Neue Verhältnisse

Dr. Ulrich Kater, Foto: DekaBank

Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine lasten auf der Weltwirtschaft. Bremsend wirkt insbesondere die kräftige Verteuerung zahlreicher Rohstoffe, welche die Produktionskosten der Unternehmen erhöht und die Kaufkraft der privaten Haushalte schmälert. Die Wucht der Inflation sei zudem so groß, dass selbst eine schwache Konjunkturentwicklung sie nicht ausreichend abbremsen könne, so der Autor. Nun müsse sich die Geldpolitik zwischen den klassischen Alternativen Inflationsbekämpfung oder Konjunkturstützung entscheiden. Ersteres stehe aber klar im Vordergrund der Geldpolitik. Das könnte zwar vorübergehend die konjunkturelle Dynamik bremsen, diese Kosten seien jedoch geringer als die stetigen Einbußen eines permanenten Inflationsprozesses. Bei all den neuen Herausforderungen dürften aber die altbekannten Themen nicht in Vergessenheit geraten. So müsse etwa die Digitalisierung und der Klimaschutz noch energischer vorangetrieben werden als bisher. (Red.)

Pandemie, Krieg, Inflation: In verhältnismäßig kurzer Zeit sind eine Reihe von Grundkonstanten des Wirtschaftslebens gestürzt worden, teils durch den von außen kommenden Schock der Corona-Pandemie, teils durch politische Entwicklungen hin zu Nationalismus und geopolitischen Verwerfungen, die sich bereits lange andeuteten. Dazu kommen die gletscherhaft langsam schleichenden Entwicklungen der Demografie sowie der Klimaveränderungen, die auch nicht haltmachen, wenn sich dramatische Ereignisse wie der militärische Überfall Russlands auf die Ukraine in den Vordergrund der Aufmerksamkeit schieben. Das alles hat Auswirkungen auf Wirtschaft und Kapitalmärkte. Einige dieser Konsequenzen wie die Rückkehr der Inflation sind sehr schnell sichtbar, andere Wirkungen werden sich erst über einige Jahre entfalten.

Kehrseite der Globalisierung

Auch für Ökonomen und Finanzmarktteilnehmer ist es in der gegenwärtigen Phase schwierig, die eher vorübergehenden von den dauerhaften Trends zu unterscheiden, wie anhand der spektakulären Fehleinschätzung der "transitorischen Inflation" durch die Europäische Zentralbank (und viele weitere Finanzmarktökonomen) deutlich wird. Wer die großen Veränderungen, die gerade vor sich gehen, etwas näher beleuchtet, der kommt zu dem Ergebnis, dass einige Selbstverständlichkeiten der vergangenen Jahrzehnte wie ein beständiger Abwärtsdruck auf die Inflation in der Zukunft wohl nicht mehr fortbestehen werden. Da die Inflation ein wesentlicher Werttreiber an den Finanzmärkten ist, haben auf diese Perspektive nahezu alle Finanzmarktsegmente mit deutlichen Kursverschiebungen reagiert. Dass es umgekehrt aber zur "Großen Rückabwicklung" kommt, also das Zinsniveau in einigen Jahren wieder dort landet, von wo aus es vor zwei Jahrzehnten seinen Abwärtsweg begonnen hatte, ist unwahrscheinlich.

Jahrzehntelang waren Experten, Politiker und auch der größte Teil der Bevölkerung davon überzeugt, dass eine Steigerung des weltweiten wirtschaftlichen Austausches den Wohlstand erhöht. Infolgedessen wurde seit dem Zweiten Weltkrieg die internationale Arbeitsteilung mehr als 50 Jahre lang immer weiter viertieft, vom anfänglichen Zollabbau bis hin zu Freihandelszonen und Binnenmärkten. Der ökonomischen Freiheit würde in vielen Ländern auch die politische Freiheit folgen, lautete ein plausibles Versprechen. Donald Trump machte mit dieser Denkweise und der Freihandelstradition Schluss, indem er erstens China als nicht beeinflussbaren, eigennützigen Rivalen brandmarkte und zweitens die Kehrseiten der Globalisierung für viele Menschen in den USA betonte. Denn es gibt auch Kehrseiten der Globalisierung, gerade für viele Menschen in den alten Industrieländern: Es ist zwar richtig, dass der freie Welthandel den Wohlstand in den westlichen Ländern erhöht. Insbesondere die USA haben es aber nicht geschafft, die Verlierer dieser Entwicklung aus diesen Gewinnen heraus zu kompensieren.

