Predictive Analytics im Reality Check: Szenarien für Banking und Wealth Management

Philippe Meyer, Foto: MD-Avaloq-Innovation

Dass Kundendaten in allen Wirtschaftsbereichen zu einem Asset geworden sind, ist im Zeitalter der Digitalisierung keine neue Erkenntnis. Die Banken gehen mit der Auswertung der in ihren IT-Systemen vorhandenen Informationen allerdings traditionell eher vorsichtig um, weil sie das besondere Vertrauensverhältnis zu ihren Kunden nicht gefährden wollen. Szenarien wie sie aus dem Konsumgüterbereich aufgezeigt werden, beispielsweise Kunden mit Waren oder Dienstleistungen beliefern zu können, die noch gar nicht bestellt wurden, lässt sich sicherlich auch auf Bankdienstleistungen übertragen, werden aber von vielen Verbrauchern als befremdlich bewertet. Wer seine Kunden nicht genau kennt und dazu alle verfügbaren Kundendaten auswertet, so hält der Autor entgegen, hat es gegen Wettbewerber, die mit diesen analytischen Methoden arbeiten, zunehmend schwer. Aus seiner Sicht wird sich die gesamte Branche und damit auch das Asset Management mit solchen Technologien beschäftigen und diese mit den erforderlichen Sicherheitsstandards in ihre IT-Landschaft integrieren müssen. (Red.)

Neue digitale Technologien sorgen in Banking und Wealth Management für disruptive Entwicklungen. Neben der Blockchain-Technologie, die ein völlig neues, digitales Paradigma schafft, spielt auch Predictive Analytics eine entscheidende Rolle. In der Zukunft führt für Banken und Vermögensverwalter daran kein Weg mehr vorbei. Denn Predictive Analytics - die Prognose des Kundenverhaltens auf Basis automatisierter Datenanalysen - wird Unternehmen entscheidende Wettbewerbsvorteile verschaffen. Banken können auf dieser Grundlage individualisierte Leistungen in höherer Qualität erbringen. Predictive Analytics wird der Branche eine viel granularere Perspektive ermöglichen als bisher: bis hinab zur Vorhersage des konkreten, aktuellen Bedarfs individueller Klienten.

Neue Standardlösungen für Analytics

Dass sich der Markt dramatisch verändert und Predictive Analytics derzeit immer bedeutsamer wird, hat auch damit zu tun, dass sich im Bereich der Analyse immer mehr technologische De-facto-Standards etablieren. Sei es etwa Apache Cassandra für Datenbankverwaltung und Storage oder das Apache Spark Framework und Apache Kafka für die Ansprüche an die Big-Data-Analyse. Neben großen Playern wie HP und IBM bieten heute auch schon kleinere Unternehmen schlüsselfertige Analytics-as-a-Service-Lösungen. Die Konsequenz: Marktteilnehmer sind nicht mehr gezwungen, ihre eigenen Analyseplattformen zu bauen. Stattdessen gibt es Analytics in Zukunft in Form problemlos zugänglicher Standardlösungen und Module. Vor diesem Hintergrund bleibt allerdings nach wie vor ein hoher Integrationsgrad der IT-Systeme einer Bank wünschenswert - dadurch wird es für ein Institut leichter, in wirklich alle relevanten Daten tief einzutauchen.

Ein hochrelevanter Anwendungsfall für Predictive Analytics ist der Bereich Customer Insights. Hier profitieren Kundenberater und Relationship Manager im Front-Office davon, dass sie eine echte 360-Grad-Perspektive auf Kunden und Interessenten gewinnen und sie viel besser verstehen, als dies bisher möglich war. Aus Kundenperspektive heißt das: bedarfsgerechtere Angebote als je zuvor. Im Idealfall werden für die automatische Analyse alle Kundeninformationen aus sämtlichen internen Quellen des Unternehmens genutzt und auch unterschiedlichste externe Daten, etwa auch Wohnort- beziehungsweise Geodaten zur Kaufkraft.

Ein individuelles Profil zu jedem Kunden

Einer der besonderen Vorteile von Predictive Analytics ist es, dass sich damit zu jedem Kunden, Interessenten und Website-Besucher ein individuelles Profil erstellen lässt. Die bisherige Kontakt- und Geschäftshistorie inklusive Zeit, Umfang und Zahl der Transaktionen wird dabei ebenso einfließen wie die technischen Daten des digitalen Kontaktvorgangs - von der IP-Adresse des Nutzers über Bildschirmauflösung, Browser und Betriebssystem bis hin zu seiner Spracheinstellung. Sämtliche Informationen können einer Predictive-Analytics-Lösung dazu dienen, Abschlusswahrscheinlichkeiten für bestimmte Produkte oder Leistungen zu bestimmen und bislang unerkannte Umsatzpotenziale zu identifizieren.

