Während die Bremseffekte der Pandemiemaßnahmen in Deutschland nachlassen und sich die kontaktintensiven Dienstleistungen erholen, verlängert der russische Angriffskrieg die globalen Materialengpässe, treibt die Energiekosten in die Höhe und belastet die private Kaufkraft. Zusätzlich stressen die Auswirkungen der No-Covid-Politik Chinas mit dem strikten Lockdown im weltweit wichtigen Wirtschaftszentrum Schanghai die ohnehin gestörten globalen Lieferketten. Vor diesem Hintergrund wuchs das deutsche preis-, saison- und kalenderbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2022 immerhin noch um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Auch in den kommenden Quartalen werden diese Entwicklungen das Wirtschaftswachstum hierzulande hemmen. Die Konsumerholung im Sommerhalbjahr dürfte folglich relativ schwach ausfallen, im Winterhalbjahr wird die Wirtschaft nahezu stagnieren. KfW Research senkt seine Realwachstumsprognose für Deutschland deshalb auf 1,6 Prozent (Vorprognose, erstellt kurz vor Kriegsausbruch: +3,2 Prozent). 2023 dürfte die deutsche Wirtschaft sogar nur um 1,2 Prozent zulegen (Vorprognose: +2,9 Prozent), wobei der ungünstige Start in das Jahr die Wachstumsrate spürbar nach unten drückt. In der neuen Prognose unterstellt sind anhaltend hohe Energiepreise, aber kein Gasembargo.
Bei der monatlichen deutschen Inflationsrate dürfte im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 2022 ein Abwärtstrend einsetzen, solange die Energiepreise zumindest stagnieren. Im Jahresdurchschnitt 2022 dürfte sich die Inflationsrate gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex bei 6,3 Prozent einpendeln. Die anhaltende Überwälzung der höheren Produktionskosten auf die Verbraucherpreise und ein Anstieg der Löhne unter anderem aufgrund einer deutlichen Anhebung des Mindestlohns im Oktober 2022 dürften die Inflation auch 2023 mit 3,0 Prozent noch deutlich über der geldpolitischen Zielmarke von durchschnittlich 2 Prozent halten.
"Der ehemals erhoffte kräftige Aufschwung erstickt im Würgegriff des Krieges. Mit einer durchgreifenden konjunkturellen Belebung ist, anders als vor dem russischen Angriff auf die Ukraine erwartet, erst wieder zu rechnen, wenn die hemmenden Faktoren nachlassen", sagt Dr. Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW. "Wegen des Krieges werden die Energiepreise längerfristig hoch sein und so die Kaufkraft belasten. Außerdem kann es wegen Chinas strikter Lockdowns selbst bei kleinen Corona-Ausbrüchen immer wieder zu zusätzlichen Störungen in den globalen Lieferkette kommen. Für den Rest des Jahres erwarte ich deshalb nur moderat positive Quartalswachstumsraten in Deutschland, auch stagflationäre Tendenzen sind durchaus möglich."
Auf die Konjunktur in der Eurozone insgesamt wirken dieselben maßgeblichen Kräfte ein wie in Deutschland: der Krieg in der Ukraine, die Materialengpässe, der Energiepreisanstieg und die Corona-Pandemie. Unterschiede in den Wachstumsprofilen der Euroländer zueinander wie im Vergleich zu der Eurozone als Ganze sind im Wesentlichen die Folge zeitlicher Verschiebungen im Verlauf der einzelnen Corona-Wellen einschließlich der damit einher gehenden gesundheitspolitisch motivierten Interventionen im Zusammenspiel mit der Wirtschaftsstruktur der Länder. In den anderen drei großen Euroländern Italien, Frankreich und Spanien war das Bruttoinlandsprodukt 2020 nach Ausbruch der Corona-Pandemie und den daraufhin verfügten strikten Lockdowns viel stärker eingebrochen als in Deutschland, wo der hohe Industrieanteil zunächst stabilisierte. Entsprechend höher war dort nach Rücknahme der Corona-Maßnahmen die Aufholbewegung im Jahr 2021, sodass die Eurozone mit erheblich mehr Schwung in das Jahr 2022 starten konnte als Deutschland. Unterm Strich ist für die Eurozone daher wie schon 2021 für das laufende Jahr nochmals ein merklich höheres Realwachstum von 2,5 Prozent zu erwarten (Vorprognose: +3,6 Prozent). Im Jahr 2023 wird sich das Realwachstum dem deutschen aber wieder stark annähern und dürfte bei 1,3 Prozent liegen (Vorprognose: +2,7 Prozent). Für die jahresdurchschnittliche europäische Verbraucherpreisinflation sind die Erwartungen mit 6,4 Prozent für 2022 und 3,1 Prozent für 2023 nur unwesentlich höher als in Deutschland.
Angesichts der kaum antizipierbaren weiteren Entwicklung des Ukraine-Krieges sowie der daraufhin noch ergriffenen Sanktionen ist das Prognoserisiko gegenwärtig weit über das übliche Maß hinaus erhöht. Zudem schwelt die Corona-Pandemie weiter und könnte direkt, etwa falls wegen einer neuen Virusvariante wieder wirtschaftlich relevante Einschränkungen notwendig würden, oder auch indirekt, wie der strenge Lockdown in Schanghai aktuell illustriert, Auswirkungen auf die Konjunktur in Deutschland und der Eurozone haben. Neben der offensichtlichen Verschärfung der Lieferkettenprobleme könnten immer wiederkehrende oder flächendeckende Lockdowns in China auch einen globalen Nachfrageeinbruch auslösen. Letzterer droht ebenfalls, falls die Zentralbanken beim Kampf gegen die Inflation übersteuern oder die gegenwärtig sehr hohen Inflationsraten sogar nur über eine geldpolitisch induzierte Rezession gesenkt werden können. Besonders akut ist außerdem das Szenario eines Lieferstopps von russischem Gas. Neben einem zusätzlichen Anstieg der Inflation durch noch höhere Energiepreise wäre in diesem Fall auch ein gewisser Rationierungsbedarf zu erwarten, der gemäß der aktuellen Gesetzeslage vor allem das Verarbeitende Gewerbe betreffen würde.
Aber auch positive Überraschungen sind möglich, die für mehr Wachstum sorgen als vorhergesagt, insbesondere im kommenden Jahr. So könnte die Substitution russischer Energie und Rohstoffe reibungsloser gelingen als gegenwärtig erwartet, etwa weil rasch neue Lieferquellen erschlossen werden oder die Transformation hin zu Erneuerbaren Energien substanziell beschleunigt wird. Eine allseits akzeptierte Friedenslösung für die Ukraine würde die kriegsbedingten Unwägbarkeiten schlagartig eliminieren, den Unternehmen wieder deutlich mehr Vertrauen in die Zukunft geben, den Wiederaufbau anstoßen und könnte so vor allem über den Investitionskanal der Konjunktur gerade in Europa neue Impulse geben.