Insolvenzgeschehen: Seismograf in der Krise

Patrik-Ludwig Hantzsch, Foto: p.gwiazda Photographie

Hinter der Bundesrepublik liegen Jahre, ja ein ganzes Jahrzehnt des stetigen Wachstums. Doch schon 2019 mehrten sich Anzeichen, dass es damit bald vorbei sein werde. Die Corona-Krise trifft große Teile der deutschen Wirtschaft nicht in allerbester Verfassung. Der Shutdown tut trotz aller Bemühungen von Politik und Notenbanken sein Übriges. Heute ist die Frage nur noch, wie tief die kommende Rezession ausfallen wird. Für die Insolvenzzahlen wirke die Krise wie ein Brandbeschleuniger, so der Autor. Während er viele Maßnahmen der Bundesregierung lobt, sieht er das Aussetzen der Insolvenzantragspflicht kritisch, denn diese sei ein zweischneidiges Schwert. So seien Trittbrettfahrer ebenso zu befürchten wie akute Gefahren für Geschäftspartner und Lieferanten von de facto insolventen Unternehmen, die dies aber nicht mehr anzeigen müssen. Es drohen Zombieunternehmen, die Fortschritt verhindern. Zudem sei der drohende Anstieg der Insolvenzen nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Das Schutzschirmverfahren sei die sinnvollere Alternative, so das Fazit. (Red.)

Diese Zeit ist historisch. Den Beleg dafür hören wir in politischen Reden und lesen ihn in den Schlagzeilen der Zeitungen: Die Welt und Deutschland erleben derzeit die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die globale Wirtschaft erlebt eine Rezession, die in ihren Auswirkungen nur mit der Großen Depression von 1929 vergleichbar ist. In schwindelerregendem Tempo fallen Aktienkurse, steigen Infektionsraten und sinken die Konjunkturerwartungen. Dazu passt, dass der Preis für Rohöl, den Schmierstoff der Weltwirtschaft, erstmals seit Aufnahme des Future-Handels im negativen Bereich notierte. Die erste Absage eines Oktoberfestes seit über 70 Jahren scheint da fast folgerichtig.

Aber die Gegenwehr ist nicht minder gewaltig. Mit "aller Kraft" wurde im März der größte Zusatzhaushalt beschlossen, der jemals dem Bundestag vorgelegt wurde. Im Krieg gegen das Virus und dessen Auswirkungen zückten Finanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier damit nichts Geringeres als die Bazooka, geladen mit 156 Milliarden Euro für Liquiditätsspritzen in Form günstiger Kredite in unbegrenzter Höhe, Soforthilfen, Steuerstundungen und sogar Staatsbeteiligungen.

In diesem Ausnahmezustand wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Da mutet es fast schon kleinlich an, sich die einzelnen Instrumente zur Rettung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland genauer anzuschauen und deren nachhaltige Wirkung zu hinterfragen. Aber genau das ist gerade in solchen Zeiten besonders nötig, wenn viele Dämme brechen. Es braucht ein ordentliches Maß an Sachverstand und Weitsicht, damit wir in der Post-Corona-Zeit nicht untergehen.

Wirtschaftsentwicklung - die Krise vor der Krise

Konkret wird dieser Zusammenhang mit Blick auf die Insolvenzentwicklung in Deutschland. Um die aktuelle und künftige Lage besser einschätzen zu können, hilft dabei ein Blick in die Vergangenheit. Denn bereits vor der Pandemie mehrten sich die Zeichen für eine Umkehr vom Wachstum, das die Bundesrepublik ein Jahrzehnt begleitete und seit 2009 von stetig sinkenden Insolvenzzahlen flankiert wurde.

Der Brexit, die Handelskriege zwischen den USA und China und zunehmende Deglobalisierungstendenzen setzten und setzen der gesamten deutschen Wirtschaft zu. Sie ist bereits 2019 - wenn auch knapp - an einer technischen Rezession vorbeigeschrammt. Fast alle wichtigen volkswirtschaftlichen Kennzahlen haben sich im Verlauf von 2019 schlechter entwickelt als angenommen. Das liegt vor allem an der Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Industrie und Exporten.

Ein Beispiel dafür ist die Automobilbranche, die im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres 15 Prozent weniger exportierte als im Vorjahreszeitraum und mitten in einem Strukturwandel steckt, der tief greifender als ein vorübergehender Produktionsstopp ist. Auch die Vorzeigebranche der deutschen Maschinenbauer musste vor dem Virus mit drastischen Rückgängen bei Aufträgen und Umsätzen kämpfen und war von steigenden Unternehmensausfällen betroffen. Kurzum: Schon Ende des vergangenen Jahres wankten die deutschen Schlüsselindustrien.

