Folgen des Ukraine-Krieges für die Finanzwirtschaft: der Versuch einer Analyse

Prof. Dr. Michael Lister, Foto: zeb.rsa GmbH

Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Das wird zwar derzeit oft wiederholt, verliert dadurch aber nicht an Wirkkraft. Dadurch ergibt sich jedoch nicht nur für Bankvorstände eine schwammige und wenig greifbare Entscheidungsbasis. Daher haben Lister und Stickling mit dem vorliegenden Beitrag versucht, die aktuellen Folgen des Ukraine-Krieges aus Sicht der Finanzwirtschaft zu analysieren und mögliche alternative Entwicklungspfade aufzuzeigen. Dabei befassen sich die Autoren mit unterschiedlichen Teilaspekten wie Konjunkturentwicklung, Entwicklung der Inflation, aber auch mit einer möglichen Entwicklung der Zinslandschaft. Zudem gehen sie auf eventuelle Auswirkungen einer Deglobalisierung ein, die oft als Konsequenz der Entwicklung der vergangenen Jahre diskutiert wird. Die Risiken aus einer möglicherweise zu hohen Ausfallrate bei Krediten sehen die Autoren als nicht so hoch an, da die Aufsicht seit einiger Zeit mit den Stresstests auch extreme Szenarien berücksichtige und die Eigenmittelausstattungen der Banken dementsprechend ausreichend sein könnten. (Red.)

Während noch über die Folgen der Corona-Pandemie diskutiert wird, erlebt die Welt den russischen Einmarsch in die Ukra ine. Dieser Krieg stößt vieles von dem um, was bislang als sicher galt. Die Folgen des militärischen Vorgehens können aus unterschiedlichsten Blickwinkeln analysiert werden. Im Idealfall ergibt sich daraus ein umfassendes und abschließendes Gesamturteil. Divergierende Interpretationen des bisherigen Geschehens und variierende Vorstellungen und Ideen bezüglich des optimalen Vorgehens führen jedoch zu einer sehr schwammigen und wenig greifbaren Entscheidungsbasis. Das erschwert die Aussagekraft von Prognosen der zukünftigen Entwicklung als Ausgangspunkt zur Ableitung optimierter Strategien für das eigene Geschäftsmodell.

Vor diesem Hintergrund werden nachfolgend aus Sicht der europäischen Finanzwirtschaft die aktuellen Folgen des Ukraine-Krieges analysiert, um auf den hieraus folgenden Erkenntnissen aufbauend Zukunftsprognosen zu wagen und mögliche alternative Entwicklungspfade aufzuzeigen. Alternative Stoßrichtungen werden aufgelistet und gegenübergestellt, allerdings ohne eine abschließende Gesamtbewertung vorzunehmen.

Die Folgen des Ukraine-Krieges können nicht losgelöst von denjenigen der Corona-Pandemie betrachtet werden. Schon die Corona-Pandemie hat verdeutlicht, dass insbesondere die westliche Wirtschaft viel zu sehr von einem reibungslosen Ablauf und dem Funktionieren weltweiter Lieferketten abhängig ist. Durch die Ukraine-Krise haben sich Lieferketten-Engpässe noch weiter erhöht. In vielerlei Hinsicht setzt der Ukraine-Krieg auf die Pandemie zurückzuführende Negativentwicklungen weiter fort.

Konjunktur und Inflation

Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes ist 2020 im ersten Jahr der Corona-Krise eingebrochen. Schon 2021 konnten die vorherigen Wachstumseinbußen bezüglich des Bruttosozialproduktes mindestens teilweise, oft sogar ganz wieder wettgemacht werden. Dieser überaus positive Trend hätte sich 2022 fortsetzen können. Alle Planzahlen wiesen darauf hin, dass das Bruttosozialprodukt 2022 tatsächlich wieder steigen würde. Der Ukraine-Krieg wird sowohl weltweit, als auch in den USA, in der EU und vor allem in Deutschland dazu führen, dass ursprünglich geplante Wachstumsraten nicht erreicht werden.

