Aufsätze

Wertpapierhandel: Forderung nach einem verlässlichen Rahmen für Marktpreisermittlungen

Die freie Bildung von Marktpreisen ist eine der Grundlagen der Wirtschaftsordnung. Zum Teil wird sie staatlicherseits ganz erheblich eingeschränkt. Prominent sind die Beispiele zur Steuerung des Außenhandels in Form von Interventionen am Devisenmarkt oder die Reaktionen auf gemeinnützige Herausforderungen wie beispielsweise der Verfügbarkeit von Nahrung oder Wohnraum. Auf das gesamte Wirtschaftsvolumen bezogen handelt es sich allerdings bei solchen Eingriffen eher um Randerscheinungen. In freiheitlich orientierten sozialen Marktwirtschaften ist weithin anerkannt, dass Angebot und Nachfrage die Grundlage für die Ermittlung von Marktpreisen bilden. Die wirtschaftlich Handelnden entscheiden selbst, wie viel sie bereit sind für welche Mengen zu zahlen. Ob dabei ein ermittelter Preis wirklich den tatsächlichen Wert einer Ware oder Dienstleistung widerspiegelt, entscheiden allein die Marktteilnehmer untereinander. Der Staat enthält sich dabei. Oft übersehen wird allerdings die Frage, in welchem Maße sich der Staat in den Ablauf der Preisermittlung - also dem technischen Weg hin zu einem Preis - involvieren sollte?

Ordnungsgemäße Preisermittlung

Bei genauerer Betrachtung erscheint eine wirklich freie wirtschaftliche Disposition der Marktteilnehmer hinsichtlich Preis und Menge nämlich nur dann möglich, wenn der Staat einen verbindlichen ordnungsrechtlichen Rahmen setzt, auf welchem Weg Marktpreise zustande kommen dürfen. Bei Waren des täglichen Bedarfs mag dies noch als trivialer Vorgang, nämlich als schlichter Austausch von Bargeld gegen eine Ware, erscheinen. Beim Handel von Wertpapieren allerdings avanciert die Frage nach der ordnungspolitischen Festlegung der Wege hin zu einem Handelsgeschäft zu einer der derzeit drängendsten wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen. Denn hinter Wertpapieren stehen komplexe wirtschaftliche Sachverhalte. Die Märkte, auf denen sie gehandelt werden, sind für die Investoren meist nicht unmittelbar zugänglich und die dortigen Akteure nicht immer bekannt und schließlich die Handelsabläufe nicht sofort verständlich.

Gleichzeitig ist die verlässliche Ermittlung von Marktpreisen von enormer gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Das gesamte übrige Wirtschaftsleben knüpft vielfach an den sogenannten "Börsen- oder Marktpreis" an.1) Offensichtlich ist das bei der Bewertung von Unternehmen durch den Aktienkurs oder der Qualität als Kreditschuldner über den Anleihekurs. Das gleiche gilt für die aktuellen Konditionen zur Finanzierung der Aufnahme von Krediten durch Staaten, die derzeit die Schlagzeilen auf den Titelseiten der Tageszeitungen bestimmen. Nicht zuletzt äußert sich die Bewertung des Vermögensbestandes jedes einzelnen Bürgers durch den Ausweis der Marktpreise auf dem Depotauszug.

Die fortlaufende und aktuelle Ermittlung des Börsen- und Marktpreises ist das beste für diese Zwecke bekannte Instrument. Kommt es allerdings zu Störungen in der Marktpreisermittlung, sei es durch Manipulation oder technische Störungen, hat dies sofort Auswirkungen, die weit über den Kreis der am Wertpapiergeschäft Beteiligten hinausgehen.2) Daher geht es bei der Frage nach den Grundsätzen einer der Wirtschaftsordnung angemessenen Preisermittlung nicht etwa um Partikularinteressen einer kleinen Wirtschaftselite, sondern um eine fundamentale, gesamtgesellschaftliche Grundsatzfrage. Der Staat ist aufgerufen, eine angemessene regulatorische Antwort auf die Frage zu geben: Wem soll unter welchen Rahmenbedingungen die Aufgabe der Marktpreisermittlung für Wertpapiere überantwortet werden?

