VIRTUELLE IMMOBILIENMÄRKTE

GEBÄUDE ALS MATERIALBANKEN: DIE BEDEUTUNG VON DATEN FÜR DIE CIRCULAR ECONOMY

Dr. Patrick Bergmann, Foto: Susan Braatz

Die Immobilie als Materialdepot - es ist eine neue und zugleich auch absolut sinnvolle-Vision für unsere bebaute Umwelt. Denn infolge der immer stärker in den Fokus rückenden Nachhaltigkeitsüberlegungen werden Gebäude wohl schon bald nicht mehr nur nach ihrem Energiebedarf in der Betriebsphase beurteilt, sondern auch der enorme Ressourcenaufwand in der Entstehungs- und Rückbauphase wird zu berücksichtigen sein. Bislang steckt das Recyceln von Baustoffen zwar noch in den Kinderschuhen, mithilfe eines aus den Niederlanden stammenden Plattformkonzepts soll sich das nun aber auch hierzulande ändern. Über die Details berichtet der Autor des vorliegenden Beitrags. Red.

Fall 1: Ein Gebäude soll abgerissen werden. Ein Abbruchunternehmen übernimmt den Auftrag inklusive Entsorgung des Bauschutts, darunter laut Angebot eine Tonne "Bauschutt als Gemisch oder getrennten Fraktionen von Beton, Ziegeln, Fliesen, Keramik, die gefährliche Stoffe enthalten". Doch aus der avisierten einen Tonne werden knapp 84 - weil ein großer Teil des Bauschutts mit Teer und Farbe verunreinigt ist und damit als Problemstoff entsorgt werden muss. Die Auseinandersetzung, wer die Mehrkosten zu tragen hat, landet schließlich sogar vor dem Bundesgerichtshof (BGH VII ZR 34/18, Urteil vom 8. August 2019).

Fall 2: Wieder soll ein Gebäude abgerissen werden, diesmal eine Montagehalle auf dem Gelände des Amsterdamer Flughafens Schiphol. Doch in diesem Fall ist bekannt, welche Materialien und Bauteile in dem Gebäude stecken. Die finanzielle Abschätzung zeigt: Hier sind echte Werte enthalten. Durch den Weiterverkauf der Baustoffe erzielt der Eigentümer selbst nach Abzug der Abrisskosten einen Gewinn.

Fall 3: 2019 bezieht die Triodos-Bank ihre neue Hauptgeschäftsstelle im niederländischen Driebergen-Rijsenburg nahe Utrecht. Der geschwungene Holzbau ist von vornherein so konzipiert, dass alle Bestandteile bei Bedarf wieder demontiert, verkauft und ohne Einschränkung wiederverwendet werden können. Gleichzeitig fließen von der Planungsphase an alle Informationen über die verwendeten Materialien in der Online-Plattform Madaster zusammen, über die das Gebäude einen detaillierten Materialpass bekommt. Weil auf der Plattform Preise relevanter Rohstoffbörsen und Materialmarktplätze hinterlegt sind, weiß die Triodos-Bank vom ersten Tag an, wie viel ihr neuer Bau wert ist. Der Wert fließt direkt in die Bilanzierung ein - das Gebäude ist zur Materialbank geworden.

Nicht nur eine Frage der Nachhaltigkeit

Die Beispiele zeigen anschaulich: Der Wert zirkulärer Konzepte für die Bau- und Immobilienwirtschaft liegt keineswegs nur auf ideeller Ebene. Er lässt sich auch in Euro und Cent bemessen. Dieser Effekt dürfte sich in Zukunft verstärken, wenn in die Nachhaltigkeitsbeurteilung von Gebäuden irgendwann nicht mehr nur die Verbräuche und Emissionen in der Betriebsphase einfließen, sondern auch Rohstoff- und Energieaufwand sowie Abfallaufkommen bei Bau und Rückbau. Von der EU wird diese Lebenszyklusbetrachtung schon länger gefordert.