Während also die wirtschaftliche Entwicklung zum zumindest vorläufigen Ende der Corona-Krise äußerst positiv bewertet werden konnte, lässt die Ukraine-Krise die sich gut entwickelnden Wachstums zahlen wieder einbrechen. Verschiedene Simulationsrechnungen verdeutlichen, dass Deutschland hiervon am stärksten betroffen sein könnte.

Abbildung 1: Prognose zur Entwicklung des BIP-Wachstums Quelle: Bloomberg (2022a)
Abbildung 1: Prognose zur Entwicklung des BIP-Wachstums Quelle: Bloomberg (2022a)

Trotzdem ist es denkbar, dass der Krieg mindestens in ausgewählten Bereichen der Wirtschaft positive Wachstumseffekte mit sich bringen wird. So könnte beispielsweise die Notwendigkeit, sich von Gas und Öl zu lösen, zu einem deutlichen Schub für alle Unternehmen rund um den Bereich der erneuerbaren Energien führen. Angesichts der militärischen Neuausrichtung ist zudem ein starkes Wachstum in der Rüstungsindustrie zu erwarten.

Mit derartigen Musterrechnungen wird versucht, valide Prognosen zu erzeugen. Dazu werden aus historischen Entwicklungen Zukunftsaussagen abgeleitet. Grundlegende Idee ist jeweils, dass sich in der Zukunft die Vergangenheit wiederholt. Morgen werden jedoch völlig neue Lieferketten entstehen, wird sich der Handel mit China und Russland verändern, China und Russland selbst werden andere Märkte bearbeiten und fortan auch in solchen Ländern als Wettbewerber auftreten, in denen bislang vornehmlich westliche Länder aktiv waren. So werden neue Verhältnisse und daraus neue Daten entstehen, die in den bisherigen Historien nicht enthalten gewesen sind.

Historisch abgeleitete Prognosen stets unsicher

Aus Historien abgeleitete Prognosen sind oft interessant. In jedem Fall verbessern sie das Verständnis für Zusammenhänge. Trotzdem bleiben sie stets unsicher. Deshalb sind die Aussagen solcher, auf Historien basierender Modelle stets mit Vorsicht zu genießen. Sicher ist hier lediglich, dass es solche, nicht in verwendeten Historien enthaltene Umbrüche schon in der Vergangenheit immer wieder gegeben hat. So wurde beispielsweise mit großem Erfolg der LTCM Hedge Fund propagandiert. Experten prophezeiten, dass auf Basis historischer Daten der LTCM Hedge Fund in allen historischen Szenarien stets zu Gewinnen geführt hätte. Nach dem Zerfall der osteuropäischen Staaten führte die sogenannte Russlandkrise zum Zusammenbruch des LTCM Hedge Fund. Bei verschiedenen Banken entstanden massive, teilweise existenzbedrohende Verluste. Die zuvor den vermeintlichen Erfolg des LTCM Fund testierenden Modelle scheiterten, weil eine dramatisch veränderte Weltwirtschaft verbunden mit der in keiner Historie zur Analyse des Fonds enthalten war.

Für die Geldentwertung gilt wie für die Entwicklung des BIP, dass bereits die Corona-Pandemie zu einem moderaten Anstieg der Inflationsrate geführt hat. Seit dem Ukraine-Krieg sind die Inflationsraten weltweit explodiert, wieder mit besonderem Ausmaß in Deutschland. Gleichwohl wird schon für 2023 ein leichter Rückgang der Inflation bei allerdings immer noch hohem Niveau erwartet.

Der Krieg treibt auch die Inflation weiter an. Inflationsschübe sind zunächst allerdings eine weitere Folge der Corona-Pandemie. Gestörte Lieferketten, zum Beispiel aufgrund übervoller Häfen in China und der damit verbundenen Nichtabfertigung von Containerschiffen, haben zu einer weltweiten Verknappung von Konsum- und Produktionsgütern geführt. In Zeiten eines moderaten Wachstums des Bruttoinlandsproduktes entsteht aus dieser künstlichen Engpasssituation ein Nachfrageüberhang, der die Preise in die Höhe treibt: Inflation trotz mäßigen oder gar negativen Wirtschaftswachstums, auch Stagflation genannt.