Preisfeststellung vor Deregulierung

In der Vergangenheit war es der Staat selbst, der das vitale Interesse an einer ordnungsgemäßen Marktpreisermittlung als so wichtig für die gesamte Wirtschaftsordnung erkannte, dass er vorschrieb, die für die Preisermittlung zuständigen Märkte halbstaatlich zu organisieren.3) Seit über 100 Jahren sind die deutschen Börsen daher bis heute öffentlichrechtliche Anstalten und handeln, wenn sie ihren Markt organisieren, deshalb als staatliche Behörden.4) Gleichzeitig mussten Aufträge derjenigen, die sich am wenigsten mit der Preisermittlung auskannten - etwa die privaten Investoren -, an den Börsen ausgeführt werden, weil sie hier den größten Schutz genossen.5) Dabei wurde staatlicherseits ein klares Bild gezeichnet, was die Rahmenbedingungen für die Bereitstellung eines Preisermittlungsvorgangs sein sollen, dem dann in der Folge gesamtwirtschaftlich die beschriebene hohe Bedeutung zukommen darf.

Zunächst ist von ganz besonderer Bedeutung, dass der Preisfeststellungsmechanismus eines regulierten Marktes für alle Marktteilnehmer gleichberechtigt zugänglich ist und dass diese gleichberechtigt behandelt werden.6) Gleich zeitig handelt es sich bei regulierten Märkten um einen besonders geschützten Raum, indem anspruchsvolle Zulassungsverfahren die Professionalität, Zuverlässigkeit und Bonität der Handelsteilnehmer sicherstellen.7) Ebenso bestehen anspruchsvolle Zulassungsregeln für die Handelsgegenstände.8) Die Ermittlung des Marktpreises selbst hat transparent und damit für die Teilnehmer nachvollziehbar zu erfolgen. Daher haben Börsen vollständige und detaillierte Regelungen, die ihre neutrale Stellung zwischen den Handelspartnern beim Zustandekommen wie auch bei der Korrektur der Preisermittlung zum Ausdruck bringen.

Auch der technische Vorgang der Marktpreisermittlung selbst hat öffentlich zu erfolgen. Die An- und Verkaufskurse, genauso wie die zustande gekommenen Kurse, müssen stets sichtbar sein.9) Der gesamte Börsenhandel ist sodann von einer unabhängigen Handelsüberwachungsstelle lückenlos zu kontrollieren.10) All das wird schließlich umschlossen von der Verpflichtung, den anspruchsvollen Rahmen für eine qualitativ hochwertige Preisermittlungsfunktion für den Markt auch tatsächlich dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Börsen sind daher entsprechend der ihnen auferlegten Betriebspflicht nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, den Betrieb aufrechtzuerhalten.11)

Fehlentwicklungen

Im Zuge der Deregulierung wurden diese den gesamten Markt stabilisierenden Funktionen des Börsenhandels zunehmend zurückgedrängt. Faktisch wurde die Grundidee einer für den gesamten Wertpapierhandel zentralen und hochregulierten und vor allem durch ihre Neutralität für alle Marktteilnehmer ohne Weiteres verlässlichen Preisermittlungsstelle weitgehend aufgegeben.12) Neben den Börsen und ihren hochentwickelten und hochregulierten Preisermittlungsverfahren ist eine Vielzahl von wenig regulierten außerbörslichen Handelssystemen entstanden. Auf diese Systeme hat sich ein Großteil des Handels verlagert. Gleichzeitig hat die staatliche Deregulierung die neuen Plattformen von den bis dahin anerkannten Rahmenbedingungen zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Preisfeststellung freigestellt.

Ein Anspruch auf Teilnahme am Handel besteht auf außerbörslichen Handelssystemen nicht. Ganz ausdrücklich soll sogar eine diskriminierende Auswahl der Teilnehmer auf einem Teil der Systeme gestattet werden.13) Aufwendige Verfahren für die Zulassung der Handelsgegenstände existieren nicht. Die Transparenz der Marktpreisermittlung ist eingeschränkt bis hin zur Gestattung, die Preisermittlung ohne vorherige Bekanntgabe der An- und Verkaufsgebote durchführen zu dürfen. Die Neutralität der Preisermittlung ist nicht gegeben, da die Handelspartner entweder Eigentümer der Handelsplattform sind oder direkt als Gegenpartei des Handelsgeschäfts fungieren. Geschäftskorrekturen erfolgen daher nicht neutral im Sinne der Anleger oder dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Gesamtmarktes. Für diese Zwecke fehlt es im außerbörslichen Handel im Übrigen bereits generell an einer unabhängigen Handelsüberwachung. Schließlich können die Betreiber außerbörslicher Handelsplattformen ihr Geschäft beliebig einstellen, eine Pflicht, die Handelsplattform dem Markt auch tatsächlich zur Verfügung stellen zu müssen, gibt es nicht.