Aus gutem Grund: Die Bau- und Immobilienbranche verbraucht weltweit rund 50 Prozent aller produzierten Rohstoffe und produziert 60 Prozent aller Abfälle. Allein in Deutschland fallen jährlich 231 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle an. Gleichzeitig werden immer mehr der benötigten Rohstoffe knapp. Die Nachfrage nach Sand führt dazu, dass mancherorts ganze Strände bei Nacht und Nebel abgebaggert werden. Die Holzpreise sind jüngst so gestiegen, dass teilweise Bauvorhaben gestoppt werden mussten, weil sie sich nicht mehr finanzieren ließen. Allein im Mai 2021 stieg der Preis für Konstruktionsvollholz gegenüber dem Vorjahresmonat um 83 Prozent.

Hohes Abfallaufkommen bei gleichzeitig enormem Materialverbrauch: Es liegt nahe, beide Probleme zusammen zu betrachten und zu lösen. Immerhin sind im deutschen Gebäudebestand 15 Milliarden Tonnen Materialien verbaut - ein gewaltiger Schatz an notwendigen Ressourcen. Durch Re- und Upcycling von Baustoffen ließen sich nicht nur Materialengpässe umgehen, sondern auch Energie und CO2-Emissionen einsparen.

Doch bisher stammen im Bauwesen nur magere 12 Prozent der Werkstoffe aus Recycling; der Anteil von direkt wiederverwendeten Bauteilen ist verschwindend gering. Was an Materialien aus Abbruch und Rückbau wiederverwendet wird, endet in der Regel als Auffüllmaterial im Straßen- und Tiefbau - klassisches Downcycling.

Ausgerechnet der ressourcenintensive Baubereich denkt also immer noch vor allem linear im Sinne von "take - make - waste" (entnehmen, verarbeiten, wegwerfen). Nötig wäre allerdings der Schritt hin zu einer Circular Economy. Zirkularität im Bau setzt voraus, dass die in den Gebäuden eingesetzten Materialien von vornherein so gestaltet sind, dass sie chemisch unbedenklich, sortenrein trennbar und vollständig recycelbar wären. Doch derzeit entspricht ein Großteil der Produkte noch nicht dieser Anforderung - und über allzu viele Materialien, die in Bestandsgebäuden verbaut sind, fehlen schlicht alle notwendigen Informationen.

Häufig zögern die Hersteller der Produkte, genaue Angaben zu ihren Materialien zu machen, um ihre Wettbewerbsvorteile nicht zu gefährden. Wo es Produktpässe bereits gibt, liegen sie in den unterschiedlichsten Formaten und Informationstiefen vor - und enden nur allzu häufig in den Unterlagen von Planungsbüros oder Bauverantwortlichen, um dort vergessen zu werden.

So bleibt im Fall eines Rückbaus häufig nur, den Großteil der Baustoffe als potenziell gesundheits- und/oder umweltschädlich zu behandeln und alles zu entsorgen. Materialien, die kostspielig und energieaufwendig hergestellt wurden, enden als Abfall, nur weil im Lauf ihrer Nutzung die Kenntnis ihrer genauen Beschaffenheit verloren ging.

Das digitale Materialkataster

Um die Circular Economy in der Bau- und Immobilienbranche voranzubringen, braucht es also vor allem Daten:

- Aus welchem Material besteht ein bestimmtes Produkt?- Wie viel davon ist im Gebäude verbaut?

- Wo ist es verbaut?

- Wie ist es mit anderen Produkten beziehungsweise Materialien verbaut?

All diese Informationen müssen gesammelt an einer Stelle zugänglich sein, und zwar für alle Beteiligten und über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes hinweg, unabhängig von Wechseln in den Eigentumsverhältnissen. Notwendig ist also ein digitales Materialkataster: So wie ein Kataster Auskunft gibt über Liegenschaften, gibt ein Materialkataster Auskunft über alle Materialien, die in einem Gebäude verbaut sind.

