Leitartikel

Krisenbeschau

Als vom 10. bis zum 12. Oktober 2008 in Washington etwa 8 000 Repräsentanten des weltweiten Finanzsystems zur Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank zusammenkamen, diskutierten sie laut Tagesordnung über die gängigen makroökonomischen Probleme der Weltwirtschaft: über die Gründe und Perspektiven der Rohölpreisentwicklung, über steigende Lebensmittelpreise, über die Gefahren der Stagflation, den Zusammenhang zwischen dem Wachstum in den Emerging Markets zur Wirtschaftsentwicklung in den entwickelten Ländern und auch über die "Turbulenzen auf den weltweiten Finanz- und Gütermärkten". Niemals jedoch zeigte sich die Diskrepanz einer im Vorhinein festgelegten Tagesordnung und den tagesaktuellen Notwendigkeiten mehr als in den hochdynamischen Entwicklungen der gegenwärtigen Finanzmarktkrise.

Die vergangenen Wochen hatten, beginnend mit der Abwicklung der US-Investmentbanken, eine neue Dimension dieser Finanzmarktkrise eröffnet, die die Bankensysteme außerhalb der Vereinigten Staaten abermals stark erschüttern. Aus der Vertrauenskrise war eine Vertrauenspanik geworden.

Selbst wenn es den US- sowie den europäischen Institutionen gelingt, diese letzte und höchste der bisherigen Krisenwellen abzuwehren, wird die Liste der Folgeschäden immer länger. Seit der spektakulären Zuspitzung dieser Krise im September mehren sich die Anzeichen für einen Kreditstau auch außerhalb des Bankensektors. Das betrifft noch nicht alle Bereiche der Kreditmärkte, breitet sich aber aus. Eine schnelle Rückkehr zum Normalbetrieb ist auch mit den in den Vereinigten Staaten und Europa nun verabschiedeten Rettungspaketen nicht zu erwarten. Für die Konjunktur bedeutet dies zusätzliche Belastungen, für die deutsche Volkswirtschaft etwa ist eine negative Durchschnittsrate für das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2009 in allernächste Nähe gerückt.

Viele große Volkswirtschaften stehen gegenwärtig unter dem Einfluss dreier negativer makroökonomischer Schocks. Erstens einer der größte Preisrückgänge bei Wohnimmobilien aller Zeiten, und das nicht etwa nur in den USA, sondern auch in Europäischen Volkswirtschaften, zweitens eine der schwerwiegendsten Bankenkrisen aller Zeiten, mit dem Zusammenbruch ganzer Marktsegmente und einem Generalbankrottverdacht gegen eine ganze Branche und drittens ein - wenngleich zeitlich sehr gestreckter - Ölpreisschock: Die Preise für Rohöl sind auch nach den jüngsten Rückgängen heute immer noch etwa dreimal so hoch wie vor sechs Jahren. Jeder Schock für sich reicht aus, um die Konjunktur empfindlich zu treffen. Bislang hatte sich die Wirtschaftsdynamik dagegen erstaunlich robust entwickelt. Massive Zinssenkungen in den Vereinigten Staaten hatten die Wirkungen der Spreadausweitungen teilweise abgefedert. Das Wachstum der Emerging Markets, die von der Finanzkrise wenig betroffen waren, ist zunächst weitergegangen, das viel beschworene Abkoppeln fand nicht zwischen den USA und Europa statt, sondern vorübergehend zwischen der alten und der neuen Wirtschaftswelt. Und schließlich waren viele Unternehmen zu Beginn der Krise in sehr guter Verfassung mit hohen Gewinnen, hohen Selbstfinanzierungsquoten sowie gesunden Kostenstrukturen.

Mit immer bangerem Unterton stellen sich die Märkte jetzt die Frage, ob diese Robustheit andauern kann, oder ob die Wirtschaftskrise erst noch bevorsteht. Das sogenannte De-Leveraging, also die Verarbeitung abgewerteter Kredite sowie die Zurückhaltung bei der Neu-Kreditvergabe wird auf das Wachstum der kommenden Jahre drücken. Es bremst die kreditfinanzierte Aktivität, die in den vergangenen Jahren durch ein dereguliertes Finanzsystem sowie niedrige Zinssätze beflügelt wurde. An der Kreditvergabe der Banken an den Nichtbankensektor kann recht zeitnah mitverfolgt werden, wie sich die Konjunktur entwickelt. Noch steigen diese Kredite an, insbesondere im Euroraum. Aber es ist unmittelbar einsichtig, dass sich mit zunehmender Dauer der Finanzmarktkontraktion die Bedingungen für eine baldige Konjunkturerholung verschlechtern. Hierfür müssen sich zunächst die fallenden Immobilienpreise stabilisieren, womit erst im kommenden Jahr zu rechnen ist.