Im Ergebnis handelt es sich bei diesen derzeit akzeptierten Handelsabläufen um ein für das Allgemeinwohl extrem risikoreiches Handelsgeschehen. Es ist eine frappierende Diskrepanz entstanden zwischen einerseits dem, was wirtschaftlich von Marktpreisen erwartet wird, und andererseits der Beliebigkeit ihres Zustandekommens.

Aktuelle Ansätze verfehlen das Ziel

Seit Ausbruch der Finanz- und Staatsschuldenkrise gibt es vielfache regulatorische Bemühungen zur Wiederherstellung geordneter Marktverhältnisse und eines ausreichenden Anlegerschutzes und noch mehr politische Absichtsbekenntnisse.14) Die Wirksamkeit der Maßnahmen ist fraglich. Denn anstatt generell den hochregulierten Wertpapierhandel an regulierten Märkten zur Ausgangsbasis aller Regulierungsmaßnahmen zu machen, wird versucht, erkannte Probleme lediglich punktuell einer Regulierung zuzuführen.15) Am Beispiel der Marktpreisermittlung bedeutet dies, dass einzelne Transparenzvorschriften für den außerbörslichen Handel nachgebessert werden.16) Gleichzeitig - und hier liegt die grundsätzliche Schwäche dieses Vorgehens - bleiben alle anderen beschriebenen Rahmenbedingungen einer verlässlichen Marktpreisermittlung unangetastet. Im Überblick ergibt sich daher das in der Tabelle dargestellte aktuelle Bild.

Die derzeitige Regulierung der Rahmenbedingungen für die Marktpreisermittlung bleibt damit außerordentlich defizitär. Gleichzeitig schreitet die Verlagerung der Wertpapierhandelsumsätze heraus aus dem Bereich der regulierten Märkte mit ihrer anlegerschützenden Marktordnung weiter voran. Ausgehend von der Tatsache, dass die De-Regulierung des Wertpapierhandels in den letzten zehn Jahren umfassend war, müssen es die Maßnahmen zur Re-Regulierung ebenso sein.

Finanztransaktionssteuer

Im Zentrum der Überlegungen haben Maßnahmen zur Zurückführung der Wertpapierhandelsumsätze in den Bereich der regulierten Märkte zu stehen. Für einzelne institutionelle Handelsteilnehmer mag es aufgrund berechtigter Interessen einzelne Ausnahmen geben. Sie sind allerdings auch in der Lage, ihre Interessen selbst zu schützen. Fundamental anders sieht dies für Privatanleger aus. Sie sind diejenigen Marktteilnehmer mit der größten Schutzbedürftigkeit. Zur Ausführung ihrer Aufträge ausschließlich an regulierten Märkten besteht derzeit keine vernünftige Alternative.

Die Diskussion um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer bietet einen sehr konkreten Ansatzpunkt, einen positiven Beitrag zur Wiederherstellung und Absicherung einer ordnungsgemäßen Marktpreisermittlung zu erbringen. Notwendig ist schlicht der ordnungspolitische Wille, die Steuer für den Handel außerhalb der regulierten Märkte wesentlich höher anzusetzen.

Fußnoten

1) Allein das Bürgerliche Gesetzbuch und das Handelsgesetzbuch knüpfen vielfach an den Börsen- oder Marktpreis an, vgl. §§ 385, 1221, 1235 Abs. 2, 1259, 1279, 1295 BGB und §§ 253 Abs. 4, 284 Abs. 2 Nr. 4, 373 Abs. 2, 376 Abs. 2 und 3, 400 Abs. 1, 2 und 5 HGB.

2) Etwa die Libor-Affäre: Mehreren Großbanken wird vorgeworfen, in der Zeit von 2005 bis 2009 den Libor und den Euribor, zwei der wichtigsten Referenzzinsen der Welt, manipuliert zu haben, vgl. Das große Zins-Komplott, in: Euro am Sonntag (2012), Ausgabe 27/12, abrufbar unter: http://www.finanzen.net/eurams/bericht/Manipulation-Dasgrosse-Zins-Komplott-1942398 [zuletzt abgerufen am 14.11.2012], oder das Versagen des US-Marktes für Kreditausfallversicherungen, die für die Finanzkrise 2008 maßgeblich verantwortlich waren.