Die Kundenberater werden ihre Klienten in Zukunft so gut verstehen, dass sie den zukünftigen Bedarf eines Kunden sogar antizipieren können, bevor er ihm selbst bewusst wird. Aus der spiegelbildlichen Perspektive betrachtet ergeben sich durch Predictive Analytics natürlich auch für den Klienten selbst enorme Vorteile: Denn seine Bank oder sein Vermögensberater werden ihm in Zukunft Angebote machen können, die seinem tatsächlichen Bedarf optimal entsprechen. Im genau richtigen Zeitpunkt und mit passgenauem Zuschnitt. Klienten werden sich dank Predictive Analytics besser betreut fühlen als je zuvor. Zu Recht.

Höhere Umsätze, Betrugserkennung und Effizienzsteigerung

Höhere Umsätze sind der erste wichtige Nutzen von Predictive Analytics, weil eine Bank die Bedürfnisse ihre Kunden dadurch gezielt adressieren kann. Ein zweites großes Anwendungsszenario für Predictive-Analytics-Lösungen ist die Betrugserkennung und -vermeidung. Aufgrund der Analyse des Kundenverhaltens und all der Daten, die der Bank im Zusammenhang mit dem Kunden zugänglich sind, werden Analytics-Systeme einschätzen können, wie groß die Betrugswahrscheinlichkeit bei einem spezifischen Kunden ist, um bei entsprechenden Vorgängen einen automatischen Alarm auszulösen. Dadurch verbessert sich gleichzeitig die Effizienz im Backoffice. Denn die Qualität und Validität der Betrugsalarme wird durch Predictive Analytics steigen, während sich die Zahl falsch positiver Betrugsverdachtsfälle, die aufwendig manuell untersucht werden müssen, deutlich reduziert. Ganz generell ist dies das dritte große Nutzenversprechen von Predictive Analytics: eine Kostenreduktion durch eine verbesserte Effizienz in den Prozessen.

Um die Qualität der Vorhersagen, die mit Predictive-Analytics-Lösungen entstehen, kontinuierlich zu verbessern, ist es wichtig, in den entsprechenden Projekten eine Feedback-Schleife zu integrieren. Der erste Schritt besteht immer darin, in die verfügbaren Daten einzutauchen, sie zu säubern und nutzbar zu machen. Der zweite Schritt ist es, Modelle zu entwickeln, die geeignet sind, die relevanten Aspekte im Verhalten von Kunden oder Interessenten zu identifizieren. Und der dritte Schritt besteht darin, auf Basis der prädiktiven Analysen automatisierte Handlungen anzustoßen - vom Senden einer simplen Mail an einen Kunden bis hin zur komplexen Unterstützung persönlicher Beratungsvorgänge.

Die Integration der Systemlandschaft

Entsprechend werden sich auch die Nutzeroberflächen von Predictive-Analytics-Lösungen je nach Anwendungsszenario deutlich unterscheiden. Manche werden mit schmalen, eher administrativen Interfaces auskommen, andere werden dem Anwender mächtige Funktionalitäten und vielfältige Auswertungs- und Interaktionsmöglichkeiten bieten.

Auch wenn das User Interface für jedes Anwendungsszenario anders ist - die Predictive-Analytics-Technologie dahinter bleibt letztlich dieselbe. Aktuell ist die Situation bei vielen Banken und Vermögensberatern noch die, dass für jedes spezifische Problem ein spezifisches Werkzeug beschafft wird. Dies führt naturgemäß zu einer entsprechenden Fragmentierung der Systemlandschaft, zu einem Nebeneinander von Datensilos.

Eine moderne, durchgängige Plattform mit einem übergreifenden Enterprise-Wide-Object-Modell bringt von Haus aus die Voraussetzungen mit, die Predictive- Analytics-Anforderungen der Zukunft zu erfüllen. Es ist ein wichtiger Faktor sowohl für durchgängige Plattformen als auch für einzelne Systeme, dass sie über offene Schnittstellen und APIs verfügen. Denn die umfassende Integration aller relevanten Datenquellen, interner wie externer, bleibt die Grundlage jeder prädiktiven Analyse.

