Leitartikel

Aufbau Ost versus Umbau West?

Wohl kein anderes Bauwerk hat die Deutschen bei seinem Abriss so emotional berührt wie die Mauer. Und sie tut es auch noch 20 Jahre nach ihrer physischen Demontage. Einige - in Ost und West - mögen sich den Grenzwall zurückwünschen, weil sich ihre Hoffnungen und Lebensplanungen mit der Einheit nicht erfüllt haben. Für andere aber ist ein geteiltes Deutschland heute schlichtweg kaum mehr vorstellbar. Dennoch gibt es die Teilung in den Köpfen nach wie vor. Wer die Grenzanlagen gesehen hat und heute von Bayern nach Sachsen oder von Thüringen nach Hessen mit dem Auto fährt, den müssen nicht braun-weiße Hinweisschilder an der Autobahn an die Teilung erinnern, denn die Bilder von den ehemaligen Kontrollstationen drängen sich von allein ins Gedächtnis, sobald man an Hof oder Eisenach vorbeigefahren ist. Und beschleicht einen nicht doch hin und wieder dieses Gefühl des Hüben und Drüben? 40 Jahre ins nationale Bewusstsein eingebrannte Teilung lässt sich eben auch in zwei geeinten Jahrzehnten nicht einfach nivellieren. Das geht dem Regierten nicht anders als den Regierenden.

Umso überraschender ist jedoch das Empören, als der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Peter Ramsauer, in einem Zeitungsinterview äußerte, dass die aus Solidarität mit den neuen Ländern vernachlässigte Verkehrsinfrastruktur im Westen jetzt dringender Investitionen bedürfe. Was ist so falsch daran? Die meisten Autofahrer aus dem Teil der Bundesrepublik, den man den "alten" nennt - Sprache prägt auch Emotionen -, dürften dieser Meinung heftig zugestimmt haben. Dass sich der CSU-Politiker "ohne Not" explizit auf Ostdeutschland bezieht, darf wohl auch als ein kleiner Seitenhieb auf seinen Amtskollegen aus dem Innenministerium, Thomas de Maizière, verstanden werden, der als "Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder" von Ramsauers Vorgänger Wolfgang Tiefensee die Fürsorge für Ostdeutschland übertragen bekam. Zuständigkeiten bedeuten jedoch stets auch Macht, und davon etwas abzugeben, gefällt kaum einem Politiker. Doch die neue Kompetenzkonstellation bietet nicht nur mediales Unterhaltungspotenzial, sondern hat durchaus ihr Gutes: Denn einem ostbeauftragten Verkehrsminister wäre es politisch wohl schwer möglich gewesen, seine Prioritäten auf den Straßen- und Schienenausbau West zu verlegen und damit an zwei Jahrzehnte alten Grundsätzen zu rütteln.

Obwohl Ramsauer die in den neuen Ländern noch ausstehenden Verkehrsprojekte ausdrücklich fortführen lassen will, wird dort schon um den infrastrukturellen Anschluss an den Westen gebangt. Noch größer ist jedoch die Entrüstung in den östlichen Bundesländern darüber, dass der Eindruck erweckt werde, ihre vermeintliche Gier nach Bundesmitteln hätte Schuld daran, dass die Schlaglöcher im Rest der Republik zunehmen und die Straßen dem Mobilitätsbedarf immer weniger gerecht werden. Tatsächlich hat das ostdeutsche Straßen-, Schienen- und Schifffahrtsnetz noch nicht die Ausbaustufe des Westens erreicht - was nicht immer bedauert werden muss. Aber es stimmt eben auch, dass die Verkehrsinfrastrukturen in den alten Ländern mittlerweile mehr politischer Aufmerksamkeit und öffentlicher Investitionen bedürfen. Schuldzuweisungen sind in diesem Zusammenhang jedoch unangebracht, weil nutzlos. Gleiches gilt für die Bedienung von Vorurteilen. Das Gras auf der anderen Seite des Zaunes wird ohnehin immer als grüner empfunden werden.

Aber Ramsauer ist nicht nur für die Verkehrsprojekte "Deutsche Einheit" zuständig, sondern ebenso für Bau und Stadtentwicklung. Folglich verunsichert die ministeriale Äußerung die neuen Länder und ihre Kommunen auch hinsichtlich der Zukunft des "Stadtumbaus Ost". Obwohl er sich gar nicht auf dieses Programm bezieht, schlägt er aus ostdeutscher Perspektive doch unfreiwillig oder absichtlich - in die gleiche Kerbe wie Innenminister Thomas de Maizière und dessen Staatssekretär Christoph Bergner, welche die Weiterführung des Solidarprogramms "Aufbau Ost" in Frage stellen. In ihren Augen greife dieser Begriff nämlich inzwischen zu kurz, da viele Herausforderungen, vor denen die ostdeutschen Länder und Kommunen stehen, zunehmend auch in Westdeutschland zu bewältigen sind.

Der Strukturwandel und die Deindustrialisierung sind längst keine Probleme, die es nur in den neuen Ländern gibt. Hier wurden mancherorts Lösungen gefunden, die beispielgebend auch für westdeutsche Kommunen sind. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten an die des Westens zwar erhebliche Fortschritte gemacht hat, aber noch längst nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. Der Solidaritätszuschlag wird demnach allen Deutschen in der alten oder einer neuen Form wohl noch eine Weile erhalten bleiben müssen. Seine Aufkündigung, bevor die ostdeutsche Wirtschaft ein selbsttragendes Wachstum erreicht hat, könnte letztlich teurer werden als die Fortführung.

Gleichwohl ist es nach 20 Jahren an der Zeit, eine Instrumententrennung zwischen Ost und West auf Sinn und Effizienz zu prüfen. Es wäre verwunderlich, wenn Mittel und Maßnahmen, die vor zwei Jahrzehnten als tauglich angesehen wurden, heute nicht modernisiert oder eben gegebenenfalls auch wieder abgeschafft werden müssten. Das muss nicht zwangsläufig zu Lasten Ostdeutschlands gehen. Denn richtig ist, dass die Kommunen in den neuen Bundesländern - bis auf wenige Ausnahmen - flächendeckend noch immer ein Wohnungsangebot aufweisen, das keine entsprechende Nachfrage findet. Im Westen besteht dieses Problem lediglich punktuell. Zudem haben die großen ostdeutschen Wohnungseigentümer, allen voran die kommunalen und genossenschaftlichen Unternehmen, ihre Bestände dem neuen Bedarf weitgehend angepasst. Korrekturpotenziale bestehen jetzt vor allem noch im Bereich der privaten Vermieter. Diesen jedoch fehlt es vielfach an den richtigen Anreizen, Wohnungen vom Markt zu nehmen. Eine Projektförderung könnte hier mehr bewirken.

Wie lange will die Politik noch trennen, was seit fast einer Generation eins ist? Wenn am 3. Oktober 2010 zwei Jahrzehnte deutsche Wiedervereinigung gefeiert werden, sollten Begriffe wie "Aufbau Ost", "Umbau West" oder Wortungetüme wie "Beitrittsgebiet", das von vielen Ostdeutschen heute nur noch als stigmatisierend empfunden wird, endgültig der Vergangenheit angehören. L. H.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X