Gefahr der Blockbildung

Auf diese Weise sind Ressentiments gegen die Globalisierung in Gang gekommen, die politische Wirkungen hatten. Aus diesen und eine Reihe von weiteren Gründen sind mittlerweile wieder Trennlinien zu erkennen in der Weltwirtschaft. Es droht die Spaltung in einen Teil von Ländern mit grundsätzlich offenen, demokratischen Politikkonzepten und einen Gegenpart mit autokratischen Herrschaftsregimes, häufig ergänzt durch nationalistische oder sogar chauvinistische Elemente. Die Entwicklung gipfelt gegenwärtig in dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine, dem Versuch einer offenen gewaltsamen Ausdehnung des eigenen Herrschaftsbereichs. Es ist die Rückkehr der Geschichte in Europa zu Revisionismus und Imperialismus. Und es führt zu etwas, was ebenfalls als überwunden galt, nämlich einer waffenbesetzten Grenze zwischen den Herrschaftsbereichen in Europa, zu einem neuen Kalten Krieg, der eben auch wieder eine Unterbrechung des wirtschaftlichen Austausches bedeutet.

Unzufriedenheit mit negativen Nebenwirkungen der weltweiten Wirtschaftsverflechtung und geopolitische Bedrohungen in vielen Regionen der Welt: Das sind die gegenwärtigen Abrissbirnen der Weltwirtschaft. Jahrzehntelang wuchs der Welthandel schneller als das weltweite Bruttoinlandsprodukt. Bereits seit der Finanzkrise 2010 glichen sich diese Werte an, die weltweite Verflechtung stieg schon nicht mehr an. Künftig könnte der Welthandel sogar hinter dem Welt-BIP zurückfallen, wenn die weltweite Produktionshalle, zu der die Weltwirtschaft geworden war, Stück für Stück wieder abgebaut wird. Denn künftig wird nicht mehr hauptsächlich die Effizienz zählen, wenn es um weltweite Produktions- und -absatzsstrukturen geht, sondern auch die Sicherheit und Zuverlässigkeit. Die Konsequenzen werden Wohlstandsverluste sein.

Die Höhe dieser Wohlstandsverluste wird davon abhängen, wie die Weltwirtschaft umgebaut wird: Je mehr internationale Arbeitsteilung noch erhalten bleibt, desto geringer. Der - politisch verständliche - Wunsch nach "reshoring", also der Rückführung möglichst großer Anteile der Produktion ins eigene Land oder in "befreundete" Nachbarländer ("friendshoring") ist dabei am teuersten. Weniger Einbußen verspräche eine Strategie des "Multishoring", also der Streuung von Produktions- und Absatzaktivitäten in möglichst viele Standorte.

Mit der Rückkehr der Inflation geriet eine weitere Gewissheit der vergangenen 30 in diesem Jahr ins Wanken. Schon im zweiten Jahr der Corona-Pandemie und nun verstärkt durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine sind die Inflationsraten in vielen Industrieländern geopolitisch oder pandemiebedingt in den hohen einstelligen Prozentbereich angestiegen und damit so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Wucht der Inflation ist so groß, dass selbst eine schwache Konjunkturentwicklung sie nicht ausreichend abbremsen wird. Gerade hier sind die kurzfristigen, plötzlichen und exogenen Ursachen von hausgemachten, langfristigen Fehlentwicklungen schwer zu unterscheiden. Die Auslöser dieser Rückkehr der Teuerung sind sicherlich in den Wirren der Corona-Wirtschaft zu suchen. Die Corona-Pandemie hat die Angebotsseite der Wirtschaft beeinträchtigt. Der Krieg in der Ukraine belastet die Produktionsmöglichkeiten durch die ökonomische Isolation Russlands - immerhin 12 Prozent des weltweiten Rohstoffangebots - zusätzlich.

