4 000 Jahre Derivate: so alt und doch so jung

Dirk Heß, Foto: Citigroup

Der Autor führt in dem Artikel durch die Geschichte von Derivaten. Ihr Urpsrung wird fast 4 000 Jahre zurück datiert ins alte Mesopotamien. Im Mittelalter entstanden dann die Vorläufer der Warentermingeschäfte. Damals dienten Derivate vor allem zur Absicherung von Handelslieferungen, doch schon unter den griechischen Philosophen gibt es erste Berichte über die spekulative Nutzung von Derivaten. Mit der Entstehung von Börsen entstand demnach auch der Finanzkapitalsimsus und die Nuztung von Derivaten, nur um auf künftige Kurse zu spekulieren. Erst 30 Jahre ist es laut Autor her, dass verbriefte Optionsscheine nach Deutschland kamen. Diese Papiere und Derivate generell sollen Anlegern vielfältige Möglichkeiten eröffnen, aber zum Teil auch komplexe Strukturen aufweisen. Der Autor sieht die Emittenten daher in der Pflicht, für ausreichende Aufklärung zu sorgen, auch mit dem Einsatz multimedialer Methoden. (Red.)

Derivate gibt es im Prinzip seit Menschen Handel betreiben. Im Laufe der Zeit entwickelten sich immer ausgeklügeltere Varianten. Heute sind derivative Finanzprodukte aus dem modernen Finanzwesen nicht mehr wegzudenken. Daraus erwächst auch Verantwortung.

Beim Thema Derivate kommt es leider immer wieder zu Missverständnissen. Etwa, dass sie nur für institutionelle Investoren geeignet sind. Dabei werden gegenwärtig in Deutschland fast 1,7 Millionen derivative Finanzprodukte1) gehandelt, die insbesondere auf den Bedarf privater Anleger ausgerichtet sind. Sie werden auch als "strukturierte Produkte" bezeichnet - dazu gehören neben einer Vielzahl unterschiedlicher Anlagezertifikate auch Optionsscheine und andere Hebelpapiere. Das zweite Missverständnis besteht in der Annahme, Derivate seien eine vergleichsweise junge Finanzinnovation. Auch das ist streng genommen nicht korrekt. Denn lange bevor die ersten Geldmünzen geprägt wurden oder die ersten Aktien in Umlauf kamen, kannten Menschen schon die Vorzüge von Derivategeschäften.

Die Wiege der Derivate

Die Geschichte der Derivate reicht fast 4 000 Jahre zurück bis ins alte Mesopotamien - dem legendären Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Dort erfanden kluge Geister nicht nur die künstliche Bewässerung, den Pflug oder das Rad. Auch die erste in Keilschrift niedergeschriebene Rechtsordnung - der Kodex Hammurabi - ist auf diese Zeit zurückzuführen. Und darin wird zum ersten Mal ein Derivat beschrieben. Diese Meinung vertritt Finanzwissenschaftler Professor Robert E. Whaley von der Vanderbilt University in Nashville, Tennesee. Er verweist auf das 48. Gesetz im Kodex Hammurabi. Dort heißt es im übertragenen Sinn: Ein Landwirt, der einen Kredit auf seinen Besitz aufgenommen hat, muss jährliche Zinszahlungen in Form von Getreide an den Gläubiger leisten. Bei einem Ernteausfall etwa durch Sturm oder Hochwasser hat dieser Landwirt jedoch das Recht, nichts zu zahlen. Der Gläubiger wiederum muss die Zinsen erlassen. Für Whaley - der übrigens auch den US-Volatilitätsindex VIX entwickelt hat - handelt es sich hierbei um eine Allor-Nothing-Put-Option. Denn erntet der Landwirt genug Getreide, um seine Zinsen zu zahlen, verfällt die Put-Option wertlos. Wenn seine Ernte jedoch nicht ausreicht, kann er von seinem Recht Gebrauch machen und von der Zahlung zurücktreten.2)

Antike Termingeschäfte

Zudem war es in der mesopotanischen Hochkultur üblich, Handelsvereinbarungen in Keilschrift festzuhalten. Aufzeichnungen über solche Verträge sind auf Tontafeln bis heute erhalten. Einige Vereinbarungen sahen vor, dass ein Verkäufer eine bestimmte Menge Getreide oder andere Waren zu einem vorab festgelegten Preis zu einem bestimmten Termin liefert.3) Heute würde man eine solche Vereinbarung als Forward bezeichnen. Auch von den Römern ist bekannt, dass sie Forward-ähnliche Terminverträge abgeschlossen haben. Damit sollte die Versorgung der rasch wachsenden Tibermetropole sichergestellt werden. Allerdings wurde im frühen römischen Recht die Übertragbarkeit der Rechte und Pflichten solcher Verträge nicht anerkannt.4)

Im Mittelalter erlebten Handel und Warenverkehr eine bis dahin nie gekannte Blüte. Damals entstand in italienischen Stadtstaaten wie Venedig, Genua oder Florenz der sogenannte "Kaufmannskapitalismus". Um große Geschäfte finanzieren zu können und Risiken zu minimieren, schlossen sich ab dem 11. Jahrhundert italienische Kaufleute zu Kommendas zusammen. Das waren kommerzielle Seehandelsgesellschaften, bei denen ein Partner - der Kommendant - das Kapital aufbrachte und der andere - der Kommendatar - im eigenen Namen, aber auf Rechnung des Kapitalgebers den Verkauf der Ware abwickelte.

