Aufsätze

Rückfragen zur EU-Kohäsionspolitik

Die Eurokrise ist zwar trotz der inzwischen erfolgten Umschuldung Griechenlands noch nicht gelöst, aber frühere Sorgen, dass sie durch vom Schuldenschnitt ausgelöste Bankenzusammenbrüche kompliziert werden könnte, wurden durch zwei dreijährige Refinanzierungspakete (LTROs) der ECB an die europäischen Banken von insgesamt über eine Billion Euro von Mitte Dezember 2011 und Ende Februar 2012 zunächst zerstreut. Anstelle dieser Sorgen sind inzwischen Zweifel getreten, auf welche Weise das Vertrauen der Märkte wiedergewonnen werden kann. Ist nicht eine Stärkung der Kohäsion, der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums der EU insgesamt Vorbedingung eines Abbaus zu hoher öffentlicher wie privater Verschuldung? Und wird dieser Abbau durch eine zu restriktive Fiskalpolitik nicht eher beeinträchtigt statt befördert? Die Zielsetzungen der EU-Kohäsionspolitik sollen daher näher befragt werden, ehe eine Verschärfung der nächsten bereits dräuenden Krise das allgemeine Interesse wieder in anderer Richtung absorbiert.

Ausgleich des Wohlstandsunterschieds durch Transfers

Die Kommission hat hierzu schon im Juli 2011 detaillierte Vorschläge für die Budgetperiode 2014 bis 2020 gemacht mit einem Multiannual Financial Framework (MFF) von 1025 Milliarden Euro, von dem 376 Milliarden Euro auf die Kohäsionspolitik und die Connecting Europe Facility entfallen sollen. Dabei wird die Zielsetzung der Kohäsionspolitik offiziell wie in Abbildung 1 dargestellt illustriert:

Speziell für Deutschland wird deutlich, dass es zwischen den strukturschwachen Gebieten der Neuen Länder und dem EU-Durchschnitt noch immer Abweichungen von bis zu minus 25 Prozent im Pro-Kopf-BIP gibt, während die dynamischen Regionen der alten BRD positive Abweichungen von bis über plus 25 Prozent zum EU-Durchschnitt aufweisen. Die negativen Abweichungen sind an der europäischen Peripherie in Ost- und Südeuropa noch schärfer ausgeprägt. Da diese Darstellung aber nur die Entwicklung bis 2008 berücksichtigt, wird nicht erkennbar, in welchem Umfang die Finanzkrise seit 2009 regionale Unterschiede im Pro-Kopf-BIP zusätzlich verschärft hat. Ein Ausgleich dieser Unterschiede kann natürlich über Transfers erfolgen, und ein wesentlicher Teil der EU-Kohäsionspolitik besteht bereits in der Tat1) in solchen Transferzahlungen über den Europäischen Sozialfonds an die besonders schwachen Regionen, während die West-Ost-Transfers in Deutschland vorwiegend über den Solidaritätszuschlag finanziert werden.

Strategisch, sowohl europäisch wie innerdeutsch, war und ist Kohäsionszielsetzung aber nicht lediglich der Ausgleich von Einkommensunterschieden durch Sozialtransfers, sondern die Beförderung von Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit insgesamt. Oder so sollte es zumindest sein. Europa konkurriert ja nicht nur innerhalb seiner verschiedenen Regionen, sondern mit dem Rest der Welt, vor allem mit den USA und Asien.

