Redaktionsgespräch mit Heinz-Werner Rapp und Sebastian Heilmann

"Die EU ist gefangen zwischen nationalen Egoismen und geopolitischem Druck"

Dr. Heinz-Werner Rapp, Foto: FERI AG

Im Redaktionsgespräch mit dem Vorstand der FERI AG Heinz-Werner Rapp und dem Professor für Wirtschaft und Politik Sebastian Heilmann war vor allem eine mögliche Entkopplung der Weltwirtschaft ein Thema. Doch laut Rapp ist das nicht erst seit dem Einmarsch in der Ukraine ein Thema. Er vermutet zudem, dass sich Russland künftig stärker in Richtung China orientieren werde. Beide rechnen daher auch damit, dass sich künftig wieder eine verstärkte Blockbildung in "Ost" und "West" zeigen werde. Heilmann glaubt, dass die Globalisierung der vergangenen 30 Jahre ihren Höhepunkt überschritten hat. Dennoch geht Rapp nicht von einer vollständigen Entkopplung aus, vielmehr werden sich neue Beziehungen und Transaktionsnetze in kleinerem Rahmen herausbilden. Er hadert zudem mit der bisherigen deutschen Strategie, Sicherheit an die USA auszulagern, Energie aus Russland zu importieren und Wachstum in China zu generieren. Als Folge aus diesen Entwicklungen sieht er einen Angriff auf unseren Wohlstand in mehreren Ebenen, der über Jahre hinweg zu spürbaren Wohlstandsverlusten führen werde. (Red.)

Herr Dr. Rapp, in einer aktuellen Publikation Ihres Hauses gemeinsam mit Prof. Heilmann heißt es: "Die Zerlegung der Weltwirtschaft hat begonnen". Eine neue Phase forcierter Entkopplung hat begonnen, prophezeien Sie. Was war der tatsächliche Auslöser? Denn der Einmarsch der Russen in der Ukraine ist doch nur ein weiterer Tropfen in einem schon sehr vollen Fass, oder?

Sebastian Heilmann: In der Tat läuft das Thema bereits seit einigen Jahren, speziell im Verhältnis zwischen den USA und China. Der aktuelle Konflikt mit Russland führt jedoch zu einer weiteren Verschärfung. Nun werden unter hohem politischem Druck etablierte und oftmals sehr wichtige Lieferketten abrupt gekappt. Noch wichtiger ist die strategische Dimension: Russland wird sich künftig stärker in Richtung China orientieren. So entsteht eine Achse autoritärer Großmächte, deren erklärtes Ziel eine Schwächung des Westens ist. Hier liegt die eigentliche Bedrohung für die Weltwirtschaft.

Nach mehreren Jahrzehnten intensivierter internationaler Zusammenarbeit distanzieren sich jetzt die großen Wirtschaftsblöcke USA, China und Europa voneinander. Hat die Globalisierung endgültig ihren Charme verloren und ihre wesentlichen Vorteile eingebüßt?

Heinz-Werner Rapp: Die intensive Globalisierung der letzten 30 Jahre hat ihren Höhepunkt definitiv überschritten. Dafür sind aber viele Faktoren verantwortlich, nicht zuletzt das Problem einer ungleichen Verteilung der Globalisierungsgewinne. In Zukunft werden vor allem geopolitische Risiken und sicherheitsorientierte Bedenken eine weitere Entflechtung der Weltwirtschaft erzwingen. Denn eines ist sicher: Der strategische Konflikt zwischen den USA und China um globale Dominanz wird sich weiter fortsetzen.

Sebastian Heilmann: Dennoch wäre es vermutlich falsch, von einer generellen Entkopplung auszugehen. Vielfach werden sich auch unter hohem Druck neue Beziehungen und alternative Transaktionsnetze herausbilden. Im Gegensatz zu früher werden diese jedoch nicht mehr wirklich global sein, sondern konzentriert auf eigenständige Blöcke und "Hemisphären". Beispiele sind etwa neue Energie- und Rohstoffpartnerschaften zwischen Europa und Australien oder eine Verlagerung globaler Computer-Chips-Kapazitäten von Taiwan in die USA.

Ganz unumstritten war die Globalisierung nie, es wurde immer auch kritisiert, dass die Wohlstandsmehrung nicht gleichmäßig verteilt war. Zu Recht?

