Interview

Redaktionsgespräch mit Christoph Lammersdorf / "Börsenbetrieb ist ein Verteilungskampf"

Wie definieren Sie das Markenzeichen der Börse Stuttgart?

Die Börse Stuttgart arbeitet unter der Überschrift "Die Privatanlegerbörse", und in diesen wenigen Silben ist letztlich die strategische Ausrichtung des Unternehmens enthalten. Wir wollen "die" Privatanlegerbörse in Deutsch land sein, also die einzige von Bedeutung. Wir möchten "private Anleger" ansprechen und wir wollen eine "Börse" sein. Das bedeutet: Privatanleger sollen alle für sie sinnvollen Finanzprodukte hier an der Börse handeln können - zu Bedingungen, die sonst nur institutionellen Investoren vorbehalten sind.

Diese Vorstellungen treiben uns an und haben letztlich zu unserem weltweit einzigartigen Marktmodell geführt: Unserer Börsenorganisation gehört mit 84 Prozent die Mehrheit an einem börsennotierten Finanzdienstleister, der Euwax AG. Diese Gesellschaft ist über einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag voll in die Börse Stuttgart eingebunden und übernimmt die Funktion des Quality-Liquidity-Providers, der mit einem Skontroführer oder Spezialisten an anderen Parketthandelsplätzen vergleichbar ist. Letztlich gibt uns das die Möglichkeit, ein typisches Dilemma im Parketthandel aufzulösen. Auf der einen Seite steht eine Börse, die es anstrebt, dass Orders jeder Größenordnung vollständig, mit maximaler Geschwindigkeit und zu möglichst engen Spreads ausgeführt werden. Auf der anderen Seite steht der Skontroführer oder Spezialist: Dieser ist eher in dem Dilemma, nicht besonders schnell auszuführen, sondern zu einem für ihn günstigen Preis. Er will auch nicht verpflichtet sein, die Order im Ganzen auszuführen, weil er vielleicht gar nicht so große Bestände hat und mit dem Restvolumen ins Risiko gehen muss. Und er möchte natürlich einen großen Spread, um seinen Gewinn zu maximieren.

Andere Börsen müssen diesen Grundkonflikt über Vorschriften für Spezialisten und Skontroführer lösen, damit sie ihre Versprechungen gegen über den Anlegern einhalten können. Durch die Verbindung der Unternehmen und eine einheitliche Führung ist hier in Stuttgart dieser Interessenkonflikt zwischen Börse und Wertpapierhandelsfirma aus der Welt geschafft - das kommt letztlich privaten Anlegern zugute.

Wie kann die Euwax AG einerseits den von Ihnen geschilderten Interessenkonflikt vermeiden und dennoch als eigenständiges Unternehmen Geld verdienen?

Das ist eine Kunst, und die Handelsexperten der Euwax AG beherrschen sie. Ein Beispiel hierfür ist der Markt für Unternehmensanleihen. Vor etwa vier Jahren haben wir begonnen, den Börsenhandel von Corporate Bonds zu fördern, indem wir die Spreads verringert und die Preisqualität verbessert haben. Inzwischen sind wir Marktführer beim börslichen Handel mit Unternehmensanleihen in Deutschland. So verdient die Euwax AG zwar an der einzelnen Transaktion weniger als maximal möglich, doch das gleicht sich durch das gewachsene Volumen mehr als aus.

Neben dem Finanzdienstleister trägt auch noch ein Marktsegment den Namen "Euwax".

Ja, das ist richtig. Unser Handelssegment für verbriefte Derivate heißt "Euwax", was kurz für "European Warrant Exchange" steht. Seit seiner Gründung im Jahr 1999 hat es sich zur größten börslichen Plattform für strukturierte Anlage- und Hebelprodukte in Europa entwickelt und wichtige Standards gesetzt.

Sie sprechen den europäischen Markt an. Welche Daseinsberechtigung hat eine kleinere deutsche Börse wie Stuttgart in Zeiten zunehmender Globalisierung und Konsolidierung?