Fünf Kernziele

Die Lissabonstrategie von 2000 wurde im März 2010 in Antwort auf die Finanzkrise angepasst durch "Europa 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" mit den fünf Kernzielen FuE-Investitionen, Bildung, Energie/Klimawandel, Beschäftigungsquote und Armutsbekämpfung.2)Aber die Umsetzung des "Europa 2020"-Strategieansatzes konnte bisher kaum überzeugen. Man denke nur an das Scheitern der bis vor Kurzem noch europaweit massiv subventionierten Solarindustrie, die nicht zu international wettbewerbsfähigen Kosten produziert. Durch die Subventionierung der Photovoltaik wurde die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU also in Wirklichkeit nicht gestärkt, sondern geschwächt. Es wurden Steuermittel vergeudet und Arbeitsplätze zerstört. Die EU-Kohäsionspolitik weist aber einen noch grundsätzlicheren konzeptionellen Fehler auf. Das liegt an teilweise anhaltend hartnäckig divergenten wirtschaftlichen Entwicklungen, und zwar in beiden Richtungen. Die dynamischen Regionen wachsen positiv immer weiter über den EU-Durchschnitt hinaus, während die schwachen Regionen immer weiter hinter dem EU-Durchschnitt hinterherhinken (Abbildung 2).

Speziell für Deutschland kommt im August 2010 vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studie "Wirtschaftlicher Stand und Perspektiven für Ostdeutschland", die im Mai 2011 übergeben, aber erst Ende Februar 2012 veröffentlicht wurde,3) ebenfalls zu ernüchternden Ergebnissen und weist auf "die begrenzte Gestaltungskraft der Politik 20 Jahre nach der Einheit infolge gewachsener Strukturen" und auf inzwischen stringentere fiskalische Rahmenbedingungen hin.4)

Diese Aussage gilt für die schwächeren

Randregionen der EU-Peripherie noch verschärft. Eine breite, anhaltende Migration von Arbeitssuchenden hinein in die dynamischen EU-Regionen hat in den strukturschwachen Gebieten erhebliche Entlee-rungs-, Alterungs- und Verarmungseffekte ausgelöst, die durch die weitere Integration des Binnenmarktes beschleunigt werden. Ursprünglich noch bestehende Bindungskräfte in den strukturschwachen Regionen werden durch die Migration ausgehöhlt und bloße Fiskaltransfers beeinträchtigen das Outputwachstum der schwachen Regionen zusätzlich.5) Gleichzeitigunterbleiben Eigenanstrengungen in den schwachen Regionen weitgehend, da die "Europa 2020"-Debatte nicht dort, sondern hauptsächlich in Brüssel geführt wird.

Fehlende demokratische Legitimation

Also wird wachsender Widerstand gegen eine wie bisher gehandhabte Fortsetzung von Transfers spürbar, und zwar sowohl auf Geber- wie auf Nehmerseite. Die Nehmerregionen sträuben sich gegen zunehmend strengere Sparauflagen, die Geberregionen verweisen auf schlechte Erfahrungen mit den disincentivierenden Auswirkungen der Transfers. Darin liegt populistischer, nicht nur die weitere Integration der EU, sondern ihre Subsistenz gefährdender Sprengstoff. Ein bloßes Neutarieren der Kompetenzen von Europaparlament, Kommission und Ministerrat zulasten der jeweils beiden anderen EU-Spitzeninstitutionen kann nicht die allein von unten nach oben darstellbare Stärkung von originären regionalen Wachstumskräften hervorbringen.

Das Governance-Problem der fehlenden demokratischen Legitimation der EU-Entscheidungsprozesse steht also nach wie vor ungelöst im Raum. Es bahnt sich angesichts weiterer Verschleppung seinen eigenen politischen Weg, aber kaum noch EU-konform, sondern eher desintegrativ, nationalistisch, protektionistisch. Schon deswegen muss der EU-einheitliche Ansatz zur Stabilitäts- und Wachstumspolitik gelockert werden. Sowohl die Verschuldungssituation wie die Wachstumsvoraussetzungen der EU-Mitgliedsländer unterscheiden sich so stark voneinander, dass ein zentra-listisch-einheitlicher Ansatz nicht mehr durchsetzbar ist. Ausserdem sind die Grenzen der Beförderbarkeit von Innovation und Wirtschaftswachstum durch staatliche Maßnahmen unter Politikern wie Ökonomen lebhaft umstritten. Das Fernziel der politischen Union wird durch wirtschaftpolitischen Zentralismus jedenfalls vermutlich eher verfehlt als durch einen die regionalen Unterschiede stärker berücksichtigenden und akzentuierenden Föderalismus.