Aber auch andere Branchen hatten zu Beginn des Shutdowns denkbar ungünstige Ausgangsbedingungen: In einer Analyse zur Bonität deutscher Unternehmen zusammen mit dem Leibniz Institut für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) wurde deutlich, dass Gastronomie, Kfz-Zulieferer, chemische Industrie und Baugewerbe die Branchen mit den höchsten Anteilen an kleinen Unternehmen mit schwacher Bonität sind. Dabei geht es um 345 000 Unternehmen mit mehr als 1,5 Millionen Beschäftigten. Außen vor waren in der Analyse rund 440 000 Unternehmen mit dem Alter von unter vier Jahren mit zirka 1,2 Millionen Mitarbeitern. Ein Teil dieser Unternehmen überlebt nur deshalb, weil sie von den historisch günstigen Finanzierungsbedingungen profitieren konnten.

Sie sind die Spitze eines Eisbergs, an der sich die Strukturprobleme der privaten Wirtschaft in Deutschland ablesen lassen. Diese Unternehmen waren schon ohne umsatzeinschränkende Maßnahmen insolvenzgefährdet. Zum Gesamtbild gehört aber auch ein weitgehend gesunder Mittelstand mit guter Unternehmensstabilität und soliden Eigenkapitalquoten. Alles in allem lautete die Diagnose im Januar: Der Rückgang der Insolvenzzahlen wurde 2019 beendet. Wir müssen für 2020 mit einem leichten Anstieg rechnen. Dann kam die Krise und wirkt bei dieser Entwicklung wie ein Brandbeschleuniger.

Der Teufel steckt im Detail

Die Wirtschaft fürchtet also zu Recht die Folgen der beispiellosen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. In dieser Situation zeigt die Bundesregierung eine Entschlossenheit, wie sie vor einigen Monaten kaum denkbar gewesen wäre, und beschließt im Handstreich weitgehende Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Unternehmen. Neben den täglich wachsenden Summen für finanzielle Hilfen wie Kredite und Hilfsgelder werden Gesetze geändert und die Pflicht zur Vertragserfüllung (teilweise) ausgesetzt. Manches davon ist richtig und gut - anderes ist nur gut gemeint.

Mit dem Aussetzen der Insolvenzantragspflicht sollen Unternehmen davor geschützt werden, wegen Corona in die Insolvenz gehen zu müssen. Das klingt plausibel, ist aber ein zweischneidiges Schwert. Unternehmen, die nach dem Stichtag 31. Dezember 2019 zahlungsunfähig waren oder sind, müssen ihre Zahlungsunfähigkeit nicht anzeigen. Dieser frühe Zeitpunkt wird zum einen viele Trittbrettfahrer auf den Plan rufen, die zwar vorher schon in Schieflage waren und gar nicht primär von der Krise getroffen wurden, nun aber gleichsam profitieren.

Zweitrundeneffekte und Zombifizierung

Noch problematischer ist es, dass ein eigentlich insolventes Unternehmen anderen Marktteilnehmern nicht mehr offen kommunizieren muss, dass es zahlungsunfähig ist. Der Status quo wird verschleiert. Es bleiben also Unternehmen länger im Markt, die nur de jure nicht insolvenzreif sind, wohl aber de facto. Das ist eine akute Gefahr für deren Geschäftspartner und Lieferanten.

Gläubiger, die kein gut funktionierendes Kreditmanagement haben und bei Bonitätsprüfungen nicht alle zu Gebote stehenden Informationsquellen abfragen, laufen Gefahr, Lieferbeziehungen zu Abnehmern aufrechtzuerhalten, die nicht mehr zahlungsfähig sind, und damit steigende Forderungsausfälle zu erleiden. Das kann im schlimmsten Fall zu sogenannten Zweitrundeneffekten, also Anschlussinsolvenzen eigentlich gesunder Unternehmen führen.

Hinzu kommt, dass sich die befürchtete Pleitewelle nur auf den Herbst verschiebt. Denn Ende September läuft die Gnadenfrist aus und spätestens dann kommt es zu einem bösen Erwachen. Und zwar möglicherweise auch bei den handelnden Managern selbst, denn wer weiterhin bestellt und Geschäfte tätigt in dem Wissen, offene Forderungen nicht begleichen zu können, begeht trotzdem einen Eingehungsbetrug und ist persönlich haftbar zu machen. Übergeordnet führt das staatlich verordnete Moratorium zu einem großen Vertrauensverlust bei Geschäftspartnern und dem Markt insgesamt.

Diese Maßnahme begünstigt zudem den Trend zur Zombiefizierung von Unternehmen. Die liegt vor, wenn sie ihre Zinsverpflichtungen längerfristig nicht mehr durch das operative Ergebnis decken können. Die Untoten der Wirtschaft sind unrentable und überschuldete Unternehmen, die sich nur durch die lockere Geld- und Zinspolitik der vergangenen Jahre finanzieren und überleben können. Diese Zombies sind in mehrfacher Sicht problematisch. Je länger sie am Markt agieren können, desto höher sind die möglichen Verluste, die sie bei anderen Marktteilnehmern verursachen.

