konnte diese Outperformance erst in den vergangenen Jahren erzielt werden, als das Thema Nachhaltigkeit auch in den Fokus der großen Öffentlichkeit geriet?

Im Chartverlauf des Index seit Auflage sehen Sie, dass der Kurs fast kontinuierlich gestiegen ist. Sicherlich hat das in allen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft stark zugenommene Bewusstsein für Nachhaltigkeit bis hin zu Bewegungen wie Fridays for Future noch mehr an Dynamik in diesen Markt gebracht. Aber der grundlegende Trend blieb fast durchgehend positiv.

Verzeichnen Sie in den vergangenen ein bis zwei Jahren eine steigende Nachfrage nach dem GCX sowohl von Emittentenseite als auch von der Anlegerseite?

Die Nachfrage steigt kontinuierlich von beiden Seiten. Seit dem 1. März 2021 ist beispielsweise der von Ethius Invest initiierte neue Aktien-Publikumsfonds Ethius Global Impact auf dem Markt. Der Fonds investiert vorzugsweise in die 50 Aktien des GCX, die sich durch ein besonders nachhaltiges Engagement in Verbindung mit einem strengen Auswahlverfahren für den GCX qualifiziert haben. Neben dem Fondsvertrieb in Deutschland wird Ethius Invest maßgeblich auch den schweizerischen Markt betreuen. Damit ist der GCX vertriebs- und produktseitig in der gesamten DACH-Region vertreten.

Unter anderem die Börse Stuttgart hat nun eine große Nachhaltigkeitsstrategie ausgerufen für den Finanzplatz Stuttgart. Das Thema rückt auch sonst wieder trotz aller Corona-Berichterstattung mehr in den Fokus. Sehen Sie in der Transition zur nachhaltigen Gesellschaft eher eine große Herausforderung oder eine große Chance, gerade auch für die Wertpapiermärkte?

Der Klimawandel und unsere Verantwortung für die Umwelt und zukünftige Generationen gibt die Richtung vor. Wir alle müssen unsere Art zu leben hinterfragen und unser Konsumverhalten verändern, wenn wir unsere Zukunft sichern und die Erde als Lebensraum erhalten wollen. Das ist Herausforderung und Chance zugleich, für alle Bereiche - auch die Wertpapiermärkte. Der Erfolg des Global Challenges Index, mit dem wir bereits seit fast 14 Jahren aktiv sind, zeigt, dass Nachhaltigkeit ein sehr lohnenswertes Investment sein kann. Wir bieten mit dem GCX eine Art doppelte Dividende, das heißt Rendite plus gutes Gewissen.

Was muss auf regulatorischer Seite noch geschehen, damit diese Chancen auch genutzt werden können?

Die Regulatorik hat den Markt für nachhaltige Kapitalanlagen bereits voll erreicht, sowohl auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene. Jüngstes Beispiel ist die EU-Offenlegungsverordnung 2019/ 2088, mittels derer eine deutlich umfassendere Verordnung zur Erhöhung der Transparenz im Bereich Nachhaltigkeit in den Finanzmärkten verabschiedet wurde und die von den betroffenen Finanzdienstleistern größtenteils bereits seit dem 10. März des laufenden Jahres anzuwenden ist.

Im Herbst wird es eine neue Bundesregierung geben. Was sind aus Sicht einer Börse die wichtigsten Forderungen und Wünsche an diese?

Wir wünschen uns vor allem Regulierung mit Augenmaß. Das Ziel, den Anleger zu schützen, muss dabei immer im Vordergrund stehen. Angesichts schrumpfender Rentenansprüche wird zudem die private Altersvorsorge immer wichtiger. In der anhaltenden Niedrigzinsphase ist die Kapitalanlage in Aktien hier ein zentraler Baustein, für die mehr Anreize geschaffen werden könnte. Eine Finanztransaktionssteuer wäre aus unserer Sicht eher kontraproduktiv, weil sie den Anleger zusätzlich belasten würde.

Hendrik Janssen Mitglied des Vorstandes, BÖAG Börsen AG, Hannover
 
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