Neue Assets, neue Rollen: Wie die Tokenisierung die Finanzmärkte verändert

Alexander Höptner, Foto: Börse Stuttgart

Hauptsächlich Start-ups nutzen aktuell die Möglichkeit, bei Geschäftsfeldern und Projekten anstelle eines Börsengangs mit Aktien Token herauszugeben und gegen gesetzliche Zahlungsmittel oder Kryptowährungen an Anleger zu verkaufen. Dieses Vorgehen sei aber auch für mittelständische Unternehmen oder sogar Konzerne interessant, so der Autor. Entsprechend steige auch das Interesse von Anlegern an digitalen Assests. Des Weiteren beschreibt er, welche drei Arten von Token unterschieden werden müssen und welche Vorteile sie für Unternehmen sowie Anleger bieten. Vor dem Hintergrund eines immer digitaler werdenden Finanzmarktes zeigt der Autor auf, welche Rolle Akteure wie Intermediäre oder die Börsen zurzeit haben und vor welchen Herausforderungen sie künftig stehen werden. (Red.)

Die Blockchain erlaubt es, die physische Verbriefung von Rechten und Gütern aufzuheben und durch digitale Token zu ersetzen. Durch diese Tokenisierung lassen sich bestehende Finanzprodukte in die digitale Welt überführen und neuartige digitale Assets gestalten. Das schafft nicht nur ein breites Spektrum von neuartigen Investmentmöglichkeiten, sondern auch historisch gewachsene Strukturen an den Finanzmärkten verändern sich. Der Wandel umfasst dabei alle Stufen der Wertschöpfungskette - vom Primärmarkt und dem Marktzugang für Emittenten und Anleger über den Handel im Sekundärmarkt bis hin zur Abwicklung der Geschäfte und zur Verwahrung. Dabei bleibt die grundlegende Funktionsweise des Kapitalmarktes bestehen, aber die Aufgaben traditioneller Akteure verändern sich und neue Rollen entstehen.

Technologie statt Intermediäre

Sicherheit und Nachvollziehbarkeit durch Technologie: Diese Formel bringt die Bedeutung der Blockchain für die Finanzmärkte auf den Punkt. Bei einer Blockchain wird jede Transaktion in einer Kette von Datenblöcken festgehalten, im gesamten Blockchain-Netzwerk gespeichert und für jedes Netzwerkmitglied einsehbar gemacht, es herrscht also umfassende Transparenz. Die Kette verknüpfter Datenblöcke ist ein digitales Bestandsbuch und verlängert sich durch neue Transaktionen, für die neue Blöcke nach kryptografischen Regeln berechnet werden. Bestehende Blöcke, die zurückliegende Transaktionen dokumentieren, können nicht mehr modifiziert werden.

Damit ist der Weg frei, die physische Verbriefung von Rechten und Gütern - etwa in Wertpapieren oder Verträgen - durch Programmcodes zu ersetzen. Ein digitaler Token auf Basis der Blockchain ermöglicht den konsistenten, sicheren Nachweis eines bestimmten Zustands. Er stellt das aktuelle Eigentumsrecht zweifelsfrei fest und kann auch die Kette der vorherigen Eigentümer lückenlos dokumentieren. Während im traditionellen Finanzsystem zwischengeschaltete Instanzen wie Broker oder Clearingstellen für die Sicherheit und Nachvollziehbarkeit von Transaktionen sorgen, übernimmt dies bei der Blockchain die Technologie. Daraus ergeben sich tief greifende Veränderungen für die Rollen vieler Marktakteure, die bisher für verlässliche und transparente Abläufe unverzichtbar waren.

In Token lassen sich die unterschiedlichsten Rechte und Güter digital verbriefen. Token stehen als digitale Assets, also für virtuelle oder sachliche Gegenwerte. Drei Arten von Token lassen sich dabei unterscheiden: Sogenannte Payment Token sind digitale Tauschmittel, die ohne eine zentrale Instanz auskommen.

Ihr Fokus liegt auf der Verwendung als Zahlungsmittel, darüber hinaus haben sie keine oder nur geringe Funktionalität. Zu den Payment Token zählen bekannte Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ripple (XRP). Security Token entsprechen in ihrer Ausgestaltung klassischen Wertpapieren. Sie können wie Aktien eine Unternehmensbeteiligung verbriefen oder wie Fremdkapitalinstrumente Ansprüche auf Verzinsung abbilden. Die sogenannten Utility Token schließlich gewähren wie ein Gutschein Zugang zu Dienstleistungen oder Gütern des jeweiligen Emittenten.