Vom Retailbanking bis zur Vermögensberatung

Ob ein Berater Ultra high-net-worth Individuals betreut oder ob es um Direktmarketing- und Sales-Aufgaben im Retailbanking geht: Predictive Analytics ist in all diesen Anwendungsfällen relevant, wenn auch aus etwas unterschiedlichen Gründen. Im Retailbanking wird es in Zukunft entscheidend darauf ankommen, unter den vielen Tausend Kunden signifikante Verhaltensmuster auszumachen, Marketingkampagnen darauf auszurichten und auch neue Untergruppen zu identifizieren, um sie gezielt adressieren zu können.

Der Relationship Manager in der Vermögensberatung einer Privatbank dagegen betreut vielleicht nur 100 Kunden, aber für ihn ist es unerlässlich, alles über diese Kunden zu erfahren und ihre Bedürfnisse und ihr Verhalten so genau wie irgend möglich vorherzusagen - um ihnen perfekt gerecht werden zu können. In beiden Szenarien kommt letztlich dieselbe zentrale Stärke von Predictive Analytics zum Tragen: zielgerichtete Angebote zum optimalen Zeitpunkt zu ermöglichen. Davon profitieren immer beide Seiten: der Berater und sein Klient.

Umfassende Data Governance

Angesichts der Kundendaten, die ein Unternehmen im Rahmen von Predictive Analytics auswertet, bleibt auch der Schutz personenbezogener Daten ein Thema. Wenn eine Bank Predictive Analytics betreibt, hat sie dabei die gesetzlichen Bestimmungen und Regularien einzuhalten, etwa die Datenschutzgrundverordnung der EU (EU-DSGVO). Eine durchgängige Data Governance ist vor dem Hintergrund der Bedeutung von Predictive Analytics ohnehin unerlässlich. Mit einem umfassenden Data-Governance-Programm definiert ein Unternehmen die in Hinblick auf seine Daten erforderlichen Qualitäts-, Sicherheits-, Datenerfassungs- und Prozessstandards.

So ist es kein Zufall, dass beispielsweise IBM, einer der großen Player im Big-Data-Markt, Data Governance als Schlüsselthema im Kontext seiner Analytics-Angebote begreift. Auch das Big-Data-Konzept eines einzigen großen Data Lake spielt hier eine Rolle. Analog zum Konzept der relationalen Datenbank werden in einem Data Lake Daten aus unterschiedlichsten Quellen in ihrem Rohformat gespeichert und so für Analysen zugänglich. Auch der integrale Data-Lake-Ansatz verdeutlicht, dass Banken es im Kontext von Predictive Analytics als übergreifende, unternehmensweite Aufgabe zu verstehen haben, ein geeignetes Data-Governance-Konzept zu etablieren und eine durchgängig hohe Datenqualität sicherzustellen.

Oft ist die Rede davon, die GAFA-Internetriesen - Google, Apple, Facebook und Amazon - seien in Sachen Predictive Analytics von vornherein im Vorteil. Verfügen sie doch über eine gigantische Menge an Daten über ihre Kunden - und schon seit Langem über die Big-Data- und Analyse-Technologie, um diesen Schatz zu heben. Für klassische Finanzinstitute dagegen mag die Analyse ihrer Kundendaten noch Terra incognita sein, aber warum sollten sie nicht von den GAFAs und den Fintechs dieser Welt lernen können – zumal Predictive-Analytics-Technologie aktuell immer mehr in Form standardisierter Lösungen nutzbar wird?

Wichtiger Vertrauensvorteil

Einen bedeutenden Vorteil haben Banken ohnehin: Sie genießen das Vertrauen ihrer Kunden und sie verfügen über Daten von entsprechender Qualität. Ihre spezifischen Banking- und Beratungsservices auf der Basis eines sehr hohen Kundenvertrauens anbieten zu können, bleibt ein wichtiger Wettbewerbsvorteil der etablierten Finanzdienstleister. Dennoch gilt auch für sie: Nur wer seine Kunden wirklich versteht, ist in der Lage, sie dauerhaft zu binden und ihren tatsächlichen Bedarf exakt zu erfüllen. Ohne Auswertung aller verfügbaren Daten geht das nicht mehr. Für die Zukunft von Banking und Wealth Management wird Predictive Analytics entscheidend sein.

Philippe Meyer Leiter Produktinnovation, Avaloq, Freienbach, Schweiz
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