Sie sind erwiesenermaßen weniger produktiv und innovativ. Durch ihre Präsenz in ihrer jeweiligen Branche versperren sie leistungsfähigen Start-ups und kleineren Unternehmen den Weg. Weiterentwicklungen werden so verhindert, Fachpersonal in maroden Strukturen gebunden. Auch diese Unternehmen werden von den staatlichen Maßnahmen profitieren und richten derweil weiteren volkswirtschaftlichen Schaden an.

Schutzschirmverfahren als sinnvolle Alternative

Als durchaus sinnvolle Alternative für Unternehmen in der Krise erweist sich derzeit ein Instrument, das es bereits seit 2012 gibt und im Zuge der Finanzkrise entwickelt wurde. Das Schutzschirmverfahren ist rechtlich gesehen ein vorläufiges Insolvenzverfahren. Der Gesetzgeber wollte damit Anreize für Geschäftsführer angeschlagener Unternehmen schaffen, sich möglichst vor der Zahlungsunfähigkeit Hilfe zu suchen. Jüngst schlüpften das Kaufhausimperium Galeria Karstadt-Kaufhof, Modehersteller Esprit und der Elektroautohersteller Ego unter diesen Schutzschirm.

Als Sonderform der Insolvenz in Eigenverwaltung gibt es dabei eine Reihe von attraktiven Möglichkeiten, die das Verfahren von der Regelinsolvenz unterscheiden. Erklärtes Ziel ist dabei stets die Sanierung des Unternehmens, der Erhalt der Unternehmenswerte und nicht die Zerschlagung. Anders als beim Regelverfahren bleibt die Geschäftsleitung im Amt und kann sich sogar ihren Sachwalter aussuchen, der das Geschehen beaufsichtigt. Voraussetzung für das Beantragen dieser Verfahrensform sind eine nachgewiesene drohende Zahlungsunfähigkeit und eine positive und nachhaltige Zukunftsprognose.

Das Unternehmen hat in der Regel drei Monate Zeit einen Insolvenzplan vorzulegen und ist in dieser Zeit vor dem Zugriff der Gläubiger geschützt, kann Zahlungen für ungünstige Leasingverträge, Mieten oder Pachten aussetzen und so die Liquidität stärken. Mitarbeiter erhalten zudem Insolvenzgeld. Das bietet gerade jetzt die Chance, sich an verändernde Marktbedingungen anzupassen. Creditreform verzeichnete in seinem Insolvenzbericht 2019 bei rund 19 400 Unternehmensinsolvenzen nur rund 260 solcher Verfahren. Deren Anteil dürfte künftig deutlich steigen.

Enorme Gefahren

Das Corona-bedingte Gewitter am Konjunkturhimmel wird noch lange zu spüren sein. Wie schwer die Wirtschaft tatsächlich getroffen ist und wie sich das in den Insolvenzzahlen niederschlägt, ist kaum vorauszusagen. Sicher ist aber, das die derzeitige Lage für kleine und mittelständische Unternehmen viel gefährlicher als nach der Weltfinanzkrise von 2008 ist. Damals waren nach dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers im September 2008 vor allem Banken und Finanzinstitute betroffen - die Kreditversorgung der Unternehmen stand infrage (Credit Crunch). Als Folge wurden 2009 europaweit rund 236 000 Firmen in die Zahlungsunfähigkeit getrieben - ein Anstieg um 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Allein in Deutschland stieg die Zahl der Unternehmensinsolvenzen um gut 12 Prozent. Rund 33 000 Unternehmen gingen bundesweit in die Pleite. Abhängig von der Dauer der Krise wird diese Zahl wahrscheinlich übertroffen werden.

Denn parallel zur Pandemie dreht sich die Welt weiter. Die globale Transformation, die am Ende des vergangenen Jahres bereits für Unmut bei den Zugpferden der deutschen Wirtschaft gesorgt hatte, wird weitergehen. Führende Tech-Unternehmen aus den USA und China zeigen sich derzeit sehr robust und gewinnen sogar an Bedeutung. Diese Entwicklung wird verstärkt und setzt sich nach der akuten Krise weiter fort. Umso wichtiger wird es sein, diesen einmaligen volkswirtschaftlichen Kraftakt nicht für eine Rückkehr in die Vor-Corona-Zeit zu nutzen, sondern damit den Weg in die Zukunft zu bereiten.

Patrik-Ludwig Hantzsch Leiter Wirtschaftsforschung, Verband der Vereine Creditreform e.V., Neuss
Patrik-Ludwig Hantzsch , Leiter der Wirtschaftsforschung, Öffentlichkeitsarbeit / Pressesprecher , Verband der Vereine Creditreform e.V., Neuss
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