Der Fantasie sind bei Token kaum Grenzen gesetzt. Waren sie ursprünglich als Belohnung für Netzwerkteilnehmer gedacht, die für eine Blockchain die notwendige Rechenleistung bereitstellen, können sie auch ganz andere Funktionen erfüllen.

Token als "Proof of Concept"

Utility Token können zum Aufbringen finanzieller Mittel, aber auch als Kundenbindungs- und Marketinginstrument dienen. Ein fiktives Beispiel: Ein Automobilhersteller gibt einen Utility Token für ein neues Fahrzeugmodell heraus. Wer daran interessiert ist, das Auto später zu kaufen, erwirbt den Token und bekommt im Gegenzug einen Platz auf einer exklusiven Warteliste und zehn Prozent Rabatt. Der Hersteller finanziert mit dem Verkauf der Token sein Projekt und bindet Kunden an sich. Zugleich erhält das Unternehmen den "Proof of Concept". Es kann aufgrund des Feedbacks auf den Token einschätzen, wie das Auto am Markt ankommen wird.

Im Sinne der Kunden wäre es wichtig, hier noch weiterzudenken. Falls sie irgendwann doch keine Lust mehr auf das neue Auto haben, sollten sie ihre Token über einen liquiden Markt leicht verkaufen können. Dieses Beispiel zeigt: Erfolg und Akzeptanz eines Token hängen nicht nur von seiner Ausgestaltung ab, sondern auch von seiner effizienten Handelbarkeit.

Dies gilt umso mehr bei Security Token, die an die Stelle von klassischen Wertpapieren treten. Mit Aktien vergleichbare Token verbriefen Eigentumsrechte an einem Unternehmen. Zudem kann das Recht auf eine Dividendenzahlung angelegt sein. Der Token selbst könnte in diesem Fall automatisch die Auszahlung an den Eigentümer anstoßen, in einer Kryptowährung oder mit herkömmlichem Geld. Security Token können aber auch wie Anleihen ausgestaltet sein, ihr Besitzer erhält dann eine Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Dabei erhöhen Security Token die Flexibilität, etwa mit Blick auf eine Stückelung in kleineren Einheiten. Als digitales Äquivalent zu Wertpapieren unterliegen Security Token auch der auf Wertpapiere zugeschnittenen Kapitalmarktregulierung. Aus dieser Einordnung ergeben sich unter anderem Handels und Ad hoc Pflichten.

Änderungsbedarf am Wertpapierrecht

Bei Security Token liegen also ganz andere Anforderungen vor als bei anderen Token. Allerdings fehlen auch noch wichtige regulatorische Grundlagen, damit Security Token ihr Potenzial als effiziente, flexible und fungible digitale Assets ausschöpfen können. Zwar gab es hierzulande bereits erste Emissionen, wesentliche rechtliche Aspekte für den Handel und die Übertragung von Security Token harren jedoch ihrer Klärung.

Der Gesetzgeber in Deutschland arbeitet daran: Das Wertpapierrecht soll schrittweise für digitale Wertpapiere geöffnet werden, die digitale Globalurkunde neben die bisher zwingende Verkörperung in Form einer physischen Urkunde treten. Allerdings reicht die bisher angedachte Neuregelung für digitale Schuldverschreibungen nicht aus. Aktien und andere Wertpapiere müssen ebenfalls einbezogen werden, damit Emittenten und Anleger auch in der digitalen Welt Zugriff auf die gesamte Bandbreite an Finanzierungs- und Investmentmöglichkeiten haben.

Die Vorteile der Tokenisierung von Gütern und Rechten und ihre Auswirkungen werden deutlich, wenn man die Prozesskette am Finanzmarkt betrachtet. Sie läuft von der Unternehmensfinanzierung am Primärmarkt über den Handel am Sekundärmarkt bis hin zur Abwicklung der Geschäfte und der Verwahrung.