Genauso wesentlich wie die Angebotsseite ist allerdings auch die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Und auch hier hat die Corona-Zeit mit üppigen staatlichen Transfers an den privaten Sektor eine substanzielle Veränderung hervorgebracht. So wurde in den USA etwa in nur 18 Monaten die Nachfrageseite der Volkswirtschaft mit Transfers und anderen Programmen in Höhe von 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestützt - weit mehr als coronabedingt an Einkommen ausgefallen war. So berechtigt die Stabilisierungsanstrengungen der Staaten für ihre Volkswirtschaften auch gewesen sind, so deutlich treten nun die Nebenwirkungen einer wahrscheinlich zu kräftigen Rettungspolitik in Gestalt von Produktionsengpässen und steigenden Preisen zutage. Wären es nur die coronabedingten Finanzpakete, die einen Nachfrageüberhang ausgelöst hätten, könnte man auf rückläufige Dynamiken setzen, denn die Fiskalprogramme laufen nun aus und der Inflationsanstieg hat einen Teil der Nachfrage entwertet. Aber die Gefahr ist groß, dass die bisherigen Geschehnisse Zweitrundenentwicklungen angestoßen haben. Löhne und Inflationserwartungen passen sich an die neue Welt an und treffen auf eine Makroökonomie, die in der Fiskalpolitik und vor allem die Geldpolitik bereits vor der Corona-Krise expansiv ausgerichtet war. Man kommt bei allen offensichtlichen Begründungen des gegenwärtigen Inflationsausbruchs durch besondere Umstände am Ende schnell wieder bei den klassischen Inflationsauslösern an, die im Einsatz der geld- und finanzpolitischen Instrumente zu suchen sind.

Wohlstandsverlust wegen Inflation

Inflation erzeugt Wohlstandsverluste. Viele fragen sich heute, wie sich diese Wohlstandsverluste zeigen werden. Hier reicht ein flüchtiger Blick auf die Realeinkommen in Deutschland, die mit dem Inflationsanstieg dieses Jahres wieder auf die Niveaus von 2017 zurückgefallen sind. Neben den Einkommensbeziehern sehen sich Vermögensbesitzer bereits seit zehn Jahren einem Realwertverlust von kumuliert etwa 20 Prozent gegenüber, sofern sie ihr Vermögen in liquiden Assets halten. Und auch die Unternehmen werden Federn lassen, wenn sich in der Zukunft zeigt, dass nicht alle Kostensteigerungen auf die Verkaufspreise überwälzbar sind. Solange die Inflation eine kurze Phase bleibt, können und sollten diese Effekte durch gezielte sozialpolitische Maßnahmen für einkommensschwächere Haushalte abgemildert werden. Größer und auch sozialpolitisch nicht mehr kompensierbar werden die Wohlstandverluste allerdings, wenn der Inflation freien Lauf gelassen wird. Geld ist nicht nur zum Austausch und zur Wertaufbewahrung da, sondern auch zur Planung von künftigen Projekten. Schwankt der Geldwert unkontrolliert, dann erschwert das eine solche Zukunftsplanung und mindert die Investitionstätigkeit. Diese angebotsschädlichen Wirkungen der Inflation kann man bereits aktuell an vielen abgesagten und stornierten Bauvorhaben ablesen, die die Aussichten der deutschen Bauwirtschaft für dieses Jahr ins Negative gedreht haben.

Aufgabe der Geldpolitik

Inflation ist also wachstumsschädlich und unsozial und muss daher bekämpft werden. Im Gegensatz zu den Stagflationszeiten der 70er Jahre ist glücklicherweise die Auffassung über die Aufgaben der Geldpolitik heute sehr viel eindeutiger. Die Erfahrungen mit Inflationsprozessen seit Beendigung des Goldstandards haben weltweit zu dem recht eindeutigen Konsens unter Ökonomen geführt, dass im gegenwärtigen Finanzsystem ausschließlich die Notenbanken über die Instrumente verfügen, um Inflationsprozesse kontrollieren zu können. Wenngleich diese Kontrolle asymmetrisch sein mag - zu niedrige Inflationsraten sind schwieriger zu korrigieren, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben - so sind diese Instrumente gerade bei der Korrektur zu hoher Inflationsraten sehr wirkungsvoll. Diese Erkenntnis hat zu der institutionellen Aufstellung der modernen Wirtschaftspolitik geführt, die den Notenbanken weltweit an erster Stelle oder sogar ausschließlich das Ziel der Geldwertstabilität zuweist. Vor einer solchen Aufgabe stand die Europäische Zentralbank in den Jahren ihres Bestehens allerdings noch nie. Bislang konnten die Zentralbanker im Windschatten von niedrigen Inflationsraten die Konjunktur ihrer Volkswirtschaften kräftig unterstützen. Das ist jetzt vorbei. Nun muss sich die Geldpolitik zwischen den klassischen Alternativen Inflationsbekämpfung oder Konjunkturstützung entscheiden. Es sollte klar sein, dass ersteres im Vordergrund der Geldpolitik steht. Das könnte zwar vorübergehend die konjunkturelle Dynamik bremsen. Diese Kosten sind jedoch geringer als die stetigen Einbußen eines permanenten Inflationsprozesses.