Zunächst einmal steht Stuttgart auf Platz zehn der Börsen in Europa. Mit einem Handelsvolumen von rund 89 Milliarden Euro im Jahr 2013 sind wir größer als die Börsen in Wien, Warschau oder Dublin. Zudem sind wir der mit Abstand größte Parketthandelsplatz in Deutschland. Unser Erfolg hängt damit zusammen, dass wir nicht versuchen, alles zu machen. Als Privatanlegerbörse haben wir uns klar ausgerichtet. Dazu gehört, auf die Bedürfnisse von Zertifikate-Emittenten ebenso einzugehen wie auf die Anforderungen der vielen Banken, die ihre Privatkunden gut bedienen möchten. Wir haben beispielsweise auch nicht unter den Handelszuwächsen von Tradegate im Aktienbereich gelitten. Das sieht bei den übrigen Parkettbörsen anders aus.

Tradegate ist und bleibt ein Reizthema für die etablierteren Börsen?

Ja, damit wurden die Börsianer auf dem falschen Fuß erwischt. Keiner von uns hat geglaubt und erwartet, dass es so einfach ist, eine Börse zu gründen. Tradegate hat sich stark auf die Bedürfnisse von bestimmten Bankengruppen fokussiert. Zusätzlich wurden auch einige Anreize über die Gebührengestaltung gegeben. Dennoch haben wir an Tradegate im börslichen Handel mit Inlandsaktien keine Marktanteile verloren, obwohl wir Transaktionsentgelte verlangen. Wir führen das darauf zurück, dass unsere Preisqualität höher ist als die von Tradegate. Heute liegen wir bei Inlandsaktien in etwa gleichauf mit dem Frankfurter Parkett hinter dem Marktführer Tradegate.

Wie hoch beziffern Sie den Marktanteil Ihres Parketthandels?

Zuletzt entfielen durchschnittlich rund 37 Prozent des Orderbuchumsatzes im deutschen Parketthandel auf Stuttgart.

Beim börslichen Handel mit verbrieften Derivaten, also Zertifikaten und Hebelprodukten, hatten wir im ersten Quartal 2014 einen Marktanteil von 62,8 Prozent in Deutschland. Beim Börsenhandel mit Unternehmensanleihen waren es rund 70 Prozent Marktanteil. Beim Parketthandel mit Inlandsaktien liegen wir bei etwa 20 Prozent.

Über alle Anlageklassen hinweg erreichte Stuttgart im vergangenen Jahr 38 Prozent mehr Handelsvolumen als das Parkett in Frankfurt. Rechnet man die verbrieften Derivate heraus, so liegen wir 22 Prozent vor der Börse Frankfurt. Unser Ziel, "die" Privatanlegerbörse zu sein, haben wir also erreicht.

Wo sehen Sie die Potenziale für Ihr Haus im Hinblick auf ein zusammenwachsendes Europa?

Grundsätzlich stehen alle Börsenbetreiber vor der Herausforderung, dass die Märkte, in denen sie sich bewegen, nicht beliebig zu vergrößern sind. Beispielsweise können sie durch attraktive Gebührenmodelle niemanden dazu bewegen, sein Depot umzuschichten. Das wird sowohl bei privaten als auch bei institutionellen Anlegern immer aus anderen Motiven heraus geschehen. Das gleiche Prinzip gilt für die Frage, welche Wertpapiere gehandelt werden. Als Börse können Sie diese nicht ohne Weiteres selbst produzieren, anders als etwa ein Reifenhersteller. Sie müssen darauf warten, dass ein Emittent eine Anleihe oder Aktien an die Börse bringt. In dieser Hinsicht ist Börsenbetrieb ein Verteilungskampf.

Wo liegen also unsere Potenziale? Als Spezialbörse - und als solche betrachten wir uns - bedient man ganz bestimmte Märkte und hat damit sehr gute Chancen. Eine Standardrezeptur für einen Erfolg unter dem europäischen Blickwinkel gibt es freilich nicht. Zwei wesentliche Initiativen der Börse Stuttgart in Europa mögen Beispiele für erfolgreiches Handeln sein. Erstens haben wir im Jahr 2008 die skandinavische Nordic Growth Market, kurz NGM, übernommen. An dieser Börse mit Sitz in Stockholm handelten damals schwedische Privatanleger mit Very Small Caps, also den Aktien von Startups. Dieses Unternehmen war für uns interessant, weil es über eine gut funktionierende Infrastruktur verfügte, die günstig zu betreiben war. Nach der Übernahme haben wir ein bewährtes Angebot auf Skandinavien übertragen, das wir auch dort für erfolgversprechend hielten: Privaten Anlegern an der Börse den Handel mit verbrieften Derivaten zu ermöglichen. In enger Abstimmung mit Emittenten haben wir den Handel an der NGM in Schweden organisiert und später auch nach Finnland und Norwegen ausgedehnt. Das Angebot wird seitdem von Emittenten und Anlegern hervorragend angenommen.