Schwer zu bekämpfende Stagflation

Die Stagflation stellt Volkswirte vor Probleme. In der Regel entsteht Inflation aus zu hohem Wirtschaftswachstum. Die Stagflation stellt einen Sonderfall dar. Sie ist schwer zu bekämpfen. Bei steigenden Preisen aufgrund zu hohen Wachstums verlangen Monetaristen eine Erhöhung der Zinsen. Die Erhöhung der Zinsen führt zu einer Reduktion der Investitionstätigkeiten und bremst so das Wachstum. Wenn in Zeiten niedrigen Wachstums das Wachstum durch Zinserhöhungen zusätzlich gebremst wird, entstehen ungewünschte Effekte.

Die den Monetaristen gegenüberstehenden Angebotstheoretiker verlangen die Steuerung des Wachstums über eine Erhöhung beziehungsweise Reduzierung der Ausgaben. Der Effekt ist der gleiche. Zur Bekämpfung von Inflation sollen Ausgaben gebremst werden, was im Falle niedriger Wachstumsraten kontraproduktiv ist.

Die EZB wird derzeit wegen ihrer eher defensiven Zinspolitik stark kritisiert. Die Kritik ist verständlich. Denn der Wunsch nach höheren Zinsen auch und vor allem zur Sicherung bestehenden Vermögens ist groß. Trotzdem ist die Frage zu stellen, ob das aktuelle Wirtschaftswachstum in der EU hoch genug ist, um im Falle von Zinserhöhungen zur Bekämpfung von Inflation nicht einzubrechen.

Abbildung 2: Prognose zur Entwicklung der Inflationsrate Quelle: Bloomberg (2022a)
Abbildung 2: Prognose zur Entwicklung der Inflationsrate Quelle: Bloomberg (2022a)

Für das aktuelle Jahr werden weltweit, aber auch für Deutschland oder die Europäische Union Inflationsraten von über 5 Prozent erwartet. Die Prognosemodelle gehen davon aus, dass 2023 bereits ein Rückgang zu erwarten ist. Gleichwohl gilt natürlich auch hier, dass exakte Prognosen aufgrund sich komplett verändernder Rahmenbedingungen mithilfe existierender Modelle gar nicht möglich sind. Die divergierenden Aussagen von Analysten zeigen, wie sehr diese mit der aktuellen Situation überfordert sind. So wurden diverse Schätzungen von Inflationsraten in der jüngeren Vergangenheit laufend und teilweise sprunghaft nach oben angepasst. Selbst die EZB musste ständig ihre Prognosen korrigieren. Sicher ist eigentlich nur, dass seit Herbst 2021 ein neues Inflationsregime gilt, das auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Der Krieg befeuert nun Zweitrundeneffekte. Die Ungewissheit über das weltweite wirtschaftliche Zusammenleben nach dem Krieg sowie die zu erwartende Deglobalisierung als Folge von Pandemie und Krieg treiben aktuell die Inflation weiter nach oben. Mittelfristig wird eine Inflationsrate von 3 Prozent unterstellt. Und immer besteht die Unsicherheit darin, nicht zu wissen, in welcher Welt Europa morgen aufwachen wird.

Die Zinsentwicklung

Verbunden mit der Ukraine-Krise sind auch Veränderungen auf den Zinsmärkten. Für die Durchschnittsrendite zehnjähriger Staatsanleihen der Bundesrepublik Deutschland sowie der USA ist unmittelbar nach dem Angriff Russlands eine kurze Phase der Zinssenkung zu beobachten. Bereits circa zwei Wochen nach Kriegsbeginn sind die Renditen in beiden Ländern wieder deutlich gestiegen.

Für die Zinsstrukturkurven beider Länder (auf Basis von EURIBOR und USD LIBOR) ist vom 15. Februar 2022 bis zum 30. April 2022 ein deutlicher Zins-Shift zu beobachten. Der Shift fällt in den USA vor allem bei Restlaufzeiten von ein bis zwei Jahren besonders stark aus. Im Euroraum ist vor allem am langen Ende ein hoher Anstieg zu beobachten.