Benötigt ein Unternehmen finanzielle Mittel, so eröffnet ihm die Blockchain-Technologie neue Möglichkeiten. Anstelle eines Börsengangs mit Aktien kann es Token herausgeben und gegen gesetzliche Zahlungsmittel oder Kryptowährungen an Anleger verkaufen. Bisher tun das hauptsächlich Start ups, häufig für Geschäftsfelder und Projekte mit Blockchain-Bezug. Dadurch können die jungen Unternehmen starre Kapitalbeschaffungsprozesse umgehen, wie sie Risikokapitalgeber oder Banken fordern. Grundsätzlich ist die Ausgabe von Token aber nicht nur für Start-ups interessant, sondern auch für Mittelständler oder Konzerne. Denn neben den Unternehmen selbst können auch einzelne Projekte, Produkte oder sogar Anlagen flexibel finanziert werden.

Wenn sich die Emission von Token als Finanzierungsform etabliert, dürften Banken und auch Risikokapitalfirmen als Geldgeber weniger gefragt sein. Banken können allerdings gut einschätzen, wie solvent ein etabliertes Unternehmen ist. Venture-Capital-Spezialisten wiederum können beurteilen, wie aussichtsreich die Geschäftsidee eines Start-ups ist. Die Beratung für kapitalsuchende Unternehmen dürfte somit auch weiterhin zum Servicespektrum von Banken und Risikokapitalfirmen gehören - nur eben mit neuem Fokus auf die digitale Finanzierung.

Interesse an digitalen Assets wächst

Verbindliche rechtliche Rahmenbedingungen wären von höchster Relevanz für Unternehmen, die Token für eine flexible Finanzierung nutzen wollen. Gleiches gilt auch mit Blick auf den Schutz von Investoren. Hier sollten zwei Kernpunkte aus dem traditionellen Kapitalmarkt auf Token übertragen werden: Erstens benötigen Investoren angemessene und verständliche Informationen. Zweitens müssen Anleger wirkungsvolle Möglichkeiten zur rechtlichen Durchsetzung ihrer Interessen haben, um sich vor missbräuchlichen Praktiken zu schützen.

Aufgrund ihrer Einordnung als Wertpapiere bestehen bei Security Token schon heute klar definierte Prospekt und Transparenzpflichten. Für Utility Token dagegen müssen einheitliche Mindeststandards und Qualitätsanforderungen für die Emission erst noch etabliert werden. "Whitepaper" von Emittenten in ihrer aktuellen Form sind nicht ausreichend. Hier sind die Emittenten vom Gesetzgeber in die Pflicht zu nehmen, Investoren angemessen, transparent und verständlich zu informieren.

Das Interesse von Anlegern an digitalen Assets ist vorhanden, auch jenseits der bereits etablierten Kryptowährungen. Die Vielfalt der in Token abbildbaren Rechte und Güter erschließt für Anleger ein breites Spektrum an neuen Investmentmöglichkeiten. Ein Beispiel sind Token, die für Projektfinanzierungen he rausgegeben werden. Sie ermöglichen zuvor nicht darstellbare Investitionen und eine direkte Beteiligung am Projekterfolg. Hinzu kommen neue Perspektiven zur Streuung des eigenen Kapitals. Anleger könnten sich beispielsweise weltweit über Token zu niedrigen Kosten und mit geringen Beträgen flexibel an verschiedenen jungen Unternehmen beteiligen.

Folgen für Banken, Broker und Börsen

Anleger hoffen auf eine Wertsteigerung von erworbenen Token und wollen sie irgendwann mit Gewinn verkaufen. Dies setzt allerdings voraus, dass Token nach der Ausgabe jederzeit in einem Sekundärmarkt gehandelt werden können. Hierfür entstehen neue, global zugängliche Marktplätze mit Systemen zur Preisermittlung, an denen die Emittenten ihre Token listen lassen können.

Allerdings sind Broker in ihrer bisherigen Form als vorgeschaltete Instanzen dann überholt: Die Blockchain-Technologie übernimmt ihre Aufgaben und garantiert an ihrer Stelle die Sicherheit und Transparenz der Transaktionen. Institutionelle wie private Anleger weltweit können sich direkt über kundenspezifische Schnittstellen an Handelsplätze für Token anschließen ohne Intermediär und die damit verbundenen Kosten. Sofern der Rechtsrahmen dies vorsieht, kann ein Handelsplatz auch Prozesse für den Identitätsnachweis der Kunden und Maßnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche vorhalten. Eine Vorabprüfung der vorhandenen finanziellen Mittel ist überflüssig, da der Austausch von Geld gegen Token zwischen Käufer und Verkäufer nahezu in Echtzeit erfolgen kann. Diese Aspekte machen Broker, wie wir sie heute kennen, in der Prozesskette obsolet.