Heinz-Werner Rapp: Dieser Aspekt ist nicht ganz unberechtigt, er gilt jedoch für einzelne Länder in unterschiedlichem Ausmaß. Ein klar negatives Beispiel sind die USA: Die dortigen scharfen politischen Konflikte, einschließlich des Aufstiegs von Donald Trump, gehen in weiten Teilen auf dieses Problem zurück. Zahlreiche Studien zeigen dort sehr klar, dass Arbeiter und Normalverdiener zu den Globalisierungsverlierern zählen, während Unternehmer und Aktionäre über Jahrzehnte hinweg hohe Globalisierungsgewinne vereinnahmen konnten. Dennoch ist festzuhalten: An derartigen Fehlentwicklungen ist nicht die Globalisierung an sich schuld; das eigentliche Problem ist eine ignorante Politik, die dem Aspekt symmetrischer Wohlstandsverteilung keine Beachtung geschenkt hat.

Welche Folgen hätte eine Zunahme von geopolitischen Konfrontationen für die Unternehmen und die Finanz- und Kapitalmärkte und am Ende dann auch für die Menschen - in den Entwicklungs- und Schwellenländern, aber auch in den Industrienationen?

Sebastian Heilmann: Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Letztlich wird es aber kaum Gewinner geben, abgesehen von einzelnen Ausnahmefällen. Diese sogenannten "fence sitters" verfügen über strategische Positionen zwischen den jeweiligen Machtblöcken und können diese Vorteile ausspielen. Dazu zählen aus heutiger Sicht Länder wie Indien, die Türkei, Brasilien oder Mexiko. In den Industrieländern ist mit Wohlstandsverlusten zu rechnen, da globale Konfrontation immer Geld kostet und wirtschaftliche Effizienzen reduziert. Für global agierende Unternehmen wird die Zukunft definitiv schwieriger, da sehr bewusst zwischen unterschiedlichen Machtblöcken navigiert werden muss. Auch die Kapitalmärkte werden diese neuen Risiken mit Sicherheit zur Kenntnis nehmen und entsprechend einpreisen.

Hätte eine Verlangsamung des Warenaustauschs denn auch Vorteile?

Heinz-Werner Rapp: Das aktuelle Szenario bedingt eine gewisse Rückverlagerung globaler Wertschöpfungsketten, das viel zitierte "onshoring" oder "reshoring". Für Arbeitnehmer in Ländern wie Vietnam oder China, die lange Zeit das Ziel von "offshoring" waren, bringt das potenzielle Einkommensverluste. Umgekehrt könnten Arbeitnehmer in klassischen Industrieländern, also etwa USA oder Deutschland, von einer Rückverlagerung globaler Produktionskapazitäten profitieren. Diese Entwicklung ist bereits angelaufen, nicht zuletzt auch getrieben durch die Corona-Pandemie. Positive ökonomische Effekte dürften insgesamt jedoch eher gering sein.

Welche weiteren Faktoren könnten zu einer Entkopplung der Wirtschaftsbeziehungen führen?

Sebastian Heilmann: Jede weitere Verschlechterung im Verhältnis zwischen den USA und China würde automatisch auch zu einer fortschreitenden globalen Entkopplung führen. Sollte China etwa, wie vielfach angedeutet, mit militärischen Mitteln eine "Wiedervereinigung" mit Taiwan betreiben, wäre das ein sehr kritischer Punkt. Die USA würden dann versuchen, China ebenso scharf zu sanktionieren wie aktuell Russland. Die möglichen Konsequenzen wären kaum absehbar, könnten jedoch das bisherige Bild einer globalen Wirtschaft massiv verändern.

Wie wichtig ist Vertrauen für die Idee der weltweilen Kooperation und Arbeitsteilung?

Heinz-Werner Rapp: Vertrauen ist für jede Form von Handel unabdingbar. Aber nicht nur Vertrauen in die Integrität der jeweiligen Gegenpartei, sondern auch in die Gültigkeit anerkannter Spielregeln. Seit Langem haben die USA als globaler Hegemon das System einer regelbasierten Weltordnung etabliert und verteidigt. Speziell die vergangenen 30 Jahre waren eine Art "Pax Americana", was die rapide Globalisierung erst möglich machte. Dieses Grundvertrauen in ein globales Regelwerk ist nun enorm erschüttert, allerdings nicht erst durch Russland und China, sondern schon zuvor durch die USA unter Donald Trump.

