Leitartikel

Teure Pflichten

Im Oktober 1957 startete die Sowjetunion den ersten "Sputnik" und leitete damit das Weltraum-Zeitalter ein. Sie gewann den Wettlauf gegen die USA, denen es erst einige Monate später gelang, einen eigenen Satelliten in den Weltraum zu schicken. "Wie war es möglich, dass die Russen die Amerikaner überholt haben?", wurde der Leiter der amerikanischen Raketenforschung damals gefragt. Seine Antwort: "Bei der Eroberung des Weltraums sind zwei Probleme zu lösen: die Schwerkraft und der Papierkrieg. Mit der Schwerkraft wären wirfertig geworden, mit dem Papierkrieg nicht."

Doch das gilt nicht nur für den Weltraum, sondern auch für ganz alltägliche Sphären. "Bürokratie gehört zu den größten Hemmnissen überhaupt für die Wirtschaft". Das sagt kein geringerer als der europäische Beauftragte für Bürokratieabbau, Edmund Stoiber. Dem würden wohl kein Politiker und erst recht kein Wirtschaftsführer widersprechen. Von daher war es nur konsequent, dass die europäische Kommission mit der "Hochrangigen Gruppe zum Bürokratieabbau" unter Leitung des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten eine Institution ins Leben rief, die bis Ende 2012 die Vorschriften durchforsten und Vorschläge zur Verringerung der durch europäische Vorschriften bedingten Verwaltungslasten für Unternehmen um 25 Prozent erarbeiten soll. Stand heute, so Stoiber in seinem Beitrag in diesem Heft, wurden über 300 Abbaumaßnahmen erarbeitet, die insgesamt ein Einsparvolumen von 30 Milliarden Euro zur Folge hätten. Nun sei es an den EU-Staaten, ihre Hausaufgaben zu machen.

Da ist man zumindest in Deutschland längst dabei, denn auch hierzulande hat man den überbordenden Bürokratieaufwand als Hindernis für eine prosperierende Konjunktur erkannt. Bereits 2005 beschloss die Große Koalition im Koalitionsvertrag die Errichtung eines Nationalen Normenkontrollrates, Mitte September 2006 schließlich nahmen die acht Mitglieder ihre Tätigkeit auf. Ziel: Ein Abbau der Bürokratiekosten bis 2011 um 25 Prozent oder rund acht Milliarden Euro. Bei allem Erfolg, den der Rat sicherlich in Sachen Transparenz der Belastungen erreichen konnte, ist dieses Ziel weit verfehlt worden. Bislang ist erst die Hälfte der versprochenen Entlastung bei den Unternehmen und Betrieben angekommen. Kein Wunder also, dass die führenden Wirtschaftsverbände nicht innehalten, weiteren Abbau anzumahnen und davor warnen, Erreichtes nicht durch neue, zusätzliche Regelungen zu konterkarieren. Diese Gefahr sehen Wirtschaftsvertreter beispielsweise beim Entwurf eines Arbeitnehmerdatenschutzgesetzes, der konträr zu aufsichtsrechtlichen Anforderungen in anderen Gesetzen, beispielsweise zur Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung, steht und damit zusätzliche Bürokratie bedeutet.

Von all den Entlastungen ist bei der Kreditwirtschaft bislang am wenigsten angekommen. Dem Bundesverband deutscher Banken zufolge musste die Branche Stand Mai 2005 rund 2100 Gesetze mit knapp 46000 Einzelvorschriften sowie 3140 Rechtsverordnungen mit fast 41000 Einzelvorschriften erfüllen. Die Kreditwirtschaft ist damit der mit Abstand am höchsten belastete Sektor der Wirtschaft, wie auch die nebenstehende Grafik verdeutlicht. Während der Nationale Normenkontrollrat per Ende 2009 von Kosten in Höhe von knapp