Zur Teilung des Risikos und zur Auslastung des Schiffs konnte ein Kommendatar Verträge mit mehreren Kommandanten abschließen. Solche Kontrakte stellen nach Ansicht von Historikern im Prinzip Warentermingeschäfte dar. Zudem gaben die italienischen Handelsmetropolen ab dem 13. Jahrhundert zur Finanzierung ihres Kapitalbedarfs Schuldverschreibungen aus, die durch die zukünftigen Staatseinnahmen gedeckt waren. Diese als "Monti-Aktien" bezeichneten Wertpapiere waren fungibel und gelten ebenfalls als Meilenstein in der Entwicklung der Terminmärkte.5)

Diese Beispiele zeigen, dass Derivate ursprünglich entwickelt wurden, um die Versorgung mit Waren sicherzustellen, den Handel zu erleichtern sowie um sich gegen bestimmte Risiken abzusichern. Hedging ist auch heute noch ein wichtiges Motiv für den Einsatz von Derivaten. Airlines wie die Deutsche Lufthansa sichern sich zum Beispiel mit Terminkontrakten gegen steigende Kerosin preise ab. Goldminenbetreiber verkaufen zum Zwecke der Planungs- und Preissicherheit Teile ihrer Produktion auf Termin. Exporteure erwerben Devisenterminkontrakte, um etwaige Wechselkursrisiken in ihren Bilanzen zu neutralisieren.

Die Philosopie des Geldes

Dass Derivate seit frühester Zeit aber auch schon zu spekulativen Zwecken eingesetzt wurden, zeigt eine unterhaltsame Anekdote, die der griechische Universalgelehrte Aristoteles in seiner staatspolitischen Abhandlung "Politik" zu Papier gebracht hat. Darin berichtet er über Thales von Milet, einen anderen bedeutenden griechischen Philosophen und Mathematiker, den wir bis heute für seinen Thaleskreis kennen.

Aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse, so Aristoteles, habe Thales bereits im Winter eine überdurchschnittlich üppige Olivenernte für den kommenden Herbst vorausgesagt. Frühzeitig habe er daher mit allen Besitzern von Olivenpressen in der Region das Recht, aber nicht die Verpflichtung ausgehandelt, die Pressen zur Erntezeit gegen eine vergleichsweise geringe Gebühr nutzen zu dürfen. Als die Olivenernte, wie von Thales vorhergesagt, tatsächlich alle Erwartungen übertraf, habe er das Nutzungsrecht mit einem deutlichen Aufschlag weiterverkauft und viel Geld damit verdient.6)

Mit der Geschichte wollte Aristoteles eigentlich zeigen, wie einfach es für Philosophen ist, reich zu werden, wenn sie es nur wollen. Gleichzeitig hat er aber auch ein Finanzinstrument beschrieben, das für Professor Whaley eine Call-Option darstellt.7)

Der Finanzkapitalismus entsteht

Mit der Eröffnung der ersten Börsen im 16. Jahrhundert - zuerst in Antwerpen, dann in London und Amsterdam - sowie der Gründung von Aktiengesellschaften entwickelte sich der Kaufmannskapitalismus, bei dem die Absicherung im Fokus steht, allmählich auch zum neuzeitlichen Finanzkapitalismus, bei dem auch die Partizipation an der Entwicklung von Kursen und Preisen eine zentrale Rolle spielt.8) So wurden an der 1531 gegründeten Börse in Antwerpen nicht nur Wechsel gehandelt, sondern auch Optionen, die den Käufern die Möglichkeit boten, entweder die Lieferung der Waren zu den vereinbarten Konditionen anzunehmen oder gegen Zahlung einer Gebühr fallen zu lassen.

Das war eine wichtige Neuerung: Denn die Händler stellten fest, dass sie zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus den Termingeschäften nicht notwendigerweise den Basiswert liefern müssen. Es reichte aus, die Gegenpartei mit der Differenz zwischen dem Lieferpreis und dem Kassakurs zu entschädigen. Vereinfacht ausgedrückt, ließ sich auf diese Weise auf zukünftige Kurse setzen.9)

Vielfältige Einsatzmöglichkeiten

Ein weiterer Meilenstein waren die ersten Aktienderivate. Als Geburtsstunde der modernen börsengehandelten Aktie gilt das Jahr 1602. Damals gründeten holländische Kaufleute die Niederländische Ostindien-Kompanie. Zu deren Finanzierung gaben sie Aktien aus. Neu daran war, dass diese Anteilsscheine gehandelt werden konnten. Ebenfalls ein Novum: Die Emission der Aktien erfolgte nicht nur gegen Cash, sondern auch auf Termin. An der Börse in Amsterdam entstand daraufhin ein eifriger, jedoch unregulierter Handel mit diesen Bezugsrechten.10) Als erste Terminbörse im engeren Sinn gilt allerdings die 1848 gegründete Chicago Board of Trade (CBOT). Im engeren Sinn deshalb, weil dort erstmals standardisierte Terminkontrakte gehandelt wurden. Als Teil der CME Group existiert der Urvater aller modernen Terminbörsen bis heute fort.