Unsere neueste Akquisition soll ebenfalls eine Erfolgsgeschichte werden. Vor Kurzem haben wir die Mehrheit an der außerbörslichen Handelsplattform Cats-OS erworben. Cats-OS wurde bisher von der Citigroup betrieben, die auch künftig eine Minderheitsbeteiligung hält. Die Plattform ist in verschiedenen europäischen Ländern präsent und ermöglicht dort den Handel mit verbrieften Derivaten. Zusammen mit der bereits bestehenden Infrastruktur von Cats-OS möchten wir eine europäische Listing-Plattform für verbriefte Derivate etab lieren und einen europäischen Marktplatz für strukturierte Produkte schaffen. Damit werden in einigen Ländern auch Privatanleger erreicht, deren Order-Flow-Provider ihnen keinen Zugang zum börslichen Handel mit strukturierten Produkten ermög lichen.

Ist es als Börse nicht eine Art Kapitulationserklärung, ein außerbörsliches System zu kaufen?

Die Regierungen in Europa lassen bisher keine Absichten erkennen, den außerbörslichen Handel verbieten zu wollen. Deshalb ist anzunehmen, dass OTC-Handel weiterhin existieren wird. Davon ausgehend stellt sich die Frage, ob man den OTC-Bereich ignoriert oder auch mitgestaltet. Da wir uns als Börse Stuttgart vor allem als Dienstleister für Privatanleger definieren, haben wir uns für eine aktive Rolle entschieden. Wir gehen neue Wege, um europäischen Privatanlegern die Anlageklasse der verbrieften Derivate näher zu bringen. Das versetzt uns dann auch in die Lage, in anderen Ländern Fuß zu fassen.

In Deutschland konnte man am Beispiel Tradegate beobachten, dass man nicht zu stark in ein gefahrenen Bahnen denken sollte: Auf Tradegate wurde over-thecounter gehandelt. Die Plattform hat daher keine Orders von Sparkassen und Genossenschaftsbanken bekommen, denn diese bedienen ihre Kunden nur mit Börsengeschäften.

Also wurde eine Börse gegründet, um auch diese Orders erhalten zu können. Wir denken, dass diese Vorgehensweise auch in einem anderen europäischen Land funktionieren könnte: Indem man außerbörslich beginnt, eine entsprechende Infrastruktur aufbaut und dann sieht, ob man daraus auch ein Börsengeschäft entwickeln kann.

Die Bezeichnung "Regionalbörse" möchten Sie angesichts dieser europäischen Pläne sicherlich nicht mehr hören ...

Wir verstehen uns nicht als Regionalbörse. Ein Handelsvolumen von rund 89 Milliarden Euro lässt sich auch nicht nur mit Orders aus Baden-Württemberg erzielen. Das Etikett "Regionalbörse" war früher für viele Handelsplätze berechtigt, weil die großen Banken vor Ort tatsächlich viele Geschäfte über ihre lokale Börse geleitet haben. Welche Banken mit einem Schwerpunkt im Wertpapierhandel sollten das aber beispielsweise in Berlin oder Hamburg noch sein? Alle ehemaligen Regionalbörsen müssen sich ihre Kunden in ganz Deutschland und Europa suchen.

Sie werden demnächst den Handel nicht mehr über das System Xontro laufen lassen. Wie sehen hier Ihre Pläne aus?

Vor etwa einem Jahr haben wir beschlossen, ein eigenes Börsensystem einzuführen. Wir haben uns dabei für eine Software des Anbieters Nasdaq OMX entschieden, die derzeit an etwa 70 Börsenplätzen weltweit im Einsatz ist. Aktuell wird das System angepasst, um Besonderheiten unseres Stuttgarter Marktmodells abzubilden. In der zweiten Jahreshälfte 2015 sollen dann alle Handelsteilnehmer angeschlossen sein, und das System wird unter dem Namen "Xitaro" live gehen.