1,6 Milliarden Euro spricht, kommt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln aus dem Jahre 2005 auf Belastungen von rund 3,1 Milliarden Euro, was zu diesem Zeitpunkt 4,1 Prozent der Verwaltungskosten, 7,2Prozent des Personalaufwandes und 9,4 Prozent des Jahresüberschusses aller Banken in Deutschland entsprach. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich der Aufwand in den vergangenen Jahren so spürbar verringert hat, dürften die unterschiedlichen Angaben zum einen mit der Nichtberücksichtigung der Spezialbanken bei der Berechnung des Normenkontrollrates sowie den unterschiedlichen Berechnungsmethoden begründet sein, denn in der Bankenstudie wurde das vom Nationalen Normenkontrollrat zur Messung verwendete Standardkosten-Modell leicht modifiziert.

Auch künftig wird der Bürokratieabbau wohl eher ein Bürokratieaufbau für die Bankenbranche sein. "Wegen der Finanzkrise und der daraus resultierenden Erkenntnis, dass im Bereich Finanzdienstleistungen zum Schutz der Verbraucher mehr Regelungen nötig sind, hat die Gruppe sehr vorsichtige Empfehlungen gemacht", so Edmund Stoiber. MaRisk, MAH, MaComp, Bankenabgabe, Finanztransaktionssteuer, Fatca, Finrep, Corep, GWG, GwBekErgG, AnFuG, Zinsabschlag oder Kapitalertragssteuer sind nur einige der unter immer wilderen Namen auftauchenden Regulierungsversuche. Für die Banken und Sparkassen bedeutet das nur eines: Immer mehr Aufwand. Während bis 2008 bei einer kleinen Volksbank ein normaler Aktenordner ausreichte, die Handlungsanweisungen an das Institut abzulegen, füllen die Vorschriften inzwischen locker zwei Ordner.

Ganz grundsätzlich ist natürlich nichts dagegen zu sagen, dass sich die Bankenaufseher eine verbesserte Informationsbasis für ihre Beurteilungen beschaffen wollen und müssen. Und selbstverständlich ist die Branche selbst schuld, die viele Jahre zu sorglos gelebt, zu viele Freiheiten ausgenutzt, und damit den Gesetzgeber auf den Plan gerufen hat. Doch ob der vielfältige Bedarf an neuen Regelungen, der von höchst unterschiedlichen Stellen wie Berlin, Basel, Brüssel, London und sogar den USA kommt, am Ende Finanzsysteme wirklich sicherer macht, Banken zu besseren Banken werden lässt und dem Verbraucher mit wirklich wichtigen Informationen nutzt, ist höchst fraglich. Derzeit können viele der Meldungen gar nicht schnell genug von den Aufsichtsbehörden verarbeitet werden, und auch die Kunden fühlen sich mit bis zu 100 Seiten langen Dokumentationen eher überfordert denn aufgeklärt.

Kann die EBA (wenigstens) hier für Besserung sorgen? Immerhin hat sie neben der Aufsicht über die Bankensysteme auch den aktiven Verbraucherschutz ins Stammbuch, sprich in das Mandat geschrieben bekommen. In Artikel 9 der EBA-Regulation heißt es: "The Authority shall take a leading role in promoting transparency, simplicity and fairness in the market for consumer financial products or services across the internal market, including by: (a) collecting, analysing and reporting on consumer trends; (b) reviewing and coordinating financial literacy and education initiatives by the competent authorities; (c) developing training standards for the industry; and (d) contributing to the development of common disclosure rules. Wie soll eine Behörde, von der der eigene Chef sagt, dass sie über die Unterschiedlichkeit der Bankensysteme in Europa noch einiges lernen müsse, auch noch konkreten Verbraucherschutz leisten können?

"Der Erfolg ist national, der Misserfolg europäisch." Was der Präsident des EU-Parlaments jüngst feststellte, mag ja stimmen, hilft all den unter Bürokratiemonstern leidenden Banken aber nicht wirklich weiter in eine sorgenfreiere Zukunft. Die Austarierung der Vorschriften gerade für kleinere Institute aus den beiden Verbünden wird eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahre, sonst droht der Misserfolg der europäischen Regelungen durchaus auch national zu werden.

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