Zyklisch ausgeprägte Risikobereitschaft

Die Wirtschaftswissenschaften sind bis heute außerstande, abweichendes Wirtschaftswachstum in benachbarten Regionen hinreichend zu erklären. Die in Planungen und Analysen üblichen neoklassischen Modelle beruhen auf Gleichgewichtsannahmen, welche dazu führen, dass vom Modell abweichende divergente Entwicklungen in kohärenten Märkten gar nicht vorkommen dürfen. Wenn sie in Wirklichkeit trotzdem vorkommen, können sie nur durch angeblich exogene Schocks erklärt werden. Dasselbe gilt für systemische Finanzkrisen. Daher rühren die unliebsamen Überraschungen, daher die Dissonanz der Empfehlungen zu dem Weg, der nach Krisen eingeschlagen werden soll, daher auch die bisweilen zwanghaft anmutende Neigung in den Deutungsversuchen zu weltfremder Vereinheitlichung und Zentralisierung. Gegen die vorherrschende neoklassische Orthodoxie formieren sich inzwischen nicht nur Protestbewegungen wie Occupy Now oder die Piratenpartei, sondern auch wirtschaftswissenschaftlich professionelles und zivilgesellschaftliches Engagement, dessen konstruktive Provokationen in Zukunft noch breitere politische Beachtung finden dürften.6)

In den achtziger Jahren hat der amerikanische Ökonom Hyman Minsky erstmals versucht, die Instabilität der Finanzmärkte als endogen aufgrund der sich zyklisch entwickelnden Risiko-/Verschuldungsbereitschaft der Finanzmarktakteure modellhaft einzubeziehen, wurde aber neben dem während seiner Lebzeiten dominierenden Monetarismus von Milton Friedman wenig beachtet. Seit Einsetzen der Finanzkrise im Jahr 2007 wird er wieder intensiver studiert. Einer seiner Adepten ist der angesehene Hedge Fund Manager Ray Dalio von Bridgewater, über den der ehemalige Fed Chairman Paul Volcker die sehr schmeichelhafte Bemerkung machte, dass dieser "den

größeren Forschungsstab hat und relevantere Statistiken und Analysen produziert als die Federal Reserve."7) Dalio hatte im Juli 2007 nicht nur den Zusammenbruch des US-Subprime-Mortgage-Marktes vorausgesagt, sondern auch den danach drohenden Meltdown der Weltfinanzmärkte.8) Zum Thema der langfristigen Konvergenz kohärenter Märkte sieht Dalio nicht nur ökonomische Faktoren, sondern letztlich die in den jeweiligen Regionen vorherrschende Kultur und Erziehung darüber entscheiden, ob die Konvergenz weiter zu- oder abnimmt.9) Schon dieser Denkansatz legt eine konsequent föderalistische, dezentral regionale Herangehensweise in der EU-Stabilitäts- und Wachstumspolitik nahe.

Realitätscheck der Zukunft der EU

Noch stärker für eine Differenzierung spricht Dalios Verständnis von säkularen, fünfstufigen Langfristzyklen, nach denen sich der Auf- oder Abstieg von Regionen vollzieht. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um eine Anmaßung exakter Langfristprognosen, sondern um ein Bündel von Hypothesen, die kontinuierlich überprüft und angepasst werden, um Bridgewater zu rentablen Investments zu verhelfen. Hierfür taugt dieser Denkansatz anscheinend ganz hervorragend, der aber eben "nur" empirisch realistisch sein will und gerade nicht planend, fördernd, hemmend, den ökonomischen Trend modifizierend, wie es der gestaltende Politiker oder die von ihm angewiesenen Planungsbehörde unternimmt. Auch die in der Politik gegenwärtig üblichen Planungsansätze erlauben keine exakten Langfristprognosen, aber trauen einer Automatik des mittelfristigen Konjunkturzyklus, die fiskalpolitisch stimuliert werden könne. Eine Überlagerung des konjunkturellen Aufschwungs durch säkulare Abschwungtendenzen ist im neoklassischen Modell nicht vorgesehen, was daher leicht zu unrealistisch optimistischen Prognosen verleitet.