Wie würden Sie die Interessen Chinas im Rahmen dieser Neuordnung beschreiben?

Sebastian Heilmann: China verfolgt klare Ziele. Diese liegen zum einen in der Wiederherstellung früherer Größe und globaler Bedeutung, zum anderen in der Etablierung einer starken regionalen Einflusssphäre. Dies gilt ganz besonders für das Ziel einer maritimen Vorherrschaft im Südchinesischen Meer. Sowohl die Seidenstraße-Initiative als auch die offenen Drohungen in Richtung Japan und Taiwan unterstreichen diese Ambition. Ein weiteres Ziel Chinas liegt in umfassender Autarkie, um sowohl wirtschaftlich als auch politisch unabhängig handeln zu können. China sieht sich als globale Großmacht, die sich nicht von anderen Mächten einschränken lassen darf. China agiert zuletzt zunehmend aggressiv, da es sich in einem scharfen - und zeitlich brisanten - Wettlauf mit den USA sieht. Das erzeugt aus Sicht Chinas akuten Handlungsdruck, was die gesamte Konstellation sehr gefährlich macht.

Werden wir geoökonomisch bald wieder von den beiden Blöcken "Westen" und "Osten" sprechen?

Heinz-Werner Rapp: Dieses Bild zeichnet sich bereits zunehmend ab. Russland gibt mit seinem Zivilisationsbruch in der Ukraine den Anlass, wieder eine neue Art von Eisernem Vorhang durch Eurasien zu ziehen. Gleichzeitig bewegen sich Russland und China aufeinander zu. Daraus entsteht ein neuer "Ostblock", der jedoch im Vergleich zur Ära des Kalten Krieges wesentlich größer und mächtiger sein wird. Zugleich findet eine Renaissance des "Westens" statt, der sich jedoch neu finden und ideologisch definieren muss. Die anhaltenden Streitigkeiten speziell in der EU, Stichwort Ungarn, geben hier Anlass zur Sorge. Und nicht zu vergessen: Eine mögliche Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident würde den aktuell noch sehr starken Zusammenhalt des Westens wohl abrupt beenden. Dennoch: Die Tatsache, dass die bislang neutralen Länder Schweden und Finnland nun in die NATO drängen, unterstreicht den Trend einer neuen Blockbildung zwischen Ost und West.

Welche Rolle spielen Länder wie Indien, Vietnam, Brasilien oder Saudi-Arabien in diesen Konflikten, welche Interessen verfolgen sie ihrer Meinung nach?

Sebastian Heilmann: Die genannten Länder sind in der Position von "fence sitters", die sich aus den aktuellen Großmachtkonflikten weitgehend heraushalten. Sie agieren flexibel, opportunistisch und geleitet von eigenen Zielen und Interessen. In der Regel verfügen diese Länder über strategisch wichtige Ressourcen und/oder eine vorteilhafte geostrategische Lage. Viele dieser Länder können von einer zunehmenden globalen Blockbildung profitieren, da sie "zwischen den Linien" agieren und dabei auch Großmächte gegeneinander ausspielen.

Heinz-Werner Rapp: Ein gutes Beispiel ist aktuell Indien, das trotz Drängen der USA die Sanktionen gegen Russland nicht mitträgt; zugleich tritt Indien massiv als Käufer russischer Waffen und Öllieferungen auf. Auch die Türkei ist in einer ähnlichen Rolle, die durch die geostrategisch wichtige Lage am Schwarzen Meer noch deutlich gestärkt wird. Länder wie Brasilien werden künftig ihre Rohstoffe, darunter Metalle, Öl und Nahrungsmittel, relativ unideologisch und frei von Blockinteressen dahin verkaufen, wo die besten Preise gezahlt werden. Insofern haben viele "fence sitters" das Potential, trotz zunehmender globaler Konflikte zu prosperieren.

Welche Folgen wird all das für Russland haben? Selbst nach einer Beendigung des Ukraine-Kriegs gilt eine Rückkehr zu einer normalen Beziehung als ausgeschlossen.

Heinz-Werner Rapp: Diese Frage lässt sich heute kaum vollständig beantworten. Vieles hängt von der politischen Führungsstruktur in Russland ab, die durchaus fragil sein könnte. Dennoch hat das "System Putin" die politischen Strukturen in Russland so stark deformiert, dass eine rasche Rückwandlung in ein friedliches und vertrauenswürdiges Land kaum vorstellbar scheint.

