Leitartikel

Watsche mit Wirkung

Worüber sind wir eigentlich überrascht? Seit nunmehr fünf Jahren lehrt die Finanzmarktkrise, dass vermeintlich als gesetzmäßig Angenommenes naiver Glaube ist und dazu oft ein irriger: Immobilienpreise steigen immer - von wegen. Schlechte Kredite werden gebündelt und neu tranchiert nur besser - das waren noch Zeiten! Banken können Risikomanagement - schön wär's. Ratingagenturen warnen vor Ausfallgefahren - vielleicht hinterher. Staatsanleihen sind risikolos - sicher? Zentralbanken können Märkte steuern und die EZB ist unabhängig - selten so gelacht! Manche dieser Märchen werden tatsächlich noch mit inbrünstiger Überzeugung erzählt und finden sogar in internationalen Richtlinien für die Finanzwirtschaft literarische Würdigung. Aber kann das erstaunen? Legenden können in unruhigen Zeiten Trost und Halt geben und sind doch gerade darum psychologisch so wichtig.

Wie niederträchtig ist es also, wenn Ratingagenturen - erst recht diese amerikanischen - es wagen, die Bestbonität der USA infrage zu stellen oder gar die Kreditwürdigkeit tatsächlich herabzustufen. Was für eine Demütigung, nachdem sich die größte Volkswirtschaft der Welt seit 70 Jahren mit dem Top-Rating schmücken durfte. Haben denn diese Analysten kein Gewissen, dass sie ihr Heimatland derart ver"raten"? Doch mitnichten kam dieAberkennung des "AAA" unerwartet. Schon Wochen zuvor hatten die Agenturen auf die Folgen hingewiesen, wenn Parlament und Regierung nicht die erwarteten Ergebnisse erzielen. Was in buchstäblich letzter Minute als Hilfskompromiss hingewurschtelt wurde, konnte nicht überzeugen. Standard & Poor's war also nur konsequent - und damit mutiger als andere.

Man mag argumentieren, dass Washington nun mal so funktioniere. Politische Entscheidungen wollen gut abgewogen werden und erfordern deshalb die intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen. Geschenkt. Doch was passiert, wenn die notwendige Diskussion kein Ergebnis, keine Einigung oder wenigstens Mehrheiten liefert? Dann ist Politik nicht handlungsfähig. Das muss mehr beunruhigen als die Zurücksetzung um einen Notch. Eine welt- und finanzwirtschaftliche Konstante wankt, doch mit "AA plus" wird den USA immer noch eine sehr gute Bonität bescheinigt. Daher ist das Entsetzen über den Liebesentzug der Ratingagenturen übertrieben. Dass auch die Anleger an dem Willen und der Fähigkeit zum Kapitaldienst der Vereinigten Staaten keine Zweifel hegen, zeigen die zunächst sinkenden Renditen für US-Treasuries. Dabei haben die abstürzenden Aktienkurse vielleicht sogar "geholfen", weil sie Investoren nach stabileren Anlagen Ausschau halten lassen.

US-Staatsanleihen gehören nun mal aufgrund ihres enormen Marktvolumens zu den liquidesten Anlagen auf dem Rentenmarkt. Das allein reichte bislang schon, um Nachfrage auf hohem Niveau sicherzustellen. Eine Alternative ist für die Anleger noch nicht in Sicht. Zudem werden sich China und Japan als die größten Gläubiger der USA davor hüten, ausgerechnet jetzt US-Treasuries in nennenswertem Umfang abzustoßen. Zu groß ist die Gefahr, dass damit eine Flucht aus amerikanischen Schuldverschreibungen ausgelöst wird, die unweigerlich deren Wert zerstört. Beide asiatischen Staaten können daran kein Interesse haben, umso verständlicher ist ihr Ärger, dass sie sich in diesem Spiel zu Geiseln machen ließen. Die Mahnungen aus Peking, die einzige Supermacht möge sich doch gefälligst in ihren Haushaltsausgaben disziplinieren, klingen markig, zeigen aber nur die Hilflosigkeit. Denn auch das Reich der Mitte weiß, dass sein Wohlstand vor allem deshalb wächst, weil es den USA das Geld leiht, mit dem chinesische Waren gekauft werden.

Aus genau dem gleichen Grund sollte sich insbesondere die Exportnation Deutschland jede Häme bezüglich des weltgrößten Schuldenmachers - aber auch Griechenlands oder anderer Euro-Schuldenstaaten - verkneifen. Denn die Schulden des einen sind die Guthaben des anderen. Wenn alle sparen, fehlt die Nachfrage und damit der Investitionsanreiz - also der wirtschaftliche Aufschwung, der Arbeitsplätze schafft und den Konsum anregt. Genau diese Angst vor einem Umschwung der Weltkonjunktur in eine globale Depression ließ die Aktienwerte rund um den Globus abschmieren. Die Märkte wollen - oh Wunder - partout nicht daran glauben, dass private Unternehmen aus bloßer Freude über staatliche Einsparungen die Produktion ausweiten, Arbeitsplätze schaffen und Löhne erhöhen. Dass staatliche Ausgaben ständig überprüft und solide gerechtfertigt sein müssen, steht außer Frage, aber dazu gehört eben auch, Steuergelder dorthin zu lenken, wo ihr öffentlicher Nutzen am größten und vor allem nachhaltig ist. Diese Aufgabe kann jedoch nicht mit der über Jahrzehnte gepflegten Klientelpolitik gelöst werden. Aber auch das überrascht nicht wirklich.

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