Welche Vorteile bietet Xitaro?

Die moderne und weltweit eingesetzte Technologie gewährleistet die Zukunftssicherheit des neuen Börsensystems. Xitaro wird für uns von Nasdaq OMX in einem Rechenzentrum in Frankfurt betrieben, also in der Mitte Deutschlands und nah an der Mehrzahl der Handelsteilnehmer. Selbstverständlich wird die komplette Funktionalität abgebildet, die die Handelsteilnehmer von Xontro gewohnt sind. Darüber hinaus werden wir durch den Zugriff auf ein eigenes Handelssystem auch schneller zusätzliche Services anbieten können. Getreu dem Motto "Innovation ist unsere Tradition" möchten wir uns ständig weiterentwickeln und kontinuierlich Neuerungen vorantreiben, die uns weiter von anderen Börsenplätzen differenzieren.

Was bedeutet der Schritt von Xontro zu Xitaro für Ihre Kooperation mit den anderen deutschen Börsen?

Die gemeinsame Betreibergesellschaft des Xontro-Systems, Braintrade, hat inklusive der Deutschen Börse insgesamt sieben Gesellschafter. Alle Gesellschafter sind bei Entscheidungen gleichberechtigt - das schränkte unseren Handlungsspielraum für die Umsetzung von Innovationen an unserem Handelsplatz ein. Dazu kommt, dass die Börse Stuttgart als größter Nutzer aktuell den überwiegenden Teil der Kosten für den Betrieb von Xontro trägt, seitdem die Frankfurter Börse im Mai 2012 aus der Nutzung des Systems ausgestiegen ist. Es erschien uns nicht sinnvoll, zu sehr großen Teilen ein System zu finanzieren, bei dem wir keine eigenständigen Entscheidungen treffen können.

In anderen Bereichen wird die gute Zusammenarbeit sicherlich fortbestehen, beispielsweise im Hinblick auf bestimmte regulatorische Initiativen. Bei Software zur Handelsüberwachung sind einige Regionalbörsen auch Lizenznehmer der Börse Stuttgart, die das System entwickelt hat. An dieser Stelle besteht also eine Lieferanten-Kunden-Beziehung.

Wie würden Sie die Wettbewerbsverhältnisse zwischen Ihrem Haus und den kleineren Börsen beziehungsweise der Deutschen Börse beschreiben?

Wir haben grundsätzlich ein gutes Verhältnis zu den anderen Börsen und pflegen intensive Kontakte. Meine Vorstellung für die Börsenlandschaft in Deutschland habe ich schon vor Jahren öffentlich geäußert: Das globale, von institutionellen Investoren bestimmte Geschäft kann die Deutsche Börse auf Basis der vollelektronischen Plattform Xetra sehr gut abwickeln. Für das Geschäft mit Privatanlegern, wenig liquiden Werten und kleinen Orders sollte es eine andere Börse in Deutschland geben, die nach dem Stuttgarter Modell agiert und menschliche Expertise in den elektronischen Handel einbindet. Für das deutsche Börsenwesen und die deutschen Privatanleger wäre das eine sinnvolle und effiziente Struktur, gerade auch im europäischen Vergleich.

Wie schätzen Sie die Situation in anderen europäischen Ländern ein?

In Frankreich beispielsweise gibt es mit Euronext Paris eine große Börse. Dort werden sehr wenig Privatanleger-Orders ausgeführt, weil hierfür kein spezieller Service angeboten wird. Zudem bieten die Banken ihren Kunden eigene Investmentprodukte, aber keine börsengehandelten Produkte an. Wenn man hingegen institutionelle Anleger international bedienen will, sind hohe Handelsvolumina, schnelle Systeme und ein offenes Orderbuch notwendig. All das bieten Systeme wie Xetra und NTS (Euronext). Um diese Systeme nutzen zu können, müssen aber auch die Handelsteilnehmer hoch technisiert sein. In diesem Umfeld sind dann Privatanleger-Orders viel zu klein, sie gehen unter und werden in der Regel zu einem schlechteren Preis ausgeführt.

Kooperieren Sie mit der Frankfurter Börse?