Bei all diesen neuen Herausforderungen ist die Gefahr groß, die alten zu vergessen. Der demografische Wandel, der in den vergangenen Jahren eher analysiert und damit antizipiert wurde, ist jetzt immer näher gerückt. Vorschatteneffekte auf den Kapitalmärkten sind in Gestalt untypisch niedriger Zinsen schon seit Längerem zu spüren; die nächsten Auswirkungen werden in den kommenden Jahren an den Arbeitsmärkten und in den Sozialversicherungssystemen zu spüren sein. Das staatliche Rentensystem in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern ist darauf noch nicht eingestellt. Und schließlich wird die Klimaproblematik uns nicht loslassen. Während man noch vor einigen Jahrzehnten geglaubt hatte, die Ressourcen der Welt reichten nicht aus, um dauerhaftes Wachstum bereitzustellen, hat sich gerade in den vergangenen drei Jahrzehnten einer stürmischen Globalisierungs- und Wachstumsentwicklung in der Weltwirtschaft gezeigt, dass es nicht die physischen Ressourcen sind, die uns ausgehen, sondern die Ressource Klima und Umwelt. Die daraus folgende dringende Aufgabe des Umbaus des Energiesystems wird nun durch die geopolitische Anforderung der Unabhängigkeit von einzelnen Lieferstaaten noch verstärkt.

Politische Handlungsfelder

Was also tun gegen die neuen Herausforderungen? Gehören zu den dramatisch veränderten Umständen ebenso radikal veränderte wirtschaftspolitische Programme? Abseits von verteidigungs- und außenpolitischen Richtungswechseln sollte im wirtschaftspolitischen Feld nicht vergessen werden, dass eine Marktwirtschaft die flexibelsten und schnellsten Anpassungsmechanismen enthält, die wir auf der Ebene ganzer Volkswirtschaften kennen. Preisveränderungen signalisieren den Menschen für ihre privaten wie geschäftlichen Entscheidungen neu eingetretene Rahmenbedingungen schnell und effektiv. Unternehmen und Bürger reagieren auf hohe Energiepreise wie auf gestiegene Notierungen von Einsatzstoffen durch Veränderungen ihrer Konsum- und Produktionsentscheidungen. So wird für den Unternehmenssektor in den kommenden Jahren aus eigenem Interesse die Widerstandfähigkeit von Produktionsketten und die politischen Risiken weltweiter Tätigkeit zum Megathema werden.

Dazu müssen diese Preissignale jedoch unverfälscht durchwirken - Preiskontrollen und steuerliche Fehlanreize behindern die Neuausrichtung der Wirtschaft. In der sozialen Marktwirtschaft ist es allerdings auch fester Bestandteil, sich das Ergebnis des Marktprozesses unter Verteilungsaspekten anzuschauen und dort gezielt zu kompensieren, wo das Marktergebnis sozialpolitisch untragbare Ergebnisse hervorbringt - dies betrifft derzeit vor allem die Verteilung der Wohlstandslasten aus Inflation und Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft. Nationale Konzepte der Versorgungs- und Produktionssicherheit sind wohl neue Felder, denen sich die staatlichen Stellen zuwenden müssen. Schließlich sind aber auch die klassischen Staatsaufgaben zu erfüllen, so muss etwa die Schaffung von Infrastruktur für Digitalisierung und Energiewende noch energischer vorangetrieben werden als bisher.

Dr. Ulrich Kater , Chefvolkswirt , DekaBank - Deutsche Girozentrale, Frankfurt am Main
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