Der Markt befindet sich auch bei Token noch immer im Mittelpunkt und bringt Angebot und Nachfrage zusammen. Dabei ist der Betrieb von transparenten Marktplätzen mit vielen Handelsteilnehmern die ureigene Aufgabe von Börsen. Sie sind auch bei Token dazu prädestiniert, einen verlässlichen Rahmen für den Handel zu schaffen und den Zugang zu regeln, etwa im Hinblick auf das Listing von digitalen Assets oder die Teilnahme am Handel selbst. Doch die Rolle von Börsen verändert sich auch. Für Token ist in besonderem Maße ihre Kompetenz gefragt, zielführende Regelwerke und Handelsmodelle zu gestalten.

Ein Blick auf den Kursverlauf des Bitcoin oder anderer bekannter Kryptowährungen zeigt die Geburtswehen einer jungen Anlageklasse: Prägend sind enorme Schwankungen. Hier wie bei anderen digitalen Assets gilt es, Stabilität in den Markt zu bringen und extreme Ausschläge im Handel abzufangen. Den Werkzeugkasten hierfür kennen Börsen aus dem Wertpapierhandel - vom Auktionsprinzip bis zur Volatilitätsunterbrechung.

Bei kleinen, weniger verbreiteten Token kommt eine weitere Herausforderung hinzu: Wie gelingt es, einen liquiden Sekundärmarkt aufzuziehen, damit auch diese Token möglichst reibungslos den Besitzer wechseln können? Auch hier können Erfahrungen einfließen, die bei illiquiden Wertpapieren gesammelt wurden, etwa im Hinblick auf Liquiditätsspenden. Zudem sind eine Überwachung der Ordnungsmäßigkeit des Handels und transparente Kursinformationen dazu geeignet, das Vertrauen der Anleger zu stärken.

Am Ende der Prozesskette stehen Abwicklung und Verwahrung. Hier bricht die Tokenisierung die etablierten Monopole aus dem klassischen Wertpapierhandel auf und ermöglicht schlanke Prozesse. Wenn man auf der Blockchain die gegenseitigen Forderungen, Verbindlichkeiten und Lieferverpflichtungen der Marktteilnehmer zu jeder Zeit darstellen und einsehen kann, so ersetzt die Technologie die Clearingstelle und reduziert Abwicklungs- und Gegenparteirisiken. Die Verrechnung und Übertragung der Token kann über die Blockchain nahezu in Echtzeit erfolgen. Eine spezielle Instanz für die Verwahrung ist bei digitalen Assets nicht mehr zwingend notwendig - jeder kann die Aufbewahrung seiner Token selbst in die Hand nehmen, wenn er dies wünscht.

Reduzierung von Abwicklungs- und Gegenparteirisiken

Allerdings scheuen viele Investoren den Aufwand, den eine sichere Verwahrung digitaler Assets in Eigenregie mit sich bringt. Deshalb kann es sinnvoll sein, die Dienstleistungen spezialisierter Unternehmen für die Verwahrung digitaler Assets zu nutzen. Diese Verwahrer haben die Sicherheit der technischen Infrastruktur im Blockchain-Netzwerk und auch darüber hinaus zu gewährleisten.

Auch bei einem Ausfall der Verwahrgesellschaft muss der Zugang zu den verwahrten Assets sichergestellt sein. Entsprechend wichtig sind Mindeststandards und von der Politik vorgegebene Regeln für Verwahrer. Hier ist das Anfang 2020 in Kraft getretene Gesetz zur Umsetzung der fünften EU-Geldwäscherichtlinie in Deutschland ein begrüßenswerter Schritt. Die Verwahrung von Kryptowährungen ist nun eine erlaubnispflichtige Finanzdienstleistung und unterliegt der entsprechenden behördlichen Aufsicht.

Über Token werden die unterschiedlichsten Rechte und Güter abgebildet und handelbar gemacht - mit erheblichen Folgen für die Finanzmärkte, für Unternehmen und Investoren. Generell gilt: Tokenisierung ist nicht nur ein Thema für Fintechs und Start-ups. Gerade etablierte Marktakteure müssen voranschreiten und sinnvolle Standards setzen, damit digitale Assets ihr Potenzial tatsächlich entfalten können.

Alexander Höptner Vorsitzender der Geschäftsführung, Börse Stuttgart GmbH, Stuttgart

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