Die Zinsstrukturkurven von Staatsanleihen unterscheiden sich im Verlauf geringfügig von den beiden vorgenannten. Während EURIBOR- und USD-Zinsstrukturkurven einen teilweise inversen Verlauf aufzeigen, verläuft die Kurve für deutsche Staatsanleihen inzwischen normal. Der Verlauf der Zinsstrukturkurve deutscher Staatsanleihen beginnt im kurzfristigen Bereich mit negativen Renditen, die sich anschließend bei zunehmender Laufzeit auf nahezu 1,0 Prozent Effektivrendite für langfristige Laufzeiten erhöhen. Die Schweizer Kurve verläuft fasst deckungsgleich. Die Kurve für Italien verläuft ebenfalls normal, allerdings mit einem deutlich steileren Anstieg.

Das alles gilt nicht für den teilweise inversen Verlauf der Kurve amerikanischer Staatsanleihen. Nach einem Anstieg der Renditen mit Laufzeiten von bis zu drei Jahren sinken die Zinsen von Papieren mit längeren Laufzeiten um wenige Basispunkte. Alle beobachtbaren Zinsstrukturkurven befinden nach wie vor auf einem sehr niedrigen Niveau. In den USA haben die Eingriffe der Fed zwar bereits zu einer Erhöhung des Zinsniveaus geführt. Trotzdem liegt auch hier der maximale Zins ungefähr bei lediglich 3 Prozent.

Nach einer langen Zeit mit nur geringen Bewegungen auf den Zinsmärkten sind inzwischen Veränderungen zu beobachten. Flache beziehungsweise teilweise oder vollständig inverse Kurven können als Indikator für mögliche Rezessionen herangezogen werden. Allerdings besteht auch hinsichtlich der Entwicklungen auf den Zinsmärkten eine hohe Unsicherheit.

Ausgegebene Geldmenge immer noch außergewöhnlich hoch

Aus einer vermögensorientierten Sichtweise mag ein vielerorts geforderter Anstieg der Zinsen sinnvoll sein. Mit investitionsrechnerischem Fokus ist die Gefahr des Bremsens eines ohnehin geringen Wachstums des Bruttosozialprodukts zu befürchten. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die aktuelle Zinssituation das vorläufige Ergebnis einer mit der Finanzkrise 2007/2008 und der Staatsschuldenkrise 2010 eingeleiteten Entwicklung ist. Immer noch ist die ausgegebene Geldmenge außergewöhnlich hoch. Die Komplexität des Zusammenspiels von Wirtschaftswachstum, Inflationsrate und Zinsentwicklung im Umfeld einer Welt, die geprägt ist durch Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Pandemie und Krieg, überfordert die Prognosemodelle.

Wenn schon die Prognosemodelle scheitern, wird die Ableitung geeigneter langfristiger Zinsstrategien für Finanzinstitute ein schwieriges Unterfangen. Vielleicht können vorerst kurzfristige Maßnahmen helfen, die aktuelle Situation in den Griff zu bekommen, bevor in ruhigerem Fahrwasser ein langfristiges Navigieren wieder möglich wird.

Performance von Bankaktien

Es ist wenig verwunderlich, dass die vorgenannten Entwicklungen zu einer Abwertung von Bankaktien führen. Vom 15. Februar 2022 bis zum 30. April 2022 beträgt der Total Shareholder Return (TSR) des MSCI World minus 8,0 Prozent. Im gleichen Zeitraum konnten die weltweiten Aktien von Energieunternehmen einen Sprung des Total Shareholder Returns um plus 12,3 Prozent verzeichnen. Der TSR der Global Top 100 Banken betrug währenddessen minus 9,4 Prozent.