Aus heutiger Sicht scheint eine weitgehende und anhaltende Isolation Russlands gegenüber dem Westen vorgezeichnet. Folglich wird Russland sich nach Osten ausrichten, sich also strategisch weiter an China annähern. Diese Rolle als "Juniorpartner" bietet viele Vorteile für China, jedoch nur sehr begrenzte Perspektiven für Russland - letztlich könnte Russland als "Tankstelle" Chinas enden. Da Putin jedoch primär seinen eigenen Machterhalt verfolgt, dürfte diese Perspektive ihn kaum abschrecken.

Was heißt das alles für Europa? Wie kann unser Kontinent in diesem Machtgeflecht seine Souveränität stärken?

Heinz-Werner Rapp: Trotz wirtschaftlicher Stärke spielt Europa im Konzert der Großmächte nur eine unbedeutende Rolle. Der EU-Austritt Großbritanniens hat die Bedeutung Europas weiter reduziert. Das größte Problem: Europa hat noch immer keine gemeinsame Position in wichtigen Fragen wie Energieversorgung, Sicherheit und Definition gemeinsamer strategischer Interessen. Stattdessen bestand die bisherige Strategie insbesondere Deutschlands darin, Sicherheit an die USA zu delegieren, Energie aus Russland zu beziehen und Wirtschaftswachstum durch Exporte nach China zu generieren. Es ist offensichtlich, dass diese Strategie nicht gut gehen konnte. Die überfällige Neuausrichtung hat nun zwar begonnen, doch das Ende ist nicht wirklich klar.

Sebastian Heilmann: Eine stärkere Anlehnung an die USA, wie schon derzeit erkennbar, dürfte jedoch vor dem Hintergrund der neuen globalen Blockbildung unvermeidlich sein. Ähnlich wie Russland im Verhältnis zu China könnte somit Europa zum Juniorpartner eines revitalisierten und von den USA dominierten westlichen Blocks werden. Dies entspricht zwar nicht dem Bild eines souveränen Europas, folgt jedoch der zwingenden Logik einer globalen Spaltung in zwei (und nicht drei!) große Machtblöcke.

Muss Europa enger zusammenrücken, müssen die Länder mehr Kompetenzen an zentrale Institutionen abgeben? Wie passt das zu zunehmend nationalistischen, protektionistischen Tendenzen?

Heinz-Werner Rapp: Die Frage, wie Europa sich aufstellen sollte, ist so alt wie die EU selbst. Letztlich ist und bleibt die EU gefangen im Dilemma zwischen nationalen Egoismen und wachsendem geopolitischen Druck. In der Tat müsste die EU enger zusammenrücken, um künftigen Herausforderungen geschlossen entgegentreten zu können. Leider zeigt aber gerade das Beispiel Ukraine-Krieg deutlich, dass oftmals in wichtigen Fragen weder Einstimmigkeit noch eine einheitliche politische Haltung existieren (Stichwort Ungarn). Letztlich leidet die EU - wie auch die Europäische Währungsunion und der Euro - unter gravierenden Konstruktionsmängeln, die weder schnell noch einfach korrigiert werden können. Der russische Angriffskrieg ist jedoch ein Realitätsschock für die europäische Politik, der notwendige Veränderungen vielleicht beschleunigen und vereinfachen wird.

Die bislang sehr enge Verflechtung zwischen der EU und Russland, speziell im Bereich Energie und Rohstoffe, wird sich zukünftig massiv zurückentwickeln. Wie kann Europa den daraus entstehenden massiven Herausforderungen Ihrer Meinung nach am besten begegnen?

Sebastian Heilmann: Speziell Deutschland hat bekanntlich ein ernstes Problem, da wir uns stark von russischem Erdgas als Brückenenergie abhängig gemacht haben. Europa muss nun unter hohem Zeitdruck eine ganze Palette an Maßnahmen ergreifen, die teilweise bereits eingeleitet werden. Die wesentlichen Weichenstellungen laufen in Richtung verstärkter Flüssiggas-Importe, schnellerem Ausbau von Windenergie sowie gezieltem Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur. Kurzfristig ist hier aber keine Lösung vorstellbar, die nicht ebenfalls neue Knappheiten oder andere Probleme mit sich bringen würde. Auch bei anderen Rohstoffen, wie etwa Nickel, Palladium, Getreide oder Kunstdünger, bestehen derzeit große Abhängigkeiten von Russland. Diese Engpässe sollten aber durch Anpassung globaler Lieferketten grundsätzlich lösbar sein - wenn auch zu deutlich steigenden Preisen.