Ein Realitätscheck zur Zukunft der EU nach dem Langfristzykluskonzept von Dalio würde unterscheiden zwischen fünf Phasen, in denen sich Europas ja recht unterschiedliche Mitgliedstaaten jeweils befinden könnten:

1. Mitgliedstaaten, die arm sind und sich für arm halten (Subsistenzniveau ohne Spielraum weder für Ersparnisse noch Verschuldung).

2. Mitgliedstaaten, die rasch wohlhabend werden, aber sich noch für arm halten (hohe Spar- und Investitionsneigung).

3. Mitgliedstaaten, die reich sind und sich für reich halten (Neigung zum Konsum verdrängt allmählich die Spar- und Investitionsneigung).

4. Mitgliedstaaten, deren Wohlstand abnimmt, die sich aber noch für wohlhabend halten (Verschuldung übersteigt Grenzen der Kapitaldienstfähigkeit).

5. Mitgliedstaaten, die sich widerwillig zu einem schmerzhaften Schuldenabbau gezwungen sehen (Negativspirale des Deleveraging, Monetarisierung der Verschuldung durch Inflationierung).

Es werden an dieser Stelle keine Vermutungen darüber angestellt, welcher EU-Mitgliedstaat welcher der fünf Phasen des Dalio'schen Langfristzyklus zugeordnet werden sollte, aber es würde nicht schaden, wenn hierüber in Brüssel oder den Hauptstädten der EU im Sinne von Alternativszenarien einmal nachgedacht würde. Die jetzige "Europa 2020"-Strategie dagegen als alternativlos hinzustellen, beschwört die Griechenlandumschuldung als Auftakt zu noch ganz anderen Krisen.

Fußnoten

1) 2007 bis 2013: 22 Prozent, für 2014 bis 2020 geplant: 25 Prozent.

2) Vgl. KOM (2010) 2020 endgültig vom 3. März 2010.

3) Download bei: http://www.bmi.bund.de/DE/VeroeffDokumente/Veroeffentlichungen/veroeffentlichungen_node.html P
4)a.a. O. Vorwort S. 4.

5)Vgl. die in Abbildung 2 zitierte LSE Studie S. 43.

6) Das im zweiten Krisenjahr 2008 privat initiierte und finanzierte Institute for New Economic Thinking (INET) bietet diesem Engagement ein Sammelbecken. Das INET veranstaltete Mitte April 2012 in Berlin einen Kongress unter dem Motto "Paradigm Lost": http://ineteconomics.org/conference/berlin/program

7) Vgl. Ray Dalio/Man and Machine/The economic ideas of the world's most successful hedge-fund boss. In: The Economist, March 10th, 2012, pp. 70.

8) Vgl. Mastering the Machine. In: The New Yorker, July 25th, 2011 online: http://www.newyorker.com/reporting/2011/07/25/110725fa_fact_cassidy

9) Vgl. Ray Dalio: Why Countries Succeed and Fail Economically. Download unter: http://www.bwater. com/home/research--press/a-template-forunderstanding--papers.aspx; Ähnlich Prof. Wendy Carlin vom University College London und Centre for Economic Policy Research am 13. April 2012 auf dem Berliner INET-Kongress in ihrem Beitrag: The Future of Europe - North and South. Download über Link bei Fußnote 6.

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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