Aus der Gruppe europäischer Banken weist die Svenska Handelsbanken aus Schweden einen TSR von plus 7,6 Prozent auf. Standard Chattered aus UK erwirtschaftete einen TSR von plus 1,3 Prozent. Diese beiden waren die Top Performer im Vergleich zum Rest europäischer Banken mit negativem TSR. Die schlechteste Performance wiesen die Unicredit aus Italien mit minus 38,6 Prozent und die Société Générale aus Frankreich mit minus 32,8 Prozent auf.

Offenbar stehen Banken aus Aktionärsperspektive längst nicht mehr auf der Sonnenseite. Sie weisen ohnehin seit der Finanzkrise 2007/2008 eher negative Entwicklungen auf. Pandemie, Krieg und Inflation haben weitere negative Schübe erzeugt. Im weltweiten Vergleich sind die Kursrückgänge bei europäischen Banken besonders stark. Insbesondere Banken mit einem hohen Geschäftsanteil in beziehungsweise mit Russland oder der Ukraine wurden deutlich abgestraft. Das gilt insbesondere für Institute aus Österreich, Italien und Frankreich. Zudem ist zu beobachten, dass auch die Kurse stark zinssensitiver Banken, wie zum Beispiel der Commerzbank, deutlich gefallen sind.

Offen bleibt, ob diese negativen Bewertungen tatsächlich gerechtfertigt sind. Bei einem geschätzten Total Exposure in Russland und der Ukraine von circa 700 Milliarden US-Dollar drohen Verluste in Höhe von circa 100 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Die Finanzkrise 2007/08 hat zu einem geschätzten Verlust von 1,4 Billionen US-Dollar geführt, war also ungleich bedeutender. Angesichts solcher Zahlen bleiben die potenziellen Verluste überschaubar. Trotzdem wird es einzelne Institute geben, insbesondere solche mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Geschäften mit Russland oder der Ukraine, für die die Situation durchaus kritisch enden kann.

Sollte der europäische Raum tatsächlich eine Zinswende erleben, könnten Banken in Teilen durchaus zu Profiteuren einer solchen Entwicklung werden. Berechnungen des zeb zufolge würde eine Erhöhung des Zinsniveaus um durchschnittlich 2 Prozent über alle Laufzeiten hinweg die aktuellen Gewinne um durchschnittlich circa 20 Prozent wachsen lassen.

Effekte aus einer Deglobalisierung

Banken sind immer abhängig von einer generellen wirtschaftlichen Entwicklung. Geht es den Unternehmen schlecht, steigt die Gefahr von Kreditausfällen. Eigenkapitalbeteiligungen werden riskanter. Deshalb muss in einer Analyse der Folgen des Kriegs für Finanzinstitute auch das wirtschaftliche Umfeld von Unternehmen betrachtet werden. Wie zuvor erörtert, wird hinsichtlich der Konjunkturentwicklung ein überschaubarer Rückgang des Wachstums für 2022 erwartet, allerdings keineswegs ein negatives Wirtschaftswachstum. Bislang dürften in diese Prognosen wenige Effekte aus den (Spät-)Folgen der Pandemie und des Ukraine-Kriegs eingepreist sein. Denn noch ist völlig unklar, welche Wirkungen zum Beispiel ein Energieembargo oder ein Lieferstopp hätten.

Abbildung 3: Trend und internationaler Vergleich Quelle: EZB, Bloomberg (2022b, 2022c und 2022d)
Abbildung 3: Trend und internationaler Vergleich Quelle: EZB, Bloomberg (2022b, 2022c und 2022d)