Ja, wenn es um die großen regulatorischen Vorhaben aus der Europäischen Union oder aus Berlin geht. In der Vertretung von Börseninteressen finden ein Austausch und eine Arbeitsteilung statt. Im europäischen Börsenverband, der FESE, nehmen wir ebenfalls oft eine gemeinsame Position ein. Geschäfte machen wir jedoch nicht zusammen.

Hat die Landespolitik in Baden-Württemberg ein Interesse an der Börse, um einen "Finanzplatz Stuttgart" zu unterstützen?

Die Landespolitik ist sehr interessiert an der Börse und am Finanzplatz Stuttgart. Die Landesregierung richtet ihre Wirtschaftspolitik auf eine Region mit vielen exportorientierten Unternehmen aus. Bei Finanzinstituten steht im Fokus, dass sie Unternehmen international begleiten können. Das ist eine Umgebung, in der wir als Börse eine gewisse Leuchtturmfunktion für das Land und für die Stadt erfüllen können - als größte Zertifikate-Börse Europas, größte Privatanlegerbörse Deutschlands und zehntgrößte europäische Börse. In der Zusammenarbeit mit der Politik spielt sicherlich auch eine Rolle, dass sich unsere Services an Privatanleger richten und deren Schutz für uns als Börse einen hohen Stellenwert hat.

Landesregierung und Stadt Stuttgart sind in den Gremien des Börsenplatzes vertreten, und mit unseren Aufsichtsbehörden pflegen wir einen sehr intensiven und konstruktiven Austausch.

Einmal abgesehen von dieser Leuchtturmfunktion Ihrer Börse - spielt denn der regionale Teil Ihres Geschäfts noch eine Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung in der Region?

Nur indirekt. Selbstverständlich wollen wir börsennotierte Gesellschaften aus Baden-Württemberg in den Fokus der Anleger rücken, etwa mit dem Index BW 15. Aber die Börse Stuttgart kann nicht für sich in Anspruch nehmen, eine wesentliche Plattform für die Kapitalbeschaffung großer baden-württembergischer Firmen zu sein. Dafür sind wir mit unseren Handelsvolumina zu klein. Beispielsweise wäre eine Anleiheemission eines Dax-Unternehmens wie Daimler bei uns nicht darstellbar.

Sollten Regionalbörsen selbst börsennotiert sein?

Zu Anfang des Jahrtausends sind alle großen Börsen selbst an die Börsen gegangen. Für uns ist das aber keine Option - aus zwei Gründen. Der eine ist unsere Eigentümerstruktur. Die Börse Stuttgart gehört einem Verein ohne Gewinnerzielungsabsicht, der Vereinigung Baden-Württembergische Wertpapierbörse e. V. Deren 34 Mitglieder sind in Stuttgart ansässige Unternehmen und Institutionen, die zum Teil selbst börsennotiert sind und mit dem Börsengeschäft zu tun haben. Der Verein hat den satzungsgemäßen Auftrag, die Börse zu betreiben und den Finanzplatz Stuttgart zu fördern. Dabei ist die Perspektive langfristig angelegt, Gewinne werden ausschließlich für den Satzungszweck verwendet. Für eine Börse unserer Größenordnung sind diese Strukturen ideal. Eine Börsennotierung und damit eine breite Anlegerschaft, deren Zusammensetzung und Ziele sich jederzeit ändern können, wären hier weniger angebracht.

Das führt zu dem zweiten Grund, der gegen eine Börsennotierung spricht: Wir unterliegen einer Regulierung, die wir nicht beziehungsweise nur sehr bedingt beeinflussen können. Als wirtschaftliche Grundlage für Pläne, die mit Investoren abzustimmen sind, ist das ebenso schwierig wie die bereits beschriebene Tatsache, dass wir unseren Markt nicht durch Marketing, Vertriebs- oder Produktentwicklungsmaßnahmen vergrößern können. Wir sind letztlich davon abhängig, wie sich die Märkte und das regulatorische Umfeld entwickeln. Dank unserer jetzigen Eigentümerstruktur können wir als Börse aber dennoch nachhaltig agieren.

Sie haben als erste deutsche Börse ein eigenes Marktsegment für Mittelstandsanleihen eröffnet. Sehen Sie dieses Segment beziehungsweise das Instrument der Mittelstandsanleihe aufgrund aktueller Entwicklungen in Gefahr?