Wie groß werden die Einschnitte durch ein Szenario globaler Systemkonflikte für Unternehmen und Investoren ausfallen, kann man das heute schon absehen?

Sebastian Heilmann: Generell wird das neue Szenario auf verschiedenen Ebenen spürbar: Für Unternehmen nimmt die globale Unsicherheit deutlich zu. Zunehmende Konflikte und Streitigkeiten zwischen Großmächten oder Wirtschaftsblöcken erodieren das bisherige Umfeld einer relativ wirtschaftsfreundlichen Globalisierung und gefährden bestehende Lieferketten und Geschäftsmodelle. Der Einsatz scharfer Wirtschaftssanktionen im Konfliktfall kann, wie schon heute sichtbar, quasi über Nacht etablierte Geschäftsmodelle entwerten. Insgesamt reduzieren sich sowohl der Zeithorizont als auch die Stabilität unternehmerischer Planungen dramatisch. Für viele Unternehmen bedeutet das neue Szenario radikale Veränderungen, auf die man bei extremer Unsicherheit und zugleich unter hohem Zeitdruck reagieren muss. Gut aufgestellte Unternehmen mit exzellentem Management werden diese Herausforderungen meistern, während mittelmäßige Unternehmen existenzbedrohende Probleme bekommen können. Für Investoren wird es zukünftig sehr wichtig, diese Unterschiede zu erkennen und entsprechend zu differenzieren.

Müssen wir uns auf spürbare Wohlstandsverluste einstellen? Wie lange wird diese Phase anhalten?

Heinz-Werner Rapp: Die erste Frage muss aus heutiger Sicht mit einem klaren Ja beantwortet werden. Der Angriff auf unseren bisherigen Wohlstand läuft über mehrere Ebenen. Zum einen dürften sich in einer gespaltenen Weltwirtschaft bisherige Gewinne aus dem Außenhandel deutlich reduzieren, speziell für den langjährigen Exportweltmeister Deutschland. Zum anderen muss künftig mehr Geld in neue Sicherheitsarchitekturen investiert werden, also in Waffen, Militärgüter und entsprechende Infrastruktur. Da dieses Thema speziell in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren sträflich vernachlässigt wurde, entstehen nun hohe Anlaufkosten für militärische Ertüchtigung. Für Deutschland steht hier bereits die Zahl von 100 Milliarden Euro im Raum, doch die echten Kosten dürften erheblich höher liegen.

Drittens muss - unter sehr hohem Zeit- und Leidensdruck - eine völlig veränderte Energie-Infrastruktur aufgebaut werden. Um möglichst schnell unabhängig von russischen Öl- und Gaslieferungen zu werden, sind enorme Investitionen in alternative Energiequellen, Transportwege und Verarbeitungskapazitäten erforderlich. Diese Entwicklung steht in Deutschland erst am Anfang und wird künftig noch enorme Gelder verschlingen.

Als vierter Punkt kommen gesamtwirtschaftliche Effizienzverluste hinzu: Veränderte Lieferketten und ein gezieltes "Abkoppeln" bisheriger Niedrigkosten-Lieferanten - wie etwa Russland bei Energie - reduzieren per Definition ökonomische Effizienz und erhöhen die Kosten für Unternehmen und Konsumenten.

Hieraus resultiert unmittelbar der fünfte wohlstandssenkende Aspekt, der ja schon heute deutlich sichtbar ist, denn: Die Summe der zahlreichen adversen Veränderungen erzeugt zwingend eine strukturelle Zunahme der Inflation. Dieses Problem dürfte viele Menschen in den kommenden Jahren noch sehr belasten. Die Wirkung der skizzierten Entwicklungen dürfte mindestens bis zum Ende des Jahrzehnts anhalten, sodass über Jahre hinweg von spürbaren Wohlstandsverlusten auszugehen ist.

Dr. Heinz-Werner Rapp , Mitglied des Vorstands, , FERI AG, Bad Homburg
Prof. Dr. Sebastian Heilmann , Inhaber , Lehrstuhl für Politik und Wirtschaft Chinas, Universität Trier

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