Es liegt in der Natur von Märkten, dass sie gelegentlich zu Übertreibungen neigen. Derivatemärkte stellen hier keine Ausnahme dar. Als eine der berühmtesten Spekulationsblasen ging zum Beispiel die Tulpenmanie im goldenden Zeitalter der Niederlande in die Finanzgeschichte ein. Trotz solcher Exzesse, wäre das heutige Anlageuniversum ohne Derivate ein völlig anderes. Die Motive für deren Einsatz können ganz unterschiedlicher Natur sein. Die einen suchen nach erhöhten Gewinnchancen. Für andere steht die Absicherung, also das Hedging, im Vordergrund. Wieder andere wollen über Shortkontrakte von fallenden Kursen proftieren. Zudem ermöglichen Derivate intelligente Anlagestrategien, wie etwa das Erzeugen von Zusatzerträgen beispielsweise durch Covered Call Writing. Und ebenfalls nicht zu vergessen: Erst durch derivative Finanzinstrumente werden Investitionen in ansonsten nur schwer zugänglichen Anlageklassen wie Rohstoffe möglich. Sie tragen auf diese Weise auch zum Diversifikationsnutzen bei.

Jubiläum: 30 Jahre Optionsscheine

Mit ihrer 4 000 Jahre alten Geschichte blicken Derivate auf eine lange Tradition zurück. Gleichwohl war und ist die Entwicklung von zahlreichen Innovationen geprägt. Damals, im Jahr 1989, kamen in Deutschland die ersten von Banken emittierten Optionsscheine auf den Markt. Im Gegensatz zu Optionen werden Optionsscheine nicht an Terminbörsen gehandelt, sondern von den ausgebenden Banken als verbriefte Wertpapiere für Privatanleger angeboten. Das allererste Papier war ein von der Citi emittierter Call-Optionsschein auf den USD/DM-Wechselkurs. In den Folgejahren erweiterte sich das Angebot um weitere Arten strukturierter Finanzprodukte. Bekannte Beispiele sind Turbo-Optionsscheine, Discount-, Express- oder Bonus-Zertifikate.

Emittenten stehen in der Pflicht

Die Vielfalt an derivativen Anlage- und Hebelprodukten eröffnet Privatanlegern breit gefächerte Möglichkeiten. Doch aus dieser Freiheit erwächst auch Verantwortung. Derivate beziehungsweise strukturierte Finanzprodukte sind mitunter komplex. Emittenten sollten sich daher nicht mit der Rolle des "Strukturierers" zufrieden geben, sondern auch als "Aufklärer" tätig sein. Nur wer die Chancen und Risiken dieser Anlagen begreift, kann deren Vorzüge gezielt nutzen. Wie die Praxis zeigt, sind sich die meisten der in Deutschland agierenden Produktanbieter dieser Verantwortung durchaus bewusst. Der Wissenstransfer erfolgt dabei nicht nur über klassische Kanäle wie Broschüren und Kundenmagazine, sondern in zunehmendem Maße auch über die digitalen Medien.

Auch bieten einige Emittenten heute Blogs, auf denen laufend Informationen zu Produkten, Märkten und Hintergründen veröffentlicht werden. So sind Derivate letztendlich auch medial in der Neuzeit angekommen: Während die erste Erwähnung noch auf einer Keilschrifttafel stattfand, bilden heute digitale und interaktive Medien die Basis für Dokumentation, Information sowie auch den Derivatehandel.

Fußnoten

1) Deutscher Derivate Verband (DDV), Monatsstatistik März 2019

2) Robert E. Whaley, Derivatives: Markets, Valuation, and Risk Management, Oktober 2006, Seite 11, Link: http://bit.ly/2L4MyKB

3) Edward J. Swan, Building the Global Market: A 4000 Year History of Derivatives, 2000, Seiten 27-50 und 278-284

4) Ernst Juerg Weber, A Short History of Derivative Security Markets, Business School University of Western Australia, Juni 2008, Seite 9

5) Steve Kummer, Christian Pauletto, The History of Derivatives: A Few Milestones, EFTA Seminar on Regulation of Derivatives Markets, Zurich, Mai 2012

6) Aristoteles, Politik, 350 vor Christus, Übersetzung von Benjamin Jowett; Link: http://classics.mit.edu/ Aristotle/politics.html

7) siehe Fußnote 2

8) Geo Epoche, Der Kapitalismus, Ausgabe 69, Oktober 2014, Seite 162

9) siehe Fußnote 5

10) siehe Fußnote 5

Dirk Heß Co-Head EMEA Public Listed Products Sales & Distribution, Citigroup Global Markets Europe AG, Frankfurt am Main
Dirk Heß , Co-Head EMEA Public Listed Products Sales & Distribution, Citigroup Global Markets Europe AG, Frankfurt am Main

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