Ein solches digitales Materialkataster baut Madaster auf. Gegründet in den Niederlanden von dem Architekten Thomas Rau, verfolgt Madaster die Vision, aus Immobilien zukünftig Materialdepots zu machen: Alle Materialien und Bauteile können entnommen und an anderer Stelle wiederverwendet werden. In den Niederlanden wurden inzwischen Gebäude mit einer Gesamtfläche von rund 10 Millionen Quadratmeter in dem Materialkataster erfasst. Die Region Amsterdam erfasst mithilfe von Madaster nach und nach die dort verbauten Rohstoffe, um ihre Verwertung zu ermöglichen. In Deutschland nutzen das Materialkataster bereits Firmen wie Holcim, Saint-Gobain, Edge, Commerz Real und Vonovia.

Bei der Entwicklung der Plattform und der verschiedenen Anwendungen hat Madaster von Anfang an Unternehmen und Akteure aus allen relevanten Bereichen mit einbezogen. So entsteht eine Online-Plattform für Materialien, die an den Bedürfnissen aller Beteiligten orientiert ist: Architektur- und Planungsbüros, Hersteller von Baustoffen und Bauteilen, Bauverantwortliche und Investoren, Abriss- und Recyclingunternehmen.

Material mit Identität

Das Materialkataster von Madaster besteht aus einer Online-Cloud-Plattform. Hier registrieren Planungsbüros oder Bauverantwortliche Daten zum Gebäude; die Hersteller der einzelnen Komponenten und Produkte (beispielsweise Fenster, Armaturen oder Abwasserrohre) ergänzen die Daten dazu. Durch intelligente Verknüpfungen können viele Daten automatisiert übernommen werden. Dabei werden die verschiedenen Richtlinien (national und international) und Dokumentationsstandards für Materialien, Produkte und Gebäude gebündelt und Informationen beispielsweise zur Ökobilanz oder zu CO2-Daten, aber auch zum Wert der Materialien und zur Toxizität erfasst.

Nutzende der Plattform können sich die Informationen in verschiedenen Formaten ausgeben lassen:

- Ein Objektdossier sammelt alle Informationen zum Objekt. Zugriff darauf haben lediglich die Eigentümer des Gebäudes.

- Der Material-Passport dokumentiert, wie viel von welchen Materialien wo und wie verbaut ist.

- Ein Carbon Calculator erstellt den CO2-Rucksack für das Gebäude und bezieht dabei die Herstellung der Produkte und die Bauaktivitäten ebenso ein wie die CO2-Emissionen, die durch Instandhaltung und Rückbau entstehen.

- Der Zirkularitätsindex gibt an, wie viele Recyclingmaterialien in dem Gebäude stecken und wie viel davon rückgebaut, recycelt oder wiederverwendet werden kann.

- Für die finanzielle Bewertung sind alle Materialien mit Rohstoffbörsen verknüpft, sodass Gebäudeeigentümer sehen können, wie viel die Materialien bei einem Verkauf theoretisch wert wären. Dabei werden die Rohstoffwerte abzüglich der Deponie-, Rückbau-, Transport- und Aufbereitungskosten berücksichtigt.

Berücksichtigung in der Wertermittlung

Gerade die finanzielle Bewertung spielt eine wichtige Rolle für die Vision, alle Materialien im Bau künftig in geschlossenen Kreisläufen zu führen: Sie dient als Ansporn, bei zukünftigen Projekten den Anteil zu erhöhen, um finanziell zu profitieren. So werden Gebäude und Infrastrukturen zu echten Materialbanken, und der Wert ihrer Bauteile kann in die Bilanzierung nach HGB oder in die Wertermittlung der Immobilien eingehen.

Schon jetzt zeigen Leuchtturmprojekte, dass Zirkularität im Bauwesen durchaus möglich ist. Nötig sind der Wille, wirklich nachhaltige Bauwerke zu schaffen, und die Bereitschaft, sie in allen Einzelheiten digital zu dokumentieren - bis zur letzten Schraube.

DER AUTOR

DR. PATRICK BERGMANN Managing Director, Madaster Germany GmbH, Berlin

Patrick Bergmann , Managing Director , Madaster Germany GmbH, Berlin

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