Einigkeit herrscht darüber, dass die in Friedenszeiten aufgebauten wirtschaftlichen Abhängigkeiten mindestens teilweise abgebaut werden müssen. Eine neue strategische Geopolitik ist erforderlich. Für eine Neuausrichtung muss jedoch klar sein, wie der Krieg endet und wie nach dem Krieg das internationale Zusammenspiel zwischen den Ländern gestaltet wird. Wie wird sich die Beziehung zwischen Russland und China entwickeln? Wie wird sich der indische Markt entwickeln und mit welchen Partnern wird Indien zukünftig zusammenarbeiten? Welche Rolle wird China zukünftig in Afrika einnehmen? Wie können westliche Länder verhindern, das Störungen von in China beginnenden Lieferketten zu gefährlichen Einbrüchen bei europäischen Unternehmen führen? Letztlich stellt sich die alles überlagernde Frage, wie Ricardos Theorem zur internationalen Arbeitsteilung fortgeführt werden kann. Das Prinzip der Komparativen Kosten ist zumindest rechnerisch nicht angreifbar. Damit jedoch alle davon profitieren können und so der Wohlstand länderübergreifend gemehrt werden kann, müssen alle Beteiligten auf internationaler Ebene bewusst miteinander interagieren wollen.

In Modellrechnungen von IfW, Kiel, und Wifo, Wien, wurde versucht, die negativen Wohlfahrtswirkungen der Entflechtung zu kalkulieren. Die Lösung des Westens von Russland wird danach im Durchschnitt zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von circa 0,17 Prozent führen. Deutschland muss an dieser Stelle mit einem überdurchschnittlichen Rückgang von 0,40 Prozent rechnen. Die Entflechtung von China ist ungleich bedeutsamer. Infolge einer solchen würde der Westen circa 0,95 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes verlieren. Umgekehrt müsste Russland mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 9,7 Prozent und China mit 3,55 Prozent Rückgang rechnen.

Die westlichen Sanktionen sind derzeit in erster Linie mittel- und langfristig angelegt. Mit den bisherigen Sanktionen soll Russland vor allem ökonomisch eingedämmt werden. Die Sanktionen sind schon jetzt auf die Zeit nach dem Krieg ausgerichtet. Sowohl das Verhalten Chinas, als auch das Verhalten Russlands, als auch die Chinesisch-Russische-Blockbildung gegen den Westen werden dazu führen, dass das internationale Zusammenarbeitsmodell infrage gestellt wird. Dies wird zu einer Anpassung aktueller Investitionstätigkeiten und Wertschöpfungsketten führen. Deutschland geht hier besondere Risiken ein. Denn die Abhängigkeit von Russland und China ist in Deutschland vergleichsweise hoch. Umgekehrt ist damit zu rechnen, dass der Westen deutlich weniger Schäden aus einer Entflechtung der Wirtschaftsbeziehungen zu erwarten hat als Russland und China. Bei alledem ist denkbar, dass es weitere Zuspitzungen geben wird, die zu deutlich stärkeren Einbrüchen führen könnten, als erwartet.

Finanzwirtschaftliche Folgen unternehmensrelevanter Aspekte

Das alles kann dazu führen, das Unternehmen in Schieflagen geraten. Infolgedessen würden Ausfallraten steigen, Verluste bei Banken entstehen und so Gewinne sinken. Schon in der Corona-Pandemie wurde geunkt, dass exorbitante Steigerungen von Ausfallraten zu erwarten sind. Bislang konnte eine solche Entwicklung vermieden werden.

Die Verknappung der Getreidelieferungen aus der Ukraine könnte zu großen Problemen insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent führen. Mögliche Hungersnöte können zu einer weltweiten Flüchtlingswelle führen. Um eine solche Welle zu bekämpfen beziehungsweise zu verhindern, oder um Flüchtlinge in das europäische Sozialsystem zu integrieren, sind politische, soziale und finanzielle Anstrengungen erforderlich. Auch hier ist nicht vorhersagbar, welche wirtschaftlichen Konsequenzen sich daraus ergeben. Einer finanziellen Belastung auf der einen Seite steht dann die Chance auf möglicherweise höheren Konsum aufgrund einer veränderten Bevölkerungsstruktur und -zahl auf der anderen Seite gegenüber.

Schon jetzt ist zu beobachten, dass insbesondere aus Russland Eliten fliehen. Damit könnte ein Knowhow-Transfer zugunsten Europas verbunden sein, der wiederum wachstumfördernd wäre. Gleiches gilt für spezialisierte Fachkräfte aus der Ukraine. Aber werden die Flüchtlinge nach dem Kriegsende in Europa bleiben oder in ihr Heimatland zurückkehren?