Das waren die großen Themen, die die Teilnehmer der größten Finanzmarktmesse der Welt in diesem Jahr um getrieben haben. Dabei steht weiterhin die akute Krisenbewältigung zunächst im Vordergrund, weniger die immensen Auswirkungen, welche die traumatischen Erfahrungen auf die künftige Welt der Finanzen haben wird. Der IWF konnte sich im bisherigen Krisengeschehen nicht weiter profilieren als durch begleitende Untersuchungen über makroökonomische Auswirkungen oder durch Schätzungen der potenziellen Schäden im Finanzsystem. Jüngst kam aus seinem Mund der Ruf nach einer europäischen Antwort auf die umfassende Auffanglösung in den Vereinigten Staaten, der jedoch von den europäischen Staaten eine Absage erteilt wurde. Auch die Erklärung der G7-Staaten blieb relativ vage. Die wichtigen Entscheidungen wurden danach auf dem Europäischen Gipfel beziehungsweise separat für die USA im US-Finanzministerium getroffen. Kein Wunder: Der IWF ist eine Institution, die die Währungssysteme und die globale Makroökonomik überwacht, und dies ist keine Währungskrise, sondern eine Krise der Banken und Kreditmärkte. Der IWF ist auf einem Feld tätig, auf dem frühere Krisen zu Lerneffekten und Fortschritten geführt haben: Die Europäische Währungsunion hat Potenziale für Währungsturbulenzen in Europa verringert, viele Emerging Markets haben flexible Wechselkurse eingeführt und erhebliche Fortschritte bei stabilitätsorientierter Makropolitik gemacht. Finanzierungsfazilitäten des IWF werden kaum noch in Anspruch genommen. Die gegenwärtige Krise kommt aus einer anderen Richtung. Sie ist eine Krise des Finanzierungssystems und findet damit weniger im Hinterhof des IWF als vielmehr der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) statt. So war es auch die BIZ, die im Vorfeld des Krisenausbruchs vor einem Jahr immer eindringlicher auf Fehlentwicklungen im weltweiten Finanzsystem hingewiesen hat, freilich ohne ausreichend Gehör zu finden. Für den IWF ist diese Spielfeldaufteilung Teil seiner Strukturprobleme: Die Überbrückungsfinanzierung von Staatshaushalten zur Lösung von Währungsproblemen ist gegenwärtig nicht die Aufgabe, sieht man einmal von Sonderfällen wie Island ab. Trotz der spektakulär teuren Rettungsaktion des US-Treasury: Die US-Wirtschaft kann sich dies noch leisten. Das jährliche Haushaltsdefizit erhöht sich hierdurch nicht, da den Ausgaben der

Erwerb von Vermögen gegenübersteht allerdings verschuldet sich der US-Staat in diesem Jahr ohnehin mit über fünf Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Der Schuldenstand allerdings würde sich durch eine Rettungsaktion in dieser Höhe um etwa ebenfalls fünf Prozentpunkte auf etwa 73 Prozent erhöhen: kein besorgniserregendes Niveau, aber auch kein niedriger Wert, insbesondere, wenn man die künftigen Belastungen in Form niedrigerer Steuereinnahmen mit einbezieht. Eine Kreditvergabe des IWF an die USA ist also nicht notwendig, und darüber hinaus auch unrealistisch, da die Mittel des IWF auf solche Aufgaben nicht ausgerichtet sind.

Die Probleme des IWF selber treten vor diesen Themen in den Hintergrund. Im April hatten sich die Mitgliedstaaten als Anteilseigner des IWF nach mehrjähriger Diskussion auf eine Quoten- und Stimmrechtsreform, auf eine Neugestaltung der Finanzierung sowie einer Veränderung der Governance geeinigt. Dazu gehören auch die Reduzierung von Sach- und Personalkosten durch den Fonds selber. Zwar wurde durch die Reformen das Gewicht der aufstrebenden Wirtschaftsnationen bei Finanzierungs- und Entscheidungsvorgängen innerhalb des IWF gestärkt, allerdings wird dies nicht dazu ausreichen, dass auch die Emerging Markets ein ausreichendes Interesse an der Mitgestaltung multilateraler Wirtschaftsorganisationen entfalten werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass die wirtschaftlichen Konflikte im Zuge einer fortschreitenden Globalisierung eher weiter zunehmen werden, ist die Funktionsfähigkeit dieser Institutionen von hoher Bedeutung. Parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung Asiens und zum Aufstieg des Euros zulasten der Weltwährungsfunktion des US-Dollars kämpft der IWF als weiterhin durch die Vereinigten Staaten dominierte Institution um seinen Alleinvertretungsanspruch in internationalen Währungsfragen. Sollte es nicht gelingen, den IWF als Forum für alle Teilnehmer der Weltwirtschaft attraktiv zu erhalten, so drohen auch von hier aus Fragmentierungsgefahren für das globale Wirtschaftsgeschehen. Die gegenwärtigen Probleme des Weltfinanzsystems werden dem IWF wenig Chancen zur Bestimmung neuer Funktionen bieten. Sein gegenwärtiges Arbeitsprogramm ist dagegen auf Armutsbekämpfung, die Stabilisierung von Einzelwirtschaften sowie eine verbesserte Zusammenarbeit beim Klimaschutz ausgerichtet. Sein Ziel muss es sein, bei der Erhaltung des hohen Niveaus an weltwirtschaftlichem Austausch maßgeblich mitzuwirken. Das Wichtigste, was die Entschließungen diesmal enthalten konnten, sind Signale, die auf eine Stärkung des Vertrauens in die angeschlagenen Finanzmärkte hinwirken.

Die Wiederherstellung einer Vertrauensbasis für Kreditgeschäfte innerhalb und gegenüber dem Finanzsektor ist sicherlich auch das drängendste Problem der Weltwirtschaft. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass die Jahrestagung oder das weitere Arbeitsprogramm des IWF hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten werden, außer als Diskussionsforum für mögliche Szenarien und Lösungswege. Der Finanzbranche dient das Treffen traditionell als Forum zu Austausch und Transaktionsanbahnung. Beides musste diesmal in den Hintergrund treten vor den trüben Aussichten, denen sich die weltweite Finanzbranche gegenübersieht. Unsicherheiten gegenüber dem künftigen Regulierungsrahmen, den Geschäftsmöglichkeiten und dem Ausmaß der noch notwendigen Anpassungsmaßnahmen haben ein Treffen geprägt, das auf dem Höhepunkt einer der größten Finanzmarktkrisen der modernen Finanzwirtschaft mit noch unabsehbaren Folgen stattfand. Dr. Ulrich Kater, Chefvolkswirt, DekaBank

Noch keine Bewertungen vorhanden


X