Wir sind als erste mit einem Segment für Anleihen mittelständischer Unternehmen an den Markt gegangen. Das war im Jahr 2010, als es für viele Mittelständler schwierig war, von den Banken notwendige Kredite zu bekommen. Inzwischen hat sich aber die Situation verändert. Eine Kreditklemme gibt es nicht mehr. Mittelständler mit guter Bonität bekommen wieder Kredit. Leider hat dies dazu geführt, dass sich mittelständische Firmen mit höheren Risiken überproportional über Anleihen finanziert haben. Auch dadurch sind die bekannten Ausfälle entstanden. Es ist uns nicht gelungen, einen Querschnitt des deutschen Mittelstandes in diesem Segment zu versammeln. Zu ihrer Zeit war die Idee sehr gut, nun haben sich eben die Rahmenbedingungen geändert. Letzten Endes ist es wichtig, dass die Unternehmen ihren Kapitalbedarf decken können.

Planen Sie, das Marktsegment wieder zu schließen?

Nein, wir haben laufende Verträge mit den Unternehmen, die hier gelistet sind. 26 Anleihen notieren in diesem Segment und werden nach wie vor im Sekundärmarkt gehandelt. 2019 laufen die letzten der derzeit gelisteten Anleihen aus. Wir bleiben also weiter am Markt, denn es kann durchaus sein, dass sich die Rahmenbedingungen in diesem Bereich auch wieder positiv verändern.

Wie schätzen Sie prinzipiell die Möglichkeiten ein, als Börse noch innovativ zu sein?

Beim puren Börsenhandel, wie er im Gesetz beschrieben ist, sind echte Innovationen kaum mehr möglich. Aber das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht, wenn man eine Börse etwas breiter definiert: als Dienstleistungsplatz für Handelsteilnehmer am Finanzmarkt. Neue Geschäftsfelder lassen sich beispielsweise erschließen, indem man eigene Produkte entwickelt, handelbar macht und so die Wertschöpfung erweitert. Ein Beispiel ist das Exchange Traded Commodity Euwax Gold, das zu 100 Prozent mit Gold besichert ist und bei dem eine Tochtergesellschaft der Börse Stuttgart als Emittentin auftritt.

Sind Sie als eher kleine Börse denn nicht im Hintertreffen, was Innovationen angeht? Andernorts kann man leichter größere Investitionen aufbringen oder Arbeitskräfte abstellen.

Nein, im Hinblick auf Innovationen ist es sogar ein Vorteil, klein zu sein. Im vergangenen Jahr konnten wir innerhalb kürzester Zeit unsere Handelszeiten für alle Aktien, Investmentfonds und Exchange Traded Products von 20 Uhr auf 22 Uhr ausdehnen. Das war möglich, weil wir weniger technischen Aufwand und Abstimmungsbedarf mit Handelsteilnehmern hatten als dies an einem der großen, globalen Börsenplätze der Fall gewesen wäre. Wir sind auch in der Lage, unser Angebot an gehandelten Produkten flexibel zu verändern und an die Bedürfnisse privater Anleger anzupassen.

Als beispielsweise vor zwei Jahren die Währungen in Schweden, Norwegen und Australien gegenüber dem Euro stark aufwerteten, konnten wir sehr schnell Staatsund Unternehmensanleihen in diesen Fremdwährungen in Stuttgart handelbar machen. Mit Erfolg: Die Papiere stießen während der Eurokrise zur Diversifizierung von Währungsrisiken auf großes Interesse und wurden rege gehandelt. Solche Schritte, die an einer großen Börse nur marginal wären, können bei uns bedeutsam sein.

An welcher Stelle sind Sie als Börse besonders stark von Regulierung betroffen?

Uns beschäftigen vor allem die Themen Finanztransaktionssteuer und Anlegerschutz.

Empfinden Sie die Regulierungsmaßnahmen eher als administrative Belastung oder als Chance?