Bereits zuvor wurde erörtert, dass steigende Zinsen zu einer Verbesserung der Gewinne von Finanzinstituten führen können. Im Falle hoher Inflation, als Grundlage steigender Zinsen, ist jedoch auch mit steigenden Personalkosten zu rechnen. Steigende Personalkosten würden einen Teil sich erhöhender Zinsüberschüsse wieder auffressen.

Kreditausfallrisiken und Rating

Im Zuge der Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise wurden die Banken weltweit gezwungen, eine höhere Eigenmittelunterlegung ihrer Risiken zu generieren. Vor diesem Hintergrund ist zu diskutieren, ob der Ukraine-Krieg zu höheren Eigenmittelanforderungen führen könnte. Die Risikomessung findet in Finanzinstituten typischerweise unter gewöhnlichen Marktbedingungen statt. Der Ukraine-Krieg ist ebenso wie die Corona-Pandemie kein gewöhnliches Ereignis. In den verfügbaren Historien fehlen solche Entwicklungen. Daraus ließe sich ableiten, dass in der jüngeren Vergangenheit zu niedrige Risiken gemessen wurden und die Eigenmittelunterlegung deshalb nicht ausreichend hoch ist. Die Aufsichtsbehörden haben jedoch die Möglichkeit solcher Ereignisse längst erfasst. In Stressszenarien werden Umweltbedingungen simuliert, die weit über übliche Marktbedingungen hinausgehen.

In inversen Stresstests müssen fiktive Extrem-Situationen simuliert werden, die zum Untergang eines Finanzinstituts führen können. Das alles hat bereits zu einem stetigen Anstieg vorhandener Eigenmittel in Finanzinstituten und damit zu größerer Sicherheit geführt. Dass die vorhandenen Eigenmittel zur Deckung möglicher Verluste aus den Folgen des Ukraine-Krieges ausreichen, kann zwar nicht garantiert werden. Trotzdem kann unterstellt werden, dass angesichts der in den vergangenen Jahren verbesserten Eigenkapitalausstattung zumindest keine akute Gefahr droht.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob bestehende Ratingsysteme um eine Zukunftskomponente bezüglich der Folgen des Ukraine-Kriegs erweitert werden müssen. Ratingsysteme basieren typischerweise auf Bilanzkennzahlen als quantitative und Zahlen zu Markt und Management einer Unternehmung als qualitative Faktoren. Ob einer Unternehmung eine Insolvenz droht, lässt sich gut an der Entwicklung bilanzieller Kennzahlen ablesen. Mögliche Verluste aus den Folgen des Ukraine-Kriegs würden im Jahresabschluss zu Veränderungen dieser bilanziellen Kennzahlen führen. Letzteres würde eine Verschlechterung des Ratings mit sich bringen. Zumindest für die quantitative Seite des Ratings wird sich der Zusammenhang zwischen Insolvenzgefahr und Bilanzkennzahlen nicht verändern. Deshalb besteht hier grundsätzlich kein Anpassungsbedarf.

Bei der Beurteilung von Management und Markt geht es darum, die Zukunftsaussichten eines Unternehmens mit einem ausgewählten Bewertungsansatz in das Rating zu integrieren. Die wirtschaftliche Entwicklung von Unternehmen ist von diversen Einflussfaktoren abhängig. Hierzu zählen zum Beispiel Geschäfte mit Russland, der Ukraine oder China, Abhängigkeiten von Öl oder Gas, die Bedeutung von Getreide und vieles mehr. Deshalb ist die Marktentwicklung vor dem Hintergrund geopolitischer Veränderungen zu untersuchen und in das Ratingsystem zu integrieren.