3) Vgl. Bericht der Börsen-Enquête-Kommission (Berlin 1892/98), S. 282ff.

4) Vgl. Legaldefinition gemäß § 2 Abs. 1 BörsG.

5) Siehe § 22 Abs. 1 S. 1 BörsG a.F.

6) Dies folgt bereits aus der Rechtsnatur der regulierten Märkte als öffentlichrechtliche Anstalten und der daraus resultierenden unmittelbaren Bindung an das Grundrecht aus Art. 3 Grundgesetz.

7) Siehe § 19 BörsG, §§ 11 ff. Börsenordnung der Baden-Württembergischen Wertpapierbörse.

8) Siehe § 32 BörsG i.V.m. der BörsZulVO, §§ 18 ff. Börsenordnung der Baden-Württembergischen Wertpapierbörse.

9) Vgl. §§ 30, 31 BörsG.

10) Vgl. § 7 Abs. 1 S. 1 BörsG.

11) Vgl. § 5 Abs. 1 S. 1 BörsG.

12) Den Beginn machte das Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland vom 21. Juni 2002 (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz, BGBl. I 2002 S. 2010) mit der Legitimierung von "Elektronischen Handelssystemen" und "Börsenähnlichen Einrichtungen", siehe §§ 58 ff. BörsG a.F.; Durch das Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (Abk. MiFID) und der Durchführungsrichtlinie der EU-Kommission vom 19. Juli 2007 (Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz - FRUG, BGBl. I 2007 S. 1330) wurde schließlich das derzeitige Betriebsrecht für Wertpapierhandelssysteme bestehend aus regulierten Märkten, multilateralen Handelssystemen, systematischen Internalisierern sowie OTC-Handel etabliert. Eine Pflicht, Aufträge von Privatanlegern ohne anderslautende Weisung nur an regulierten Märkten auszuführen, besteht seitdem ebenfalls nicht mehr. Im Rahmen der Überarbeitung der MiFID wird derzeit eine weitere Kategorie, die "Organisierten Handelssysteme" (Organised Trading Facilities, OTF) diskutiert, vgl. insbesondere Art. 18, 19 des Vorschlags der EU-Kommission zur Überarbeitung der MiFID [KOM (2011) 656 endg.].

13) Vgl. Art. 20 i.V.m Art. 19 sowie Erwägungsgrund Nr. 12 des Vorschlags der EU-Kommission zur Überarbeitung der MiFID [KOM (2011) 656 endg.].

14) Vgl. Beschlüsse des G20-Gipfels von Pittsburgh im September 2009.

15) Beispiele sind die punktuellen Ansätze durch die EU-Leerverkaufsverordnung [VO (EU) Nr. 236/2012], den deutschen Entwurf zum Hochfrequenzhandelsgesetz sowie die nun angestrebte Einführung einer Finanztransaktionssteuer im Wege der sogenannten verstärkten Zusammenarbeit.

16) Entsprechende Verbesserungen sind in der MiFID-Überarbeitung geplant, vgl. Vorschlag der EU-Kommission zur Überarbeitung der MiFID [KOM (2011) 656 endg.] Art. 3, 5, 7, 9 (Vor- und Nachhandelstransparenzpflichten von RM, MTF und OTF für alle Finanzinstrumente) sowie Art. 13, 17, 19, 20 (Vor- und Nachhandelstransparenzpflichten von SI und OTC für alle Finanzinstrumente).

17) Vereinfachende Darstellung. Insbesondere die Umsätze variieren erheblich je nach geografischer Orientierung und Anlageklasse. So haben MTFs in Deutschland eher weniger Relevanz erlangt. Betrachtet man den gesamteuropäischen Markt spielen sie wiederum eine erhebliche Rolle beim Handel hochliquider Aktien. Für den Handel weniger liquider Aktien oder anderer Anlageklassen wie etwa Anleihen, Fonds oder Zertifikate spielen sie wiederum kaum eine Rolle. Die Darstellung zur OTF-Kategorie ist eine Prognose anhand des Standes der Diskussion zur MiFID-Review.

Christoph Boschan , Vorsitzender des Vorstands , Wiener Börse AG, Wien
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