Ganz klar als Belastung, denn sie könnten zulasten privater Anleger gehen und das Umfeld für den Wertpapierhandel dieser Investorengruppe verschlechtern. Falls die Finanztransaktionssteuer erhoben wird, dann wird jeder Handelsteilnehmer, der sie zahlen muss, diese Kosten an den Privatanleger weiterreichen. Das ist jedoch nicht zielführend. Laut der Politik sollte die Steuer die Verursacher der Finanzkrise an den Kosten ihrer Bewältigung beteiligen, Spekulation und Hochfrequenzhandel eindämmen.

Deshalb erschließt es sich uns nicht, warum Privatanleger die Finanztransaktionssteuer bezahlen sollen. Sie entrichten ohnehin Kapitalertragssteuer und bestreiten ihre Investments aus bereits versteuertem Einkommen. Hinzu kommt, dass der angedachte Steuersatz von 0,1 Prozent zwar niedrig klingt, aber entlang der Transaktionskette bei An- und Verkauf von Papieren mehrmals fällig wird und sich aufsummiert. Schnell landet die Steuerlast dann eben auch bei 0,8 Prozent des Ordergegenwerts, was jeden Trade für einen Privatanleger signifikant verteuert.

Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass private Anleger als kapitalertragssteuerpflichtige Personen von der Finanztransaktionssteuer befreit werden. Zu einer verantwortungsvollen Ausgestaltung der Steuer gehört zudem, Ausnahmeregelungen für Liquiditätsspender zu schaffen. Diese Unternehmen ermöglichen durch ihre Dienstleistungen erst einen reibungslosen und effizienten Wertpapierhandel und erzielen dabei eine Marge, die in der Regel kleiner ist als die Steuerlast. Wenn aber die liquiditätsspendende Funktion an einer öffentlich-rechtlichen Börse aufrechterhalten werden soll - und das müsste eigentlich im Interesse der Politik sein - dann sollte die Finanztransaktionssteuer dem nicht entgegenwirken.

Was treibt Sie im Bereich des Anlegerschutzes um?

Einerseits spielt Anlegerschutz für uns als Börse eine zentrale Rolle. Das gilt für die Kontrolle des gesamten Handels durch die unabhängige Handelsüberwachungsstelle oder für die maximale Vor- und Nachhandelstransparenz, die wir für private Anleger schaffen. Mit unseren vielfältigen Bildungsaktivitäten wollen wir das Knowhow privater Anleger für ihre Investments stärken.

Andererseits geht der Anlegerschutz, wie ihn Teile der Politik verstehen, heute weit über das hinaus, was wir für richtig halten. Von großen Abwicklungsbanken ist zu erfahren, dass nur noch zwei von fünfzig Wertpapiergeschäften nach vorhergehender Beratung abgeschlossen werden. Das war sicherlich nicht die Absicht der Politik, die allerdings immer neue bürokratische Hürden für die Wertpapierberatung aufgebaut hat. Es ist auch systemfremd, Banken dafür in Haftung zu nehmen, dass ein Privatanleger bei einem Investment garantiert Geld verdient. Hier muss dringend korrigiert werden.

Wie beurteilen Sie das aktuell stark diskutierte Thema Hochfrequenzhandel?

Hochfrequenzhandel wird von der Hälfte der Wissenschaftler als positiv für den Markt bezeichnet, von der anderen als schädlich. Für uns ist es wichtig, dass Hochfrequenzhändler alle Regeln einhalten, die auch für andere Marktteilnehmer gelten. Methoden wie Insiderhandel und Frontrunning müssen auch im Hochfrequenzhandel unterbunden werden. Und damit der Markt nicht unter Computerfehlern bei Hochfrequenzhändlern leidet, müssen alle Börsen über sogenannte Circuit Breaker verfügen. Diese technischen Vorkehrungen unterbrechen den Handel mit betroffenen Wertpapieren, sobald eine ungewöhnliche Kursbewegung stattfindet. Dann können alle Marktteilnehmer wieder das gleiche Informationsniveau erreichen, bevor weitergehandelt wird.

An der Börse Stuttgart möchten wir verhindern, dass Privatanleger Nachteile erleiden, weil sie nicht über die leistungsfähige Technik der Hochfrequenzhändler verfügen. Deshalb werden alle Orders mit gleichem Limit gleich behandelt - unabhängig davon, welcher Auftrag als erster bei der Börse eingeht. Bessere technische Möglichkeiten und Geschwindigkeits vorteile spielen somit keine Rolle mehr.

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