Auswahl der Steuerungsmaßnahmen immer schwieriger

In den bisher bekannten Ratingsystemen werden solchermaßen qualitative Faktoren nur geringfügig gewichtet. Ursache hierfür ist, dass die Integration einer Bewertung von Management und Markt zu wenig Einfluss auf eine Erhöhung der Trennschärfe von Ratingsystemen hatte. Dies gilt für bislang verwendete Historien. Da es für die Zukunft noch keine Historie geben kann, müssen vorerst im Rahmen subjektiver Bewertungen Prognosen zur unternehmerischen Abhängigkeit von geopolitischen Folgen erstellt werden. Aufgrund fehlender Daten werden sich solche Bewertungen erst in der Zukunft überprüfen lassen.

Ziel des Beitrags ist es, aus Sicht der Finanzwirtschaft die aktuellen Folgen des Ukraine-Krieges zu analysieren, hierauf aufbauend Zukunftsprognosen zu wagen und mögliche alternative Entwicklungspfade aufzuzeigen. Dazu wurden verschiedene Argumente, prinzipiell im Stil einer Ursache-Wirkung-Analyse, gegenübergestellt. Ein normative Beweisführung oder empirische Analyse waren nicht möglich. Insofern bleiben alle Argumente aufgrund ihrer Subjektivität angreifbar.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit Europas, insbesondere Deutschlands, von Russland, der Ukraine und China ist vermutlich nicht so hoch, dass europäische Länder, speziell deren Finanzinstitute, zusammenbrechen werden. Denn dafür ist das Exposure zu gering. Unzweifelhaft ist, dass sich die Komplexität weltwirtschaftlicher Beziehungen in den vergangenen Jahren dramatisch erhöht hat. Die Auswahl der richtigen Steuerungsmaßnahmen wird immer schwieriger.

Angesichts der gestiegenen Unsicherheit und der höheren Komplexität ist ein abschließendes Gesamturteil hinsichtlich der zukünftigen Entwicklungen nicht möglich. Deshalb bleibt die tendenziell banale Erkenntnis, dass alle Finanzinstitute mehr denn je den Markt permanent genauestens beobachten müssen, um so schnell wie möglich auf heute noch unbekannte, sich morgen jedoch ergebende Entwicklungen reagieren zu können. Eine Erhöhung der individuellen Resilienz jedes Finanzinstituts erweitert den Handlungsspielraum bei unvorhergesehenen Entwicklungen. Zudem besteht die Chance, als Finanzinstitut von bestimmten Marktänderungen profitieren zu können, zum Beispiel durch Fokussierung auf Finanzgeschäfte mit besonders nachhaltig agierenden Unternehmen oder durch Ausnutzung von Zinsveränderungen zur Verbesserung von Konditions- und Strukturbeiträgen.

Fußnoten

1) Vergleiche hierzu sowie zum Folgenden Stickling, H.-G./Bauer, E./Rotermann, B. (2022). Dieser Quelle wurden wesentliche Argumentationsketten des Beitrags entnommen.

2) Vergleiche Stickling, H.-G./Bauer, E./Rotermann, B. (2022)

3) Vergleiche Edward, F. R.: (1999)

4) Vergleiche Bruno, M./Sachs, J. D. (2013)

5) Vergleiche ebenda

6) Vergleiche ebenda

7) Vergleiche Stickling, H.-G./Bauer, E./Rotermann, B. (2022)

8) Vergleiche Bloomberg (2022b, 2022c und 2022d)

9) Vergleiche ebenda

10) Vergleiche Bloomberg (2022e)

11) Vergleiche Thomson (2022)

12) Vergleiche ebenda

13) Vergleiche Autonoumos Research (2022)

14) Vergleiche Stickling, H.-G./Bauer, E./Rotermann, B. (2022)

15) Vergleiche Ricardo, D. (1817)

16) Vergleiche IfW/Wifo (2022)

17) Vergleiche Stickling, H.-G./Bauer, E./Rotermann, B. (2022)

18) Vergleiche Europäische Zentralbank (2021)

19) Vergleiche Schierenbeck, H./Lister, M./Kirmße, S. (2014)

Ein Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag können Sie hier abrufen.

Prof. Dr. Michael Lister , Leiter , zeb.business school der Steinbeis Hochschule, Berlin
Heinz-Gerd Stickling , Partner und Head of , zeb.research, zeb